Gab_es_eine_Alternative_zum_Stalinismus

Wadim S. Rogowin

Gab es eine Alternative zum Stalinismus?

Artikel und Reden

Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth

Mehring Verlag

Inhalt

Vorwort

Gab es eine Alternative zum Stalinismus?

Gab es in der Sowjetunion eine Alternative zum Stalinismus?

Ursachen und Folgen von Stalins Großem Terror

Leo Trotzki und das Schicksal des Marxismus in der UdSSR

Wolkogonows Trotzki – eine Buchbesprechung

Was an Wolkogonows Buch interessant ist

Wolkogonows Fälschungen

Helden des »Vorbehalts«

Worüber Wolkogonow schweigt

Wolkogonow zur Vierten Internationale

Wolkogonow gegen Wolkogonow

Wolkogonow über die Revolution

Wolkogonow über den Bürgerkrieg

Wolkogonow über Sozialismus und Kommunismus

Trotzki und der Marxismus

Wolkogonow zum Trotzkismus von heute

»Im Namen der Geschichte«

Warum wurde Wolkogonows Buch geschrieben?

Vorbereitung auf das Lenin-Buch

Warum es in Russland keine starken linken gesellschaftlichen und politischen Bewegungen gibt

Impressum

Vorwort

Der Historiker Wadim S. Rogowin ist eine Ausnahmeerscheinung in der russischen Intelligenz. Er war während seiner gesamten akademischen Laufbahn ein linker Gegner des Stalinismus und ist bis heute überzeugter Sozialist. Dieses Buch gibt eine Einführung in sein Werk.

Den ersten Essay, »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?«, verfasste er als Vorwort zu einer sechsbändigen Geschichte des Widerstands gegen den Stalinismus in der Sowjetunion, von der inzwischen vier Bände im Druck erschienen sind. Es folgen drei Vorlesungen zum selben Themenkreis, die er 1995 und 1996 an Universitäten in den USA, Großbritannien und Australien hielt. Er hat diese Länder auf Einladung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale besucht und seine öffentlichen Vorträge sind auf immenses Interesse gestoßen. Weiter enthält dieser Band eine Besprechung der verleumderischen Trotzki-Biographie von Dimitri Wolkogonow, die auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Den Abschluss bildet eine Studie der sozialen und politischen Hintergründe der Perestroika, die 1992 unter dem Titel »Warum es in Russland keine starken linken gesellschaftlichen und politischen Bewegungen gibt« erschienen ist.

Rogowin, Jahrgang 1938, ist Doktor der philosophischen Wissenschaften und Professor am soziologischen Institut der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er hat 250 wissenschaftliche Arbeiten verfasst, darunter acht Monographien über Probleme der Sozialpolitik, die Geschichte des gesellschaftlichen Denkens und die Geschichte politischer Bewegungen in der ehemaligen Sowjetunion. Er war schon lange vor der Gorbatschow-Ära als grundsätzlicher Gegner der Bürokratie und ihrer Privilegien bekannt und hatte zahlreiche Artikel veröffentlicht, die sich mit der gesellschaftlichen Differenzierung in der Sowjetunion, der Lohnpolitik der Regierung und verschiedenen Quellen der Korruption in der herrschenden Kaste befassen.

Ursprünglich hatte er gehofft, Gorbatschows Politik werde zu einem echten Bruch mit dem Stalinismus und zu einer sozialistischen Erneuerung führen, und sich der politischen Reformbewegung angeschlossen. Als aber dann der prokapitalistische Charakter der Perestroika immer deutlicher hervortrat, brach er mit zahlreichen Kollegen, die ihre sozialistischen Überzeugungen bequemerweise aufgaben, wie mit Sergei Schatalin, dem Autor von Gorbatschows unglückseligem »500-Tage-Plan«.

Die Wende zur Restauration des Kapitalismus ging mit scharfen Angriffen auf die Tradition des Bolschewismus einher. Diese Angriffe stützten sich auf die durch Tatsachen nicht begründbare Behauptung, Lenin und Trotzki seien für das totalitäre System in der Sowjetunion verantwortlich. Das geistige Leben in der ehemaligen Sowjetunion hat einen atemberaubenden Niedergang durchgemacht. Die »historischen Mythen«, die heute fabriziert werden, sind – wie Rogowin schreibt – »so willkürlich und fantastisch, dass sie selbst die ideologischen Blüten der stalinistischen Schule der Fälschung übertreffen«.[1] Zahlreiche Karrieristen, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, den sowjetischen »Sozialismus« und das stalinistische Regime zu verherrlichen, reagierten auf die veränderten Umstände, indem sie sich in wütende Antikommunisten verwandelten. Wolkogonow ist ein typischer Vertreter dieser Spezies. »Alles, dem er gestern noch ein positives Vorzeichen zugeordnet hat, versucht er jetzt mit einem negativen zu versehen«, schreibt Rogowin.[2]

Rogowins Schriften stellen eine bedeutsame Ausnahme von dieser Entwicklung dar. Er vertritt den Standpunkt, dass der Stalinsche Terror einem bewussten politischen Zweck diente. »Die große Säuberung von 1936 bis 1938«, schreibt er, »war kein irrationaler, sinnloser und krankhafter Gewaltausbruch, der in Stalins blindem Argwohn … oder in dem ›satanischen‹ Charakter des Bolschewismus … begründet lag. Es handelte sich vielmehr um einen politischen Völkermord gegen sowjetische und ausländische Kommunisten, um einen präventiven Bürgerkrieg als einziges politisches Mittel, das Stalin zur Verfügung stand, um seine Macht zu behalten und jene politischen Kräfte in der sowjetischen und internationalen kommunistischen Bewegung zu unterdrücken, die potenziell oder tatsächlich eine Alternative zu seinem totalitären Regime boten.«[3]

Im Jahr 1992 veröffentlichte Rogowin den ersten Band seiner Geschichte der Opposition gegen die Sowjetbürokratie, »Gab es eine Alternative? Der Trotzkismus, der sich mit dem Zeitraum von 1923 bis 1927 befasst, von Lenins tödlicher Erkrankung und der Gründung der Linken Opposition bis zum Ausschluss Trotzkis aus der Kommunistischen Partei. Der zweite Band, »Stalins Kriegskommunismus«, erschien ein Jahr später. Er behandelt die Jahre 1928 bis 1933 und geht nicht nur auf Trotzki und die Linke Opposition ein, sondern auch auf die Strömungen, die von Bucharin, Rjutin, Eismont und anderen geführt wurden. Im Frühjahr 1995 erschien der dritte Band »Stalins Neo-NEP«. Er geht auf die Jahre 1934 bis 1936 ein und dokumentiert den Angriff der Bürokratie auf die egalitären Ideale der Oktoberrevolution, die Anhäufung von Privilegien durch bestimmte Gesellschaftsschichten und in diesem Zusammenhang die Vorbereitung der physischen Vernichtung der sozialistischen Intelligenz und der bolschewistischen Arbeiter in der Sowjetunion im Jahr 1937. Der vierte Band, veröffentlicht im Sommer 1996, befasst sich mit der Durchführung dieser historischen Verbrechen und trägt den Titel »1937«. Dasselbe Thema behandelt der fünfte Band, »Die Partei der Hingerichteten«. Der abschließende Band über die Jahre 1938 bis 1940 untersucht die Verschwörung der sowjetischen Regierung und ihres Geheimdienstes zur Ermordung Leo Trotzkis (»Weltrevolution und Weltkrieg«).

Rogowins Werke heben sich wohltuend von den Schriften jener westlichen und östlichen Historiker ab, die sich ihre akademischen Titel durch die Anpassung historischer Fakten an die vorherrschenden politischen Bedürfnisse erworben haben. Sie sind ein bedeutender Beitrag zur Klärung des wirklichen Charakters des Stalinismus und seines Gegenpols, der trotzkistischen Bewegung.

[1] Siehe weiter hinten in diesem Band.

[2] Siehe weiter hinten in diesem Band.

[3] Siehe weiter hinten in diesem Band.