BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Manuel Prieto/Norma
eBook-Produktion:
César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6541-2
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Verdammte Flagge
1
Es war schon eine verdammte Sache mit der Flagge oder Fahne, hinter der sie durch das Land ritten. Sie hassten die Armee zumeist, sie hassten das Schicksal, das sie zur Armee geführt und zu Soldaten gemacht hatte, und sie hassten die Flagge, hinter der sie herritten.
Dennoch war diese Flagge das Zeichen, unter dem sie mitunter zu Erfolgserlebnissen kamen, sogar manchmal siegten. Dann verspürten sie ein Gefühl der Stärke. Denn allein war fast jeder von ihnen ein Nichts gewesen. Die Fahne machte sie zu einer Schicksalsgemeinschaft.
Und sie wurden angeführt von Offizieren, die sich für eine besondere Menschenklasse hielten, die vom Ehrgeiz angetrieben wurden und blind waren vor lauter Selbstüberschätzung und Überheblichkeit.
Aber wenn es ans Sterben ging, dann waren sie alle gleich.
So war es mit der US-Kavallerie, die damals durch das Arizona-Territorium ritt und zumeist erfolglos gegen die Apachen kämpfte.
Als die Postkutsche die Wasserscheide des Mateo-Passes erreicht, hält der Fahrer an, um das Sechsergespann verschnaufen zu lassen. Er, sein Begleitmann und die vier männlichen Passagiere verlassen die Kutsche.
Der Fahrer ruft halblaut: »Die Lady nach links und die Gentlemen nach rechts!«
Doch Sarah Wheeler, die als einzige Frau in der Kutsche mitfährt, macht von dem Angebot keinen Gebrauch. Sie steigt nicht einmal aus, um sich die Beine zu vertreten, wie man so bezeichnend sagt. Sie bleibt in der Kutsche, erwacht gar nicht richtig aus ihrem Halbschlaf. Sie ist zu müde und erschöpft, und dies ist kein Wunder, denn sie ist schon viele Tage und Nächte unterwegs. Längst hätte sie einmal – in Santa Fé zum Beispiel – ihre Reise unterbrechen und sich in einem Hotel gründlich ausschlafen müssen.
Aber weil sie das nicht tat, befindet sie sich jetzt in einem Zustand der Erschöpfung. Das ewige Rütteln, Stoßen und Schwanken der Kutsche, der Staub, die Hitze bei Tag und die Kälte bei Nacht sind einfach zu viel für sie geworden.
Auch jetzt – etwa zwei Stunden nach Mitternacht – ist es schneidend kalt, denn es ist eine helle Nacht hier oben. Mond und Sterne leuchten mit kalter, unirdischer Pracht auf dem Mateo-Pass, den man auch Apachenpass nennt.
Die Männer gehen ein Stück von der Kutsche weg und stellen sich dann in einer Reihe auf, um ihr Wasser abzulassen. Man hört es sicherlich bis zur Kutsche. Doch hier in diesem Land ist alles sehr viel menschlicher als anderswo.
Einer der Männer sagt zum Kutscher, der neben ihm steht: »Was ist, wenn die verdammte Armee die verdammten Apachen doch nicht verjagt hat und dieser verdammte Pass gar nicht frei ist?«
Der Mann gehört offenbar zu der Sorte von Menschen, deren jedes zweite oder dritte Wort ein Fluch ist.
Der Fahrer aber lacht leise und mit einem deutlichen Klang von Bitterkeit. Dann spricht er grimmig: »He, Mann, was dann ist, wollen Sie wissen? Oha, wenn die verdammte Armee mal wieder nicht geschafft hat, was sie versprach, dann …«
Der Fahrer kommt nicht weiter mit seinen Worten.
Denn ein Apachenpfeil durchfährt seinen Hals.
Neben ihm sterben auch die anderen Männer.
Und der wilde Pumaschrei der Apachen klingt durch die mondhelle Nacht. Aus dem Schatten der Felswand, deren Rissen und Spalten, hinter den Dornbüschen hervor, da springen die sehnigen, halbnackten Gestalten der Angreifer.
Doch die sechs Gespannpferde der Kutsche rasen los, erschreckt vom Pumaschrei.
Und so kommt es, dass die Kutsche den Apachen vorerst mal davonfährt.
