Die Handlung und die Personen des vorliegenden Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Verwendung von Namen bestehender Institutionen, Einrichtungen oder Unternehmen ist schöpferisches Stilmittel. Der Autor hat zahlreiche Quellen für die Recherche genutzt und beabsichtigt keine persönlichen Ansprüche verletzen zu wollen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Susanne Erhard
Autorenfoto: Ralf Erhard by Delightphotos
Reihe: Edition Sunrise
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-9272-8
„Nicht jetzt“, flüsterte ich, „aber hier“
Die Pferde trotteten müde den vertrauten Weg hügelabwärts, während in mir die Lautlosigkeit alles erstickte. „Nicht jetzt.“
Ein Teil von mir wartete auf eine Regung, während wir durch die frühlingshafte Dunkelheit ritten, mechanisch Schritt für Schritt. An der Straße raste ein Auto heran, ich erschrak. Diesen Lärm und Geschwindigkeit war ich nicht mehr gewohnt. Auch die Pferde zappelten kurz, dann setzte Askan beherzt seine Hufe auf den glatten Asphalt. Keine Römerstraße.
In Kenels leuchteten Lampen in den Stuben der Höfe, von Ottaker her scholl der Klang der Kirchenglocke. Ich atmete, fühlte die seltsame Vertrautheit einer Welt, die einstmals zu mir gehörte. Es roch nach frischem Gras, irgendwo muhte eine Kuh. Hundegebell, Traktorengebrumm. Die Geräusche eines ländlichen Abends.
Auch dieses Mal schlugen die Pferde den gewohnten Weg nach Hause ein. Für sie änderte sich nicht viel, für mich alles. Aber ich fühlte es noch immer nicht. Da war ein Vakuum in meinem Kopf. Mein Herz wie ein geborstener Atomreaktor mit Stahlplatten ummantelt. Der Schotter knirschte unter ihren Hufen, als wir die Einfahrt zu meinem Haus erreichten, alles war dunkel. Ivo würde mich nicht erwarten und das Herdfeuer würde nicht brennen.
Wie ferngesteuert rutschte ich von Askans Rücken, öffnete das Gatter des Auslaufs, drückte auf den Lichtschalter an der Stallwand. Aber nichts geschah, nur das Klacken klang unnatürlich neben dem Gesang einer Drossel auf dem Dach des Stalles. Kein Strom. Die Schizophrenie des Momentes ließ mich innehalten. Natürlich kein Strom, so etwas brauchte kein Mensch. Wozu elektrisches Licht, wenn die Sterne über einem leuchteten?
Aber über mir war es dunkel, nur die Wolken am westlichen Himmel reflektierten die Lichter von Kempten. Wie oft hatte ich in den vergangenen Monaten nach Westen geschaut? Wie oft den Himmel nach den Kondensstreifen von Flugzeugen abgesucht, wie oft mechanisch nach einem Lichtschalter neben der Haustür getastet? Und jetzt gab es keinen Strom.
Verwirrt schaute ich mich um. Gras wuchs zwischen den Platten des Auslaufes, die Stalltür war von irgendjemandem verschlossen worden, genau wie die Fensterläden am Haus. Mein Blick wanderte zur Tränke, die natürlich leer war, das Wasser vermutlich abgestellt.
Der Druck in meinem Kopf nahm zu, mein Hirn schien immer weiter anzuschwellen, die Stille, die keine war, brach über mich herein. Draußen auf der Straße dröhnten mehrere Motorräder vorbei. Von Ottacker schepperten wieder die Glocken, die von Ried antworteten. Ich presste mir die Hände auf die Ohren, hörte den erstickten Schrei, der sich aus mir herausquälte. Die Pferde machten einen Satz zur Seite. Solche Geräusche kannten sie von mir nicht. Keuchend holte ich Luft. Wasser, dachte ich, Heu für die Pferde. Absatteln, aufräumen. Nicht denken, nicht fühlen, nur machen.
Argwöhnisch löste ich meine Hände von den Ohren, die Drossel trällerte noch immer selig auf dem Giebel. Sie erinnerte mich an die Drossel, die damals am Ende des Winters ein Lied von Hoffnung sang, als wir alle nicht mehr viel Hoffnung übrig hatten. Nein, Hoffnung gab mir ihr Lied in diesem Moment nicht, aber gerade so viel Kraft, dass ich tun konnte, was ich tun musste.
Mit zitternden Fingern löste ich die Gurte von Askans Sattel, nachdem ich die Tunika mit Räucherschale behutsam vor dem Auslauf abgelegt hatte. Das war alles, was mir von Ivo blieb. Ich legte mein Gesicht auf das Leder des Sattels in meinem Arm, gab mich für einen Atemzug lang etwas wie Schmerz hin. Einen Schmerz, den ich nicht fühlte, obwohl ich mich nach ihm sehnte.
Heu aus der Futterkammer hereinschieben. Es roch alt, aber anderes hatte ich nicht. Im Dunkeln tastete ich mich hinterm Stall zum Wasserhahn, den ich mit letzter Kraft und einem wüsten Fluch aufdrehte. Die Dichtung hielt dem plötzlichen Druck nicht Stand. Eine Fontäne schoss mir entgegen, Wasser tropfte mir die Wangen hinunter, wie die Tränen, die ich nicht weinen konnte. Still wischte ich mir mit den Ärmeln über mein Gesicht, ahnte die Dreckspur auf dem Leinen meines Hemdes.
Mit dem Sattel und meiner Tunika schlurfte ich zum Haus hinüber, auch hier wucherten Gras und Unkraut zwischen den Kieseln, der Wind hatte altes Laub vor der Tür angehäuft. Achtlos schob ich es zur Seite, wühlte im Unkraut unter dem großen Stein neben der Tür nach meinem Haustürschlüssel.
Erst als ich mich aufrichtete, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken, sah ich das Polizeisiegel. Sekundenlang starrte ich es verständnislos an, dann ratschte ich entschlossen mit dem Schlüssel darüber und schloss die Tür auf. Dieses Haus gehörte mir.
Kalte, muffige Luft schlug mir entgegen, auch hier machte der Lichtschalter nichts als ein abweisendes Klack. Ich fröstelte, was nicht nur daran lag, dass ich durchnässt und übermüdet war. Das Licht der Straßenlaterne schimmerte auf der einen Seite schwach durch die Bäume, erhellte dem Raum notdürftig.
Es schien, als sei ich nie fort gewesen, sogar meine Teetasse stand noch auf dem Esstisch, der Teelöffel daneben, meine Notizen, die ich mir während des Telefonates mit dem Versicherungsmakler schrieb. Selbst der Kugelschreiber lag so, wie ich ihn entnervt hingeworfen hatte.
Langsam ließ ich den Sattel auf den alten Fliesenboden gleiten, stellte die Schale mit der Tunika vorsichtig auf den Tisch, während mein an die Dunkelheit gewöhnter Blick durch das Zimmer glitt.
Das gesamte Untergeschoss war ