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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-501-7
Es war sehr still in dem hellbeige gestrichenen, freundlichen Krankenzimmer. Es drangen nur Geräusche vom Gang draußen – schnelle Schritte, das Klappern von Geschirr. Und man hörte den Regen, der an die Fenster klatschte, die hinaus zum Park führten. Fast schien es so, als wolle angesichts des ganzen Unglücks auch der Himmel weinen.
Marianne von Rieding saß ein wenig zusammengesunken auf einem ziemlich unbequemen Stuhl und blickte unverwandt ihre Tochter an, die blass, still und mit geschlossenen Augen im Bett lag.
Mit einer Situation wie dieser hätte Marianne niemals gerechnet. Sandra und im Krankenhaus. Ja, zur Geburt des Babys, aber so …
Marianne wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Tür klopfte, ein junges Mädchen den Kopf hereinsteckte.
»Darf ich Ihnen auch einen Kaffee bringen und ein Stückchen Kuchen?«
Normalerweise aß Marianne von Rieding sehr gern Kuchen. Doch sie war sich sicher, augenblicklich keinen Bissen herunterbringen zu können.
»Ein Kaffee wäre ganz wunderbar«, rief sie, »bitte nur schwarz.«
Wenig später stand ein weißer Porzellanbecher vor ihr, und Marianne machte sich beinahe gierig über den Kaffee her. Ihn zu trinken tat gut, und erstaunlicherweise schmeckte der Kaffee sogar, was man in Krankenhäusern nicht immer behaupten konnte.
Als sie ausgetrunken hatte, stellte sie den Becher beiseite und wandte sich wieder Sandra zu.
Sie würde bald aus dem künstlichen Koma erwachen, in das man sie gesetzt hatte, und diesen Augenblick wollte Marianne erleben. Für Sandra würde es sehr schwer werden, sich wieder in der Realität zurechtzufinden, und da wollte Marianne ihrer Tochter helfen, an ihrer Seite sein.
Marianne wusste noch nicht, wie sie mit Sandra umgehen sollte, wobei Vorwürfe auch nicht die Lösung waren. Es würde nichts mehr ändern. Sandra hatte mit ihrer verantwortungslosen Raserei alles zerstört. Sie war gestraft genug. Sandra konnte sehr froh sein, diesen schrecklichen Autounfall überlebt zu haben. Sie hatte mehr als nur einen Schutzengel an ihrer Seite gehabt.
Nicht auszudenken, wenn sie jetzt tot wäre.
Sie war wirklich glimpflich davongekommen, und der Totalschaden des schnittigen, teuren Sportwagens war bei allem noch das kleinste Übel. Ihre Verletzungen, die sie davongetragen hatte, würden heilen. Doch würde sie über den Verlust ihres ungeborenen Kindes hinwegkommen, auf das sie sich so sehr gefreut hatte?
Schwer zu sagen!
Marianne wollte nicht in Sandras Haut stecken. Die Schuldgefühle würden sie immer quälen, denn dieser grässliche Unfall wäre bei einer bedachten Fahrweise vermeidbar gewesen.
Würde Sandras Ehe das überstehen?
Wie glücklich war Felix doch gewesen, noch einmal Vater zu werden. Er liebte Sandra über alles. Und das tat er wirklich, das konnte sie als seine Schwiegermutter beurteilen, schließlich wohnten sie dicht beieinander. Sie hatte auch hautnah mitbekommen, wie glücklich Felix war, dass Sandra den Unfall lebend überstanden hatte. Doch würden die Vorwürfe, dass sie die Schuld an allem trug, nicht immer im Raum stehen und allmählich alles zerstören wie ein schleichendes Gift?
Marianne merkte, was diese Gedanken mit ihr machten! Sie musste sie beiseiteschieben, sie musste nach vorne blicken.
Sie hatte auch keine Kraft mehr. Die letzten Monate waren für sie sehr sorgenvoll gewesen, weil sie um das Leben ihres geliebten Mannes bangen musste, der eine schwere Herzoperation hinter sich hatte.
Es sollte aufhören!
Stattdessen ging es weiter, nach Carlo war Sandra an der Reihe, auch wenn deren Unglück selbst verschuldet war. Doch war es nicht bei Carlo ebenfalls so? Der hatte wie ein Verrückter gearbeitet, sich nicht geschont und total vergessen, dass er keine zwanzig Jahre alt war. Dabei war es bei ihm auch unnötig gewesen. Carlo hatte alles in seinem Leben erreicht. Er musste niemandem mehr etwas beweisen. Er war wie eine Kerze, die von beiden Enden brannte.
Wenn sie ehrlich war – Carlo war so egoistisch wie Sandra!
Sie wollte ihn nicht verlieren, diesen Mann, der ihre zweite, späte Liebe war. Und sie wollte auch, dass ihr einziges Kind glücklich war.
Vielleicht gab es kein Glück auf Dauer, vielleicht war es an der Zeit, andere Wege zu gehen.
Sie hatten zwar beide ihre Männer kennengelernt, nachdem sie den Erlenhof geerbt hatten, jenen stattlichen Besitz unterhalb der Felsenburg. Aber fast schien es, als sei das Glück dabei, sich davonzuschleichen. Sie und Sandra hatten alles nur geerbt, weil es keine anderen Erben gab und weil ihr Schwiegervater vielleicht auch etwas gutmachen wollte. Zu seinen Lebzeiten war er hart und unnachgiebig gewesen und wollte weder seine bürgerliche Schwiegertochter noch sein Enkelkind kennenlernen, und mit seinem einzigen Sohn hatte er gebrochen. So etwas schaffte negative Energie, und die war im Herrenhaus überall zu spüren, in dem sie sich von Anfang an wie eine Besucherin vorgekommen war.
Nichts würde mehr so sein wie es mal war.
Und war das jetzt nicht ein Zeichen?
Marianne wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn in diesem Augenblick begannen Sandras Augenlider zu zucken, ihre Hände glitten unruhig über die weiße Bettdecke.
Marianne hielt den Atem an, dann öffnete Sandra die Augen, ihr Blick irrte durch den Raum, blieb bei ihrer Mutter hängen.
»Mama …, du …, ich …, wo bin ich?«
Marianne sprang auf, hielt die Hände ihrer Tochter fest, sagte leise: »Du bist im Krankenhaus, alles ist gut.«
Krankenhaus?
Die Erinnerung überfiel Sandra wie eine Horde wilder Tiere.
Sie sah sich in dem Auto, sie sah den Traktor, und dann der Baum. Sie hörte das Bersten und Brechen, wurde herumgeschleudert …
»Mama, ich …, was ist mit dem Baby?«
Sie befreite sich aus dem Griff ihrer Mutter, ihre Hände tasteten über ihren flachen Bauch.
»Mama, so sag doch etwas.«
Das klang angstvoll, flehentlich.
Marianne war eine couragierte Frau, die wusste, wo es längs ging, doch jetzt fühlte sie sich überfordert. Es war unmöglich. Sie konnte es Sandra nicht sagen. Gut, es mochte feige sein, sie konnte nicht anders. Sie drückte verstohlen auf den Klingelknopf, gleich würde jemand hereinkommen.
»Sandra, so beruhige dich doch erst einmal, du darfst dich nicht aufregen.«
Sandra schloss die Augen.
Sie konnte zwar jetzt nichts mehr sehen, aber die vergangenen Ereignisse kamen immer deutlicher in ihre Erinnerung zurück. »Mama, lebt mein Baby?«
Marianne dankte dem Himmel, als in diesem Augenblick eine Krankenschwester hereinkam.
»Meine Tochter ist wach«, sagte Marianne, daraufhin machte die Schwester kehrt, um kurz darauf mit einem Arzt zurückzukommen. Marianne war so froh, dass er sie bat für einen Augenblick nach draußen zu gehen. Das war feige, gewiss. Aber sie war eine Mutter, die sich sehr gut in ihre Tochter hineinversetzen konnte. Es hätte ihr das Herz gebrochen, dabei sein zu müssen, wenn Sandra die grausame Wahrheit erfuhr, und sie selbst, nein, sie hätte es ihr nicht sagen können.
Marianne lehnte sich an eine Wand, bemerkte, wie ein weiterer Arzt, zusammen mit einer Krankenschwester, in Sandras Zimmer verschwand.
Sie wusste es jetzt, dachte Marianne traurig, und sie schien es, was ja auch überhaupt nicht verwunderlich war, nur schwer aufzunehmen.
Vielleicht hätte sie doch darauf bestehen müssen, im Zimmer bleiben zu dürfen.
Sie versuchte Felix zu erreichen, sein Handy war abgestellt, und in ihrer Not rief sie Carlo an. Natürlich würde sie ihm nicht erzählen, was da gerade geschah. Sie wollte einfach nur seine Stimme hören. Das war Trost genug. Aber auch bei ihm hatte sie kein Glück, und ihm eine Nachricht hinterlassen wollte sie auch nicht.
Warum blieben die Ärzte nur so lange bei Sandra?
Sollte sie einfach hineingehen?
Schließlich war sie die Mutter!
Gerade als sie ihren Vorsatz in die Tat umsetzen wollte, kamen die Ärzte und die Krankenschwester aus Sandras Zimmer heraus. Während der eine Arzt und die Krankenschwester weitergingen, blieb der Professor vor Marianne stehen, erzählte ihr, dass man Sandra ruhigstellen musste, nachdem sie die bittere Wahrheit erfahren hatte.
Marianne verlor alle Farbe im Gesicht, ihr armes, armes Kind. Sie dachte jetzt nicht mehr daran, dass es Sandras alleinige Schuld war, sondern nur an den Seelenschmerz von ihr.
Der Professor bemerkte die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, legte eine Hand auf ihren Arm und sagte: »Frau von Rieding. Gehen Sie nach Hause, Ihre Tochter wird in den nächsten Stunden schlafen, und es wird sich immer jemand um sie kümmern. Kommen Sie morgen wieder, ausgeschlafen und ausgeruht, da können Sie für sie mehr tun. Und eine Bitte habe ich noch, fangen Sie nicht von dem Baby an, lassen Sie Ihre Tochter damit beginnen.«
Marianne zögerte.
»Frau von Rieding, jetzt zu bleiben, das wäre unverantwortlich, und es ist durch nichts zu rechtfertigen. Es ist eine unschöne Situation, und es reicht, was Ihre Tochter jetzt durchmacht. Sie müssen nicht auch noch auf der Strecke bleiben.«
Der Professor hatte recht, das sagte ihr auch ihr Verstand, aber ihr Herz, das sprach eine ganz andere Sprache.
»Bitte, Frau von Rieding«, drang die Stimme des Professors an ihr Ohr.
Er hatte recht, und sie merkte ja auch selbst, dass sie am Ende ihrer Kräfte war, erst das mit Carlo, nun Sandra.
Sie nickte. »Aber Herr Professor, wenn irgendetwas sein sollte, bitte rufen Sie mich an, versprechen Sie das.«
»Ich verspreche es, doch machen Sie sich bitte keine Sorgen, es wird nichts passieren. Ihre Tochter ist bei uns gut aufgehoben.«
Er wurde abgerufen, verabschiedete sich, und Marianne ging in das Krankenzimmer zurück, um ihre Tasche und ihren Mantel zu holen.
Es bot sich ihr die Szenerie, die sie bereits kannte, Sandra blass, mit spitzem Gesicht, einem bekümmerten Gesichtsausdruck, mit geschlossenen Augen im Bett.
Schlief sie, oder dämmerte sie nur vor sich hin?
Marianne ging an das Bett, strich Sandra zärtlich über das Gesicht, murmelte: »Ich komme morgen wieder«, dann griff sie nach ihren Sachen und ging.
Sie weinte, und es traf sie so manch mitleidiger Blick. Vielleicht glaubte man, ein ihr Nahestehender sei gestorben. So war es ja auch, ihr jüngstes Enkelkind, das nicht die Chance gehabt hatte, das Licht der Welt zu erblicken.
Dieser Gedanke griff ihr so sehr ans Herz, dass sie noch mehr weinen musste. Es war ja alles so schrecklich!
*
Der Regen hatte sich verstärkt, und die grauen Wolken am Himmel hatten sich zugezogen. Alles lag in einem nebligen Grau, das einen an den Herbst denken ließ.
Marianne war eine besonnene und sichere Autofahrerin, doch heute fuhr sie mehr als vorsichtig. Es fehlte ihr noch, jetzt auch einen Verkehrsunfall zu verursachen, nur weil sie verweint und unaufmerksam war.
Es war nicht viel los auf den Straßen. Hier und da sah sie einen Fußgänger, der eilig, bewaffnet mit einem Schirm, nach Hause strebte. Es gab auch nur wenige Autos auf der Straße, weil man bei einem einem solchen Schmuddelwetter das Haus nur verließ, wenn es nicht anders ging.
Sie war ja so müde und fühlte sich wie ausgebrannt. Sie versuchte, nicht an Sandra und das tote Baby zu denken, doch da hatte sie keine Chance. Es holte sie immer wieder ein, und es war ganz schrecklich, dass es keine Lösung für das Problem gab. Es gab dabei einfach zu viele Unbekannte. Angeschlagene Seelen waren nur schwer zu heilen, und Schuldgefühle konnten einen erdrücken.
Es gab sie nicht mehr, die heile Welt, um die so mancher sie beneidet hatte.
Sie verließ Hohenborn, fuhr über die einsame Landstraße, und auch im Sonnenwinkel sah sie niemanden. Vielleicht war das ganz gut so. Gewiss hatte sich Sandras Unfall bereits herumgesprochen und man hätte sie angehalten und Fragen gestellt, und das nicht einmal aus Neugier, sondern aus Anteilnahme, weil für die Sonnenwinkler die Leute vom Herrenhaus Erlenhof etwas Besonderes waren.
Marianne fuhr langsam den Berg hinauf, vorbei an der Dependance, in der Sandra mit ihrer Familie lebte. Felix hatte für sehr viel Geld alles um-, ausbauen und erweitern lassen.
Es brannte Licht, und Marianne war geneigt, anzuhalten, auszusteigen und zu klingeln.
Sie besann sich und fuhr weiter.
Was sollte sie Felix sagen? Dass Sandra es nun wusste? Vielleicht würde er wütende, enttäuschte Äußerungen machen, was ja auch durchaus verständlich war. Doch das war etwas, was Marianne augenblicklich nicht verkraften konnte. Sie verstand Felix, doch sie konnte nicht über ihre Tochter herziehen, was immer sie auch getan hatte.
Marianne seufzte.
Hoffentlich ging das mit den beiden gut! Hoffentlich würde ihre Beziehung nicht an diesem Schicksalsschlag zerbrechen. Felix sprach nicht darüber, nur über seine Sorge um Sandra, wie froh er war, dass sie am Leben geblieben war.
Doch Sandra würde aus dem Krankenhaus zurückkommen, ohne Baby, und das liebevoll eingerichtete Kinderzimmer würde sie immer an das Unglück erinnern.
Marianne war wirklich am Ende ihrer Kräfte, und unwillkürlich fragte sie sich, wie Sandra, was immer sie auch getan hatte, und wie dumm es auch gewesen war, wohl drauf sein würde.
Sie fuhr am Herrenhaus vor, stieg aus und eilte ins Haus. Sie war froh, niemandem vom Personal zu begegnen. Sie wollte nur allein sein, zog ihren Mantel aus, dann lief sie in ihr Arbeitszimmer, das sie sich sehr gemütlich eingerichtet hatte und ließ sich in den großen, alten Ohrensessel aus cognacfarbenem Leder fallen.
Sie musste mit Carlo reden, ehe sie jetzt durchknallte. Sie griff nach ihrem Handy, und sie hatte es kaum in der Hand, als es klingelte. Der Anrufer war Carlo, es musste wohl Gedankenübertragung gewesen sein.
»Wie schön, deine Stimme zu hören, mein Lieber«, sagte sie erleichtert. Dann erzählte sie ihm nur, dass Sandra aufgewacht war, mehr nicht. Und zum Glück hatte Carlo ihr Neuigkeiten zu berichten und ging nicht weiter auf das Thema ein.
Aber immerhin hatte Carlo sofort bemerkt, dass es ihr nicht gut ging. Er erkundigte sich ganz besorgt: »Liebes, du klingst so traurig. Hast du geweint? Gibt es da etwas, was du mir nicht erzählen willst?«
Das verneinte Marianne.
Glaubte Carlo ihr? Nach kurzem Zögern sagte er: »Ach, übrigens, ich komme morgen nach Hause. Und ehe du jetzt anfängst dich aufzuregen. Es ist alles mit Frau Dr. Steinfeld und dem Chefarzt der Reha-Klinik abgesprochen. Ich habe das Okay bekommen, und du glaubst überhaupt nicht, wie sehr mich das erleichtert. Für mein Herz kann man hier eh nichts tun. Da bin ich bei Frau Dr. Steinfeld sehr viel besser aufgehoben. Ich vertraue ihr, sie kennt mich ganz genau, und ich halte sie für sehr viel kompetenter als das gesamte Ärzteteam hier.«
Marianne wollte etwas sagen, doch Carlo ließ sie überhaupt nicht zu Wort kommen.