In der Kutsche aber erwacht Sarah Wheeler aus ihrem Halbschlaf. Denn diesen Apachenschrei kennt sie gut genug. Es ist erst wenige Jahre her, da sie ihn hörte. Sie war damals noch ein Mädchen an der Schwelle zur Frau. Und ihre Mutter warf sich damals in jenem jämmerlichen Armeezelt, das so wenig Schutz bot, über sie, um sie mit ihrem Körper zu schützen, indes die Apachenpfeile durch das Zelt fauchten.
Ja, diesen Apachenschrei kennt sie noch gut genug.
Sie vergaß ihn nie.
Der Weg vom Pass hinunter zum Canyon des Cherry Creeks ist schmal und gewunden. Die Postkutsche jedoch ist ohne Fahrer. Dass sie mit dem durchgehenden Gespann nicht schon bei der ersten Biegung abstürzt, liegt nur daran, dass das Gespann diesen Weg schon oftmals hinter sich brachte und selbst in Panik instinktiv das tut, was ihm sonst der Fahrer mit Hilfe der Zügel und viel Gebrüll abverlangt.
Sarah Wheeler aber ist sich der Gefahr bewusst, in der sie schwebt.
Sie saust in einer Kutsche, deren Gespann durchging, ohne Fahrer einen gefährlichen Passweg abwärts.
Und nur ein gütiges Geschick wird sie retten können.
Einige Male wird die Kutsche auf zwei Rädern um die Biegungen geschleudert, hängt mit den anderen Rädern über dem Abgrund. Das Gespann gerät noch mehr in Panik, steigert weiter sein Tempo und die Katastrophe scheint nicht mehr aufzuhalten. So ist es tatsächlich ein Wunder, dass sie auf dem Passweg bleiben und nicht abstürzen.
Sarah Wheeler kann nichts tun als beten und hoffen.
Einige Male möchte sie aus der Kutsche springen. Deren Türen standen ja offen, indes die Kutsche und das Gespann auf der Wasserscheide verharrten. Jetzt sind die Türen längst an den Felswänden zerschmettert, abgerissen bis auf wenige Überreste.
Sarah Wheeler könnte hinausspringen.
Doch sie wagt es nicht.
Denn der Weg ist so schmal, dass sie entweder gegen die Felswand oder in den Abgrund springen würde. Sie kann sich nur festhalten, um nicht hinausgeschleudert zu werden, und darauf hoffen, dass sich die sechs Pferde wieder beruhigen und den Weg ohne Schaden hinter sich zu bringen.
Pferde sind ja Gewohnheitstiere. Was man ihnen einmal beibrachte, tun sie auf Verlangen immer wieder.
Doch diesmal fehlt der Fahrer.
Werden sie jetzt instinktiv das Richtige tun?
Sarah kann es nur hoffen.
Und sie hört sich einmal wild und fordernd rufen: »Du Gott im Himmel, hilf mir, steh mir bei!«
Sie wird sich darüber klar, dass sie es nicht kläglich ruft, nicht kreischend vor Angst. Nein, in ihrer Stimme liegt zwar ein Bitten, doch kein flehendes Jammern und Betteln.
Ja, sie hat sich wieder unter Kontrolle.
Und obwohl sie in der Kutsche hin und her geworfen wird, verliert sie nicht die Nerven.
Und dann ist es plötzlich überstanden.
Irgendwie beginnt sie zu begreifen, dass entweder ihre Bitte vom Himmel erhört wurde oder auf andere Weise ein Wunder geschehen ist.
Denn sie haben den gefährlichen Passweg hinter sich gebracht, ohne abzustürzen. Jetzt geht es zwar immer noch abwärts, doch der Weg wird breiter und die Biegungen sind nicht mehr so eng. Das Gespann beruhigt sich immer mehr.
Wahrscheinlich läuft es nur deshalb weiter, weil es vor sich die nächste Pferdewechselstation weiß, wo es abgelöst wird und sich in einem Corral bei Futter und Wasser erholen kann.
Bald trabt das fahrerlose Gespann mit der Kutsche durch den Cherry Creek Canyon unterhalb des Tonto Rim zum Tonto Basin hinunter, das auch Mogollon Rim und Mogollon Basin genannt wird.
Der Cherry Creek mündet in den Salt River, etwa in der Mitte zwischen Fort Apache und einer aus einem Camp entstehenden Stadt, die man bald Phoenix nennen wird. Denn wie der Phoenix aus der Asche, so wird sie in der Wüste erstehen, sobald das Problem der Bewässerung gelöst ist.
Doch davon weiß Sarah Wheeler nichts.
Auch die meisten Menschen hier im Arizona-Territorium wissen davon nichts. Würden es nicht einmal für möglich halten. Es sind nämlich noch zu viele Apachen da, mit denen die Armee nicht fertig wird.
Dies ist die allgemeine Ansicht.
Die Kutsche schwankt und rüttelt nicht mehr so schlimm. Das Gespann zieht sie nun in einem ruhigen Trab.
Und dann hält es an.
Sarah Wheeler klettert hinaus. Als sie im Mond- und Sternenlicht, die Adobehütten, die Corrals und Schuppen sieht, da stößt sie einen lauten Ruf aus und wundert sich dabei, dass sich noch niemand zeigte.
Der Stationsmann und dessen Leute mussten in der stillen Nacht doch die Kutsche schon aus meilenweiter Entfernung gehört haben.
»Hoiii Leute!« So ruft Sarah abermals.
Aber sie erhält keine Antwort.
Nichts regt sich hier.
Dann sieht sie den toten Hund zu ihren Füßen.
Und dann weiß sie, dass die Apachen zuerst hier waren, bevor sie den Pass hinauf zur Wasserscheide ritten, um dort auf die Kutsche zu warten.
Warum warteten sie nicht hier? Dies fragt sie sich.
Wie eine Antwort auf ihre Frage hört sie plötzlich etwas.
Und das Geräusch kennt sie. Es ist ihr vertraut aus der Kindheit, als sie mit ihrer Mutter noch bei der Armee lebte – leben musste. Was sie da kommen hört, ist der klirrende Trab reitender US-Kavallerie, jenes unverkennbare Geräusch, das sich zusammensetzt aus Hufschlag, klirrenden Metallteilen, Säbelgerassel, Pferdeschnauben, Klappern irgendwelcher Ausrüstungsstücke.
Was da kommt, muss die Eskorte sein, die ihr Vater aus Camp Mateo zur Cherry Canyon Station gesandt hat, um sie von hier abzuholen.
Denn ihr Vater ist der Kommandant von Camp Mateo.
Sie stößt einen befreiten Ruf aus.
Denn sie glaubt, dass sie nun gerettet ist.
Soldaten kommen.
Sie ist wieder bei der Armee, so wie damals, als Mutter, Vater und sie noch eine Familie waren und bevor ihre Mutter mit ihr aus diesem verdammten Land floh wie aus der Hölle.
Sie verharrt bewegungslos beim Brunnen vor dem Stationshaus, als Lieutenant George Howell mit sechs Soldaten angeritten kommt, denen ein leichter Bagagewagen folgt.
Als die kleine Kolonne anhält, verharrt Sarah immer noch bewegungslos.
Und es wird ihr bewusst, dass sie nun wieder bei der Armee gelandet ist, in deren Mitte sie vor knapp zwanzig Jahren in einem Offizierszelt geboren wurde.
Der Lieutenant kommt herbeigeritten und hebt grüßend die Hand an die Hutkrempe. Im Mondschein betrachten sie sich einige Sekunden lang schweigend.
Dann sagt er: »Sarah, du bist wunderschön geworden. Und es ist kaum mehr als vier Jahre her …«
»Verdammt, George Howell«, unterbricht sie ihn. »Hast du noch nicht begriffen, dass ich ganz allein hier bin, dass es außer mir kein Leben gab, bevor ihr herkamt? Gleich werden die Apachen hier auftauchen. Und du redest von meiner Schönheit! Oh zum Teufel, was ist los mit dir?«
Sie sieht ihn im Sattel zusammenzucken.
Dann blickt er sich rasch um.
Und endlich dämmert ihm, wie wenig hier auf dieser Pferdewechselstation in Ordnung ist.
Seine Stimme klingt schrill, als er seinen Reitern zuruft: »Absitzen! Die Station durchsuchen! Alles für eine Verteidigung vorbereiten! Vorwärts, Leute!«
Er schwingt sich vom Pferd, so als befürchtete er plötzlich, dort oben im Sattel ein gutes Ziel zu bieten.
Als er an Sarah herantritt, erkennt sie seinen unsicheren Gang. Und das kann nicht nur mit Sattelsteifheit zusammenhängen – nein, sie spürt nun auch ein wenig von seinem Atem. Und da kann sie es wittern. Ja, sie ist plötzlich sehr sicher, dass er nicht nüchtern ist. Er hat getrunken. Sie wittert den Geruch von billigem, doch starken Brandy, wie man ihn in der Kantine ausgeschenkt bekommt.
Oh, was ist aus George Howell geworden? Dies denkt sie bestürzt. Und dabei erinnert sie sich wieder daran, wie ehrgeizig, schneidig und wagemutig er damals vor vier Jahren als blutjunger Offizier war, als er geradewegs von West Point zur Einheit ihres Vaters ins Arizona-Territorium kam.
Jetzt ist er offenbar ein Säufer.
Und dabei sieht er immer noch beachtlich aus, sehr männlich und kühn, ganz und gar wie ein Offizier, der zu führen versteht.
»Erzähl mir, was geschehen ist, Sarah«, verlangt er und kämpft dabei gegen seine Trunkenheit an. Seine Sprechweise wird sicherer. Sie berichtet ihm alles mit knappen Worten, und sie staunt dabei über sich, weil sie alles so beherrscht und sachlich schildern kann, als berührte es sie innerlich nicht.
Doch sie begreift, immer klarer, dass sie wieder bei der Armee gelandet ist, bei der sie bis zu ihrem sechzehnten Jahr gelebt hat. Sie hat schon wieder die Denkweise dieser Armee übernommen – und die Art, jedes Gefühl tief in sich verborgen zu halten.
Als sie verstummt mit ihrem Bericht, nähert sich Sergeant Tab Hunter.
Er wirft ihr einen forschenden Blick zu.
»Hey, Tab«, sagt Sarah, »ich habe nicht vergessen, dass ich auf deinen Knien reiten lernte, als du noch der Bursche meines Vaters warst. Und dann hast du mich vor dich auf dein Pferd genommen – später als Korporal. Weiß du noch, ich habe dir damals zum Abschied einen Kuss auf die Wange gegeben. Komm her, damit ich dies auch zum Wiedersehen tun kann!«
»O Miss Sarah …«, ächzt Sergeant Tab Hunter.
Aber sie wirft sich in seine Arme und küsst seine stoppelbärtige Wange, auf der Schweiß und Staub eine schmierige Schicht bilden.
Dies besiegelt ihre endgültige Rückkehr zur Armee. Ja, was sie da tut, ist symbolhaft für Sarah.
Sie ist zurück.
Denn sie hatte keine andere Wahl.
George Howells Stimme aber klirrt böse: »He, Sergeant, ich will Ihren Bericht! Es ist jetzt keine Zeit für Sentimentalitäten!«
Sarah gibt den alten Sergeanten frei.
Er nimmt vor dem Lieutenant Haltung an und meldet: »Sir, sie sind alle tot. Es handelt sich um den Stationsmann, dessen Frau und dessen Gehilfen. Sie sind tot. Es sieht schlimm dort drinnen aus – alles mit Blut bespritzt. Sie haben wie die Teufel gehaust. Sir, wir sollten von hier verschwinden. Ich glaube nicht, dass die Indianer uns folgen werden. Denn es sind nicht viele. Sie hätten hier auf der Station auf uns gewartet, wenn sie stark genug gewesen wären. So aber ritten sie der Postkutsche entgegen. Zusammen mit den Leuten der Postkutsche wären wir hier zu stark für sie gewesen. Es kann sich nur um eine kleine Horde handeln.«
Er verstummt heiser und wie beschwörend. Und er ist ein alter, eisgrauer und in diesem Land erfahrener Sergeant.
Doch Lieutenant George Howell schüttelt heftig den Kopf. »Nein«, sagt er, »wir verschanzen uns in der Station und warten ab. Ich gehe mit der Tochter des Majors kein Risiko ein. Vorwärts, Sergeant!«
Er wendet sich ab, beachtet den Sergeanten und auch Sarah nicht mehr. Er tritt zu seinem Pferd, geht auf die andere Seite des Tieres und nimmt dort die Wasserflasche ab. Als er deren Boden gen Himmel hebt und glucksend trinkt, da wissen Sarah und der Sergeant, dass es gewiss kein Wasser war, das er durch die Kehle rinnen ließ.