

Der Autor
Hermann Staats, Prof. Dr. med., ist Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, Gruppenanalytiker und Paar- und Familientherapeut und arbeitet als Sigmund-Freud-Professor für psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie an der FH Potsdam und in eigener Praxis. Er ist Vorsitzender der Forschungskommission der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, Mitglied der Forschungskommission der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie D3G und Lehranalytiker und Supervisor der DPG, DGPT, IPA und D3G.
Hermann Staats war Oberarzt an der Universität Göttingen, Leiter der Ärztlich-Psychologischen Beratungsstelle dort und später Leiter des Familienzentrums an der FH Potsdam. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik und Mitglied zahlreicher Fachgesellschaften. Buchveröffentlichungen zu Übertragungen in Paaren und Gruppen (Das Zentrale Thema der Stunde, 2001), zum feinfühligen Arbeiten mit Kindern (2014, 2. Aufl. 2021), zu Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse (mit Th. Bolm und A. Dally, 2014) zur therapeutischen Beziehung (2017), zur Psychoanalyse der Angststörungen (mit C. Benecke 2017) und zur Supervision in Gruppen (mit Christiane Bakhit, 2021).
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-022112-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-032452-7
epub: ISBN 978-3-17-032453-4
mobi: ISBN 978-3-17-032454-1
Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.
In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.
Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.
Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.
Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungs-psychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.
In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.
Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Cord Benecke, Lilli Gast,
Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens
Entwicklungspsychologische Konzepte spielen in der Psychoanalyse eine große Rolle – wir benutzen sie, um uns zu erklären, wie und warum jemand so geworden ist, wie er ist, und aus welchen Gründen sich eine bestimmte Symptomatik entwickelt hat. Dabei vermuten wir kausale Zusammenhänge. Die vielfältigen Theorien innerhalb der Psychoanalyse sind Werkzeuge, um Hypothesen zu generieren, die dann in der Beziehung zum Patienten geprüft und in gemeinsamer Arbeit modifiziert werden. Neben einem allgemeinen »Schatz« an entwicklungspsychologischen Konzepten gibt es schul- und störungsspezifische Modelle, die weitere Perspektiven einbringen. Die in psychoanalytischen Entwicklungstheorien deutliche Auffassung des Kindes als eines »kompetenten Subjekts« findet sich inzwischen auch in anderen Bereichen – explizit z. B. in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen oder in aktuellen pädagogischen Konzepten.
Grundlagen der verschiedenen psychoanalytischen Entwicklungstheorien sind in den folgenden Kapiteln so dargestellt, dass Unterschiede der Konzepte und Modelle als Beiträge innerhalb eines Diskurses verstanden werden. Im Fokus steht das Interesse an Beziehungen und ihrer Entwicklung – Beziehungen zu anderen Menschen, zu sich selbst, zu Gruppen, Kulturen und materiellen Dingen. Die wechselseitige Beeinflussung interpersonellen Verhaltens und intrapsychischen Erlebens wird herausgearbeitet, die Entwicklung psychischer Strukturen aus Beziehungserfahrungen vor dem Hintergrund biologischer und sozialer Faktoren in ihrer bewussten und unbewussten Dimensionen beschrieben. Das Lernen von Beziehungen in Beziehungen ist ein weitgehend nicht bewusster und erst nachträglich reflektierter Prozess.
Zu diesem Buch tragen Erfahrungen aus der klinischen Arbeit mit erwachsenen Menschen, mit Kindern und Jugendlichen, mit Gruppen und Familien bei; die Lehre an Hochschulen und an Ausbildungsinstituten sowie Forschung zu den Verknüpfungen interpersoneller und intrapsychischer Aspekte des Verhaltens und Erlebens stehen damit in einem engen Zusammenhang. Viele Menschen haben mit ihren Fragen und Überlegungen zu diesem Buch beigetragen. Danken möchten ich meinen Studierenden, vor allem Aline Schönwetter, Anika Melius, Katharina Gurack, Kristin Quander, Manuel Fischer, Antonia Lautenschläger, Johanna Lieb, Ann-Kathrin Keßner und Anna Hochstrasser, die für dieses Buch Literatur gesucht und Fragen formuliert haben, Astrid Kunze, die auf Unklarheiten hingewiesen hat und wo immer möglich mit Vorschlägen zu einer klareren Darstellung beigetragen hat, meinen Lehrern und Kollegen und den Patienten und Familien, denen Sie in der einen oder anderen Form in diesem Buch begegnen. Der Kohlhammer Verlag und vor allem Frau Stefanie Reutter als Lektorin haben das Entstehen dieses Buches mit ihrem Interesse, Engagement und mit ihrer Geduld möglich gemacht. Teile des Buches nehmen Bezug auf entwicklungspsychologische Vorlesungen, die an der International Psychoanalytic University IPU durchgeführt und von Florian Juen mitinspiriert wurden. Svenja Taubner hat vielfältige Überlegungen, Vorschläge und Materialien eingebracht, Harry Klemann und Bernd Federlein haben zu Lacans Theorien beigetragen. Von den vielen offenen, nach Verstehen und Klarheit suchenden Gesprächen hoffe ich mit diesem Buch etwas weiterzugeben.
Wechselwirkungen zwischen Sprache und individuellen und gesellschaftlichen Denkmustern sind in einem entwicklungspsychologischen Buch ein implizites Thema. Die männliche und die weibliche Form werden im Text zusammen verwendet, wenn es für die Lesbarkeit hilfreich ist, die männliche Form schließt in der Regel alle Geschlechter ein. Leserinnen und Leser können aus dem Zusammenhang leicht erschließen, wann spezifisch eines der Geschlechter gemeint ist.
Potsdam und Göttingen, Frühjahr 2021 |
Hermann Staats |
»Was ist und zu welchem Zweck betreiben wir Entwicklungspsychologie?« Oerter und Montada (2008, S. 3) verweisen darauf, dass in der »etwa hundertjährigen Geschichte der empirischen Entwicklungspsychologie« auf diese Frage unterschiedliche Antworten gegeben wurden. »Verschiedene Forschungstraditionen gingen von unterschiedlichen Fragestellungen und Menschenbildern aus und bildeten unterschiedliche Konzepte und Theorien der Entwicklung«. Siegler et al. (2005, S. XI) beginnen ihr Lehrbuch mit dem Satz: »Es ist eine aufregende Zeit, um ein Lehrbuch über Kindesentwicklung zu schreiben«.
Für psychoanalytische Entwicklungstheorien gilt dies in einem vielleicht noch stärkeren Ausmaß als in der akademischen Entwicklungspsychologie. Tyson und Tyson (1990, dt. 2012) haben ihr klassisches »Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie« für Studierende geschrieben, die immer wieder durch die »Vielzahl widersprüchlicher und sich ausschließender Theorien« in Verwirrung geraten seien.
Tyson und Tyson zielten auf eine »Synthese psychoanalytischer Entwicklungstheorien« (S. 15). Es ist offen, ob dies heute noch gelingen kann. Es gibt nicht eine einheitliche psychoanalytische Entwicklungspsychologie. Widersprüche und Konflikte tragen zur Faszination des Feldes bei. Beobachtungen an Säuglingen, psychologische, neurobiologische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben zu einer Explosion unseres Wissens geführt. Zur Bedeutung dieser Wissensexplosion haben sich psychoanalytische Autorinnen und Autoren sehr unterschiedlich positioniert:
• Die Ergebnisse empirischer Studien zur Entwicklung von Menschen und neue Konzepte der Entwicklungspsychologie werden als wenig wichtig für psychoanalytische Theorien angesehen und ignoriert.
• Einzelne entwicklungspsychologische Konzepte (wie etwa »Bindung« oder »Mentalisieren«) werden Grundlage neuer klinischer Modelle und Behandlungsstrategien. Mit ihnen gelingt es, die Komplexität menschlicher Entwicklung – wieder – auf ein vergleichsweise einfach überschaubares und für die klinische Praxis als Leitschnur nutzbares Modell zu reduzieren. So kann der Anschluss der Psychoanalyse an empirisch arbeitende Wissenschaften leichter gehalten und weiterentwickelt werden.
• Viele primär klinische Beiträge nutzen ausgewählte entwicklungspsychologische Befunde, um das eigene therapeutische Vorgehen zu begründen.
Ein Ziel dieses Buches ist es, die wichtigsten Entwicklungsmodelle innerhalb der Psychoanalyse darzustellen. Wo dies möglich ist, werden die unterschiedlichen Beiträge und Sichtweisen dieser Modelle aufeinander bezogen. Gegensätzliche Auffassungen sind herausgearbeitet, auch ohne dass eine Synthese gelingt. Aktuelle psychoanalytische Fragen und Ergebnisse der empirischen Entwicklungspsychologie werden miteinander verbunden. Historisch wichtige Konzepte sind – in einem besonderen Format erkennbar – kurz dargestellt. Folgerungen für die therapeutische oder pädagogische Praxis werden ebenfalls hervorgehoben präsentiert. Am Ende jedes Kapitels sollen offene Fragen ein Weiterdenken zu den Inhalten fördern.
In diesem Buch wird die Entwicklung des Kindes von der vorgeburtlichen Zeit bis zur Latenzzeit dargestellt. Das Erleben in Beziehungen steht im Mittelpunkt – von der Schwangerschaft bis zum Lernen in Beziehungen zu Lehrerinnen und Lehrern. Die Aufteilung der Kapitel folgt den klassischen Entwicklungsphasen, die durch das Lösen bestimmter Aufgabe gekennzeichnet sind. Der Fokus liegt auf den Übergängen zwischen den Phasen. Die sich hier entfaltenden Konflikte und Entwicklungsaufgaben werden herausgearbeitet und dann wird beschrieben, was die verschiedenen psychoanalytischen Konzepte zu einem Verständnis des Erlebens des Subjekts beitragen.
Übereinstimmungen mit den Ergebnissen anderer Wissenschaften und nicht übereinstimmende Befunde werden dargestellt, so dass sich ein Einblick in aktuelle Forschungen und interdisziplinäre Diskurse ergibt. Wenn Ergebnisse aus anderen Wissenschaften psychoanalytische Theorien ergänzen, in Frage stellen oder bestätigen, wird versucht, Ungewissheiten zu erhalten und zwischen Hypothesen und empirischen Belegen zu unterscheiden.
Entwicklungsstörungen werden in diesem Buch nur beispielhaft betrachtet. Die relativ neue Disziplin der Entwicklungspsychopathologie stellt eine Verbindung aus Klinischer Psychologie und Entwicklungspsychologie dar. Der Komplexität dieser interdisziplinär ausgerichteten Forschungsrichtung gerecht zu werden, würde das Ausmaß dieses Buches sprengen. Beiträge zu Krippen, Kindergärten und Schulen aus psychoanalytischer Sicht werden als Teil der allgemeinen Entwicklung dagegen einbezogen. Viele entwicklungspsychologische Konzepte lassen sich in einer Lebensphase besonders plastisch darstellen; sie bleiben aber über lange Zeiträume der Lebensspanne wichtig. Ein chronologischer Aufbau – wie in diesem Buch angestrebt – kann daher nur unvollkommen gelingen. Ergänzend wird daher versucht, Methoden und Konzepte auch in ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte darzustellen und dabei den (auch historischen) Diskurs aufzuzeigen, in dem sie entstanden sind.
Beispiel:
Mit der objektbeziehungstheoretischen Ausrichtung psychoanalytischer Theorien hat sich das Interesses an der Entwicklungspsychologie auf die ersten beiden Lebensjahre verlagert. Psychische Struktur wird als Resultat verinnerlichter Objektbeziehungen verstanden, für die diese Zeit von besonderer Bedeutung ist. Dies hat konkrete behandlungstheoretische Auswirkungen – Analytiker verstehen sich (wiederum durchaus unterschiedlich) in einer dyadisch strukturierten Behandlungssituation, in der im »Hier und Jetzt« der Beziehung gearbeitet wird. Beziehen sich Analytiker stärker auf andere Modelle (z. B. das Mentalisieren oder auf ödipale Konflikte und trianguläre Strukturen), ergeben sich andere Beziehungs- und Übertragungsmuster. Analytiker könnten vor dem Hintergrund anderer Entwicklungstheorien dann die Rollen und Funktionen eines fördernden Trainers, eines präsenten feedbackgebenden Gegenübers oder eines neidischen, fördernden, bewundernden oder kritisch missbilligenden Dritten einnehmen.
Entwicklungspsychologie, Sozialisationsforschung, Neurobiologie, Genetik und Entwicklungspsychopathologie wachsen teilweise zu einer neuen Disziplin zusammen, die als »Entwicklungswissenschaft« bezeichnet wird. Es liegt in der Tradition des neugierigen Denkens Freuds, Ergebnisse aus Nachbarwissenschaften aufzugreifen und für ein Verstehen subjektiver seelischer Prozesse zu nutzen. Die Konzepte, auf die sich Therapeutinnen und Therapeuten dabei beziehen, haben Auswirkungen auf ihre jeweilige Behandlungspraxis. Die Vielfalt psychoanalytischer Theorien wird in diesem Buch als eine Bereicherung angesehen – und zugleich mit dem Wissen um die Beschränkung eines einzelnen Ansatzes (und mit Kenntnissen zu seiner Entstehung) verbunden. Vor diesem Hintergrund wird auch auf »Klassiker« der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie zum Weiterlesen hingewiesen. Ziel ist es, dem Leser und der Leserin einen Überblick zu verschaffen, der es ermöglicht, das Gelesene einzuordnen und zu relativieren. Es soll neugierig machen und zum Weiterlesen anregen.
Oerter. R. & Montada, L. (Hrsg.) (2008). Entwicklungspsychologie (6. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Siegler, R., DeLoache, J. & Eisenberg, N. (2005). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. München: Spektrum.
Tyson, P. & Tyson, R.-L. (1990, dt. 2012). Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie (4. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
»Entwicklungspsychologie und Psychotherapie, speziell die analytische bzw. tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, haben lange Zeit ein Dasein als ›feindliche Schwestern‹ geführt« (Seiffge-Krenke, 2009, S. VII).
Das Bild »feindlicher Schwestern«, das Seiffge-Krenke zum Beschreiben der Beziehung zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie nutzt, weist auf die natürliche Verbundenheit und auf ein – in Phasen der Entwicklung vielleicht notwendiges – Bemühen um Abgrenzung und Unterschiedlichkeit hin.
Aus Sicht eines Psychoanalytikers stellt Bohleber (2011) enttäuscht eine Abnahme des Interesses der Psychoanalyse an entwicklungsspezifischen Fragen fest. Die Entwicklungspsychologie habe sich »zu einer rein empirischen Forschungsrichtung entwickelt, deren Ergebnisse nicht mehr leicht an klinisch-psychoanalytische Konzeptualisierungen zurückzubinden« seien (S. 769). Diese Beschreibung steht im Gegensatz zu dem Erfolg psychoanalytisch ausgerichteter Bücher zur Entwicklung von Kindern (z. B. von Martin Dornes, 1993, [14. Aufl. 2015] »Der kompetenten Säugling«), in denen entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse für eine psychotherapeutisch und pädagogisch interessierten Öffentlichkeit zusammengefasst und diskutiert werden.
Die Bedeutung der Entwicklungspsychologie und der Ergebnisse aus anderen Bezugswissenschaften werden aus verschiedenen Perspektiven der Psychoanalyse unterschiedlich beschrieben:
• Aus empirisch wissenschaftlicher Perspektive ist die Entwicklungspsychologie eine wichtige Möglichkeit, klinische Arbeitsmodelle zu bestätigen.
• Aus hermeneutischer Sicht dienen entwicklungspsychologische Modelle als Grundlage für Theorien und Interventionen. Die Rekonstruktion einer individuellen Entwicklung kann sich dabei von empirisch gewonnenen Entwicklungsmodellen unterscheiden. Widersprüche bleiben dann ein Anlass zu weiterer Nachforschung.
• Aus der Sicht einer hermeneutisch-konstruktivistischen klinischen Arbeit können entwicklungspsychologische Konzepte als nicht relevant für die psychoanalytische Behandlungspraxis betrachtet werden. Hier wird aus den Erinnerungen Erwachsener in der klinischen Arbeit kindliches Erleben rekonstruiert. Ein so »rekonstruiertes Kind« und das »Kind der empirischen Entwicklungsforschung« haben dann wenig oder nichts miteinander zu tun.
Das Einnehmen einer entwicklungspsychologischen Perspektive ist in der klinischen psychoanalytischen Arbeit oft mit der Betonung eines aktiven lebenslangen Prozesses der Bewältigung von Konflikten verbunden. In der Gegenwart ist die Vergangenheit enthalten. Die Bewältigung vergangener Entwicklungsaufgaben stellt sich in der analytischen Situation dar und kann nachträglich neu und auch anders verstanden werden. Ein Verstehen der Verbindungen zwischen aktuellem Erleben in der analytischen Situation und der eigenen Entwicklungsgeschichte ergibt einen individuellen Sinn. Analysanden können Vergangenes dann umfassender reflektieren und brauchen es nicht mehr in alter Form zu wiederholen. Eine entwicklungspsychologische Perspektive ist daher nicht allein auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und auf eine Zukunft hin ausgerichtet.
• Entwicklungspsychologische Konzepte der Psychologie und der Psychoanalyse kennenlernen.
• Übergreifende entwicklungspsychologische Annahmen in der Psychoanalyse beschreiben können.
• Unterschiedliche Auffassungen von Entwicklung in den Psychologien der Psychoanalyse (Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie, Bindungstheorie und strukturale Analyse) miteinander in Beziehung setzen können.
• Heuristische Bedeutung von Entwicklungstheorien für Therapien erkennen.
• Empirische Kritik an den psychoanalytischen Entwicklungstheorien kennen.
Klinisches psychoanalytisches Arbeiten ist ohne ein Wissen um die gesunde und beeinträchtigte Entwicklung des Menschen nicht gut möglich. Zweifel und Nichtwissen bleiben. Entwicklungspsychologische Konzepte können für psychodynamische Überlegungen oder subjektive Krankheitstheorien nicht »wörtlich genommen« werden. Erkenntnisse aus der klinischen Situation, die retrospektiv für Therapeuten und Patienten eine überzeugende Kausalität aufweisen (und damit möglicherweise intersubjektiv und als Einsicht klinisch wirksam sind), können in prospektiven Untersuchungen nur einen geringen oder keinen Einfluss zeigen. Die »Überdeterminierung« (Freud, 1895) menschlichen Erlebens und Verhaltens (es gibt in aller Regel vielfache und zusammenwirkende Ursachen, kaum je eine einzelne, die ein Verhalten bestimmt) führt im konkreten Fall zu einer hohen Komplexität und Ungewissheit. Empirisch wissenschaftliche Aussagen sind daher in ihrer Generalisierung auf konkrete Patienten ebenso mit Vorsicht und Kritik zu betrachten wie am Einzelfall gewonnene klinische Schlussbildungen in Hinsicht auf die Entwicklung von allgemeineren Konzepten.
Neue Forschungsbefunde können unsere Sicht auf klinische Phänomene verändern. Sie regen zu neuen Konzeptualisierungen an und schaffen Verbindungen zwischen dem »Kind der empirischen Entwicklungsforschung« und dem »aus der klinischen Situation konstruierten Kind«. Implizite und explizite Theorien zur Entwicklung beeinflussen als Vorannahmen von Therapeuten klinisches Verstehen und Handeln.
Emde (2011) beschreibt Entwicklung als einen »fortwährenden, lebenslangen Prozess, der nicht nur eine Vergangenheit hat, sondern auch in der Gegenwart existiert und sich auf eine Zukunft zubewegt. Der Blick ist dabei nach vorn gerichtet« (S. 779). Aus der Sicht eines Individuums zeigt sich der »nach vorn gerichtete« Blick im Begriff des »Wunsches«, der heute entwicklungsbezogene Aspekte des Triebbegriffs aufnimmt. Psychoanalytische Konzepte tragen dazu bei, empathisch die Sichtweise von anderen Menschen nachzuvollziehen und verstehen zu lernen. So steht in der Psychoanalyse inhaltlich das subjektive Erleben des Einzelnen im Fokus der Aufmerksamkeit, das methodisch auch über Einfühlung und Selbstreflexion erschlossen wird. Daten werden vorwiegend aus der Perspektive eines Patienten (seiner Selbstwahrnehmung) erfasst (siehe aber unten zur Frage von Konflikt und Strukturmodellen). Die akademische Entwicklungspsychologie dagegen beobachtet Kinder vorwiegend aus einer um Objektivität bemühten Position und gewinnt ihre Daten aus Fremdwahrnehmungen. Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung erfassen Unterschiedliches (McClelland et al., 1989). Es trägt zu Verwirrung bei, dass diese zwei Datenquellen begrifflich oft nicht unterschieden werden. Moderne Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie verbinden und integrieren Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Der »konstruierte Säugling« im Sinne des subjektiv erlebenden Säuglings, haucht dem »empirisch beobachtbaren Säugling« Leben ein.
Akademische und psychoanalytische Entwicklungspsychologie beschäftigen sich beide mit der Beschreibung, Erklärung und der Vorhersage und Beeinflussung menschlichen Erlebens und Verhaltens. Sie untersuchen Veränderungen über die gesamte Lebensspanne hinweg. Fragt man Menschen, wie sie sich erklären, dass sie so »geworden« sind, wie sie sind, dann werden vor allem die Erfahrungen in der Familie, Partnerschaft oder mit Freunden genannt, die ihre Entwicklung beeinflussten. Genetik, kulturelle Faktoren und einschneidende Lebensereignisse spielen ebenfalls eine Rolle. Konzepte dazu greifen auf unterschiedliche Modelle zurück:
Stufenmodelle der Entwicklung gehen von einem linearen Verlauf aus – deutlich etwa bei den psychosexuellen Entwicklungsstufen Freuds, den Entwicklungskrisen von Erik Erikson oder der Entwicklung des moralischen Urteils. Auch hier bleibt aber »Altes« erhalten und kann bei entsprechenden Auslösern »regressiv« wieder in den Vordergrund treten. Nicht alle Entwicklungsphänomene lassen sich gut als stufenförmig verlaufend darstellen. Abzweigungen und Fehlentwicklungen müssen berücksichtig werden. So werden Stufenmodelle zunehmend durch komplexere Konzepte ersetzt. Während noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts das Bild vorherrschte, die menschliche Entwicklung sei mit der Adoleszenz abgeschlossen (ein Stufenmodell), gehen wir heute davon aus, dass Menschen ihr ganzes Leben lang lernen und sich verändern. »Entwicklungslinien« und ihre wechselseitige Beeinflussung sind dann zu beschreiben. Die wechselseitige Beeinflussung dieser Entwicklungslinien führt zum Einbezug unterschiedlicher Wissenschaften. Die moderne Entwicklungspsychologie ist daher interdisziplinär angelegt. Sie nutzt Erkenntnisse aus Genetik, Neurowissenschaften, Sozial-, Kultur- und Sprachwissenschaften.
Das Modell einer »sukzessiven Konstruktion« beschreibt, dass jede Entwicklung auf zuvor entwickelte Voraussetzungen aufbaut. Höhere Stufen sind also komplexer und integrieren Elemente und Relationen der vorherigen Stufen. Dieses Modell gilt besonders für die kognitive Entwicklung und die Entwicklung sensomotorischer Fähigkeiten. Das Modell der Sozialisation geht dagegen davon aus, dass Entwicklung durch Anleitung und Anforderung, Information und Belehrung, durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern, durch Bestrafung und Belohnung voranschreitet. Dieser Prozess wird durch Familie, Freunde, Schule, Beruf und Medien gestaltet und findet in einem Spannungsfeld zwischen Aneignung kultureller Normen, der Entwicklung von Reflexionsfähigkeit und der eigenen Identitätsgestaltung statt.
Für psychoanalytische Entwicklungspsychologien ist die Fokussierung auf das subjektive Erleben eines Menschen charakteristisch. Ein subjektiver »Sinn« von Entwicklung wird vorausgesetzt und in Therapien erkundet. Dies kann als das Verfolgen einer besonderen Entwicklungslinie verstanden werden – etwa als Entwicklung des »Selbst« in Abgrenzung von und Interdependenz mit biologischen und sozialen Entwicklungslinien. Innerhalb dieser Entwicklungslinie werden stufenförmige Modelle verwendet; zugleich kann auf »Altes« nachträglich Einfluss ausgeübt werden. So wird zum Beispiel mit dem Konzept von Entwicklungsstufen und sensiblen Perioden davon ausgegangen, dass ein bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss, damit Erfahrungen bestimmte Wirkungen haben können. In der Psychoanalyse wird dies mit dem Konzept der »Nachträglichkeit« aufgegriffen: Mit neuem Wissen kommt es zu einer »nachträglichen« Reinterpretation von Erfahrungen. Dieser Vorgang kann Symptome hervorrufen – wenn Wissen in einer auslösenden Situation plötzlich einsetzt und zugleich abgewehrt wird. Er kann aber auch dazu beitragen, Symptome wieder aufzulösen. In Therapien werden unglückliche Erfahrungen dann z. B. nicht mehr vorwiegend als das Leben dauerhaft prägende Traumata erlebt, sondern als Erfahrungen, die überlebt und überstanden wurden.
Die Parallelität von somatischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklungen und die wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklungslinien voneinander führt zu »sensiblen Phasen« für den Erwerb vieler Kompetenzen. Wird eine solche Phase nicht genutzt, werden bestimmte Fähigkeiten nicht oder nur stark eingeschränkt erworben. Es gibt »Fenster der Entwicklung« für bestimmte Fähigkeiten. Mit diesen Fenstern ist auch eine Verletzlichkeit der Entwicklung verbunden, wenn ein Entwicklungsschritt aus biopsychosozialen Gründen nicht zeitgerecht erfolgt ist.
Ein Kind, das in seinem ersten Lebensjahr unter schwer vernachlässigenden Bedingungen aufgewachsen ist, macht nicht die Erfahrung, von wichtigen anderen Menschen »gehalten« zu werden. Diese Erfahrung und ein damit einhergehendes »Urvertrauen« kann es später nur noch eingeschränkt nachholen. Es hat gelernt, sich nur auf sich allein zu verlassen – um zu überleben. Kognitiv reifer schreibt es sich in späteren Entwicklungsphasen das Erleben, von anderen Menschen gehalten zu werden, selbst zu (z. B. in einer liebevollen Adoptivfamilie, in die es im dritten Lebensjahr gegeben wird). »Gehalten zu werden« wird im eigenen Erleben zu einem Erfolg der eigenen Liebenswürdigkeit, der gekonnten Manipulation anderer oder der Anpassung an Erwartungen. Es bleibt damit an das eigene Verhalten gebunden und führt tragischerweise trotz guter späterer Erfahrungen nicht mehr zu einem Vertrauen in andere Menschen (keine Bindungsentwicklung mehr).
Die verschiedenen »Psychologien« innerhalb der Psychoanalyse unterscheiden sich in vielen Aspekten (
Kap. 2.2). Einige Annahmen werden aber in ihren entwicklungspsychologischen Konzepten weitgehend geteilt:
• die Annahme von Kausalität in den Erzählungen eines Menschen;
• die Hypothese, dass aktuelle Verhaltensweisen und Symptome mit der Verarbeitung vergangener Erfahrungen zusammenhängen – eine Entwicklungsperspektive;
• das Konzept des Unbewussten – eines Wissens, auf das Menschen nicht aktiv zugreifen können und das ihr Erleben und Verhalten beeinflusst;
• die Betrachtung von Entwicklung als nicht abschließend und nicht linear – Altes bleibt erhalten und kann – regressiv – wieder aktiviert werden.
Als theoretische Grundlagen psychoanalytischer Therapien sind diese Annahmen wiederholt überarbeitet und erweitert worden. Sie sind vielfach als Konzepte in das Allgemeinwissen eingegangen und nicht mehr auf therapeutisches Fachwissen beschränkt.
Unterschiedliche Weiterentwicklungen setzten dabei ihre je eigenen Schwerpunkte. So stellen manche Autoren das Vorliegen einer – mehr oder weniger – einheitlichen psychoanalytischen Entwicklungstheorie in Frage. Der kommende Abschnitt schaut daher auf die verschiedenen »Schulen« der Psychoanalyse und ihre jeweiligen entwicklungspsychologischen Schwerpunktsetzungen. Er versucht, eine integrierende Perspektive zu erreichen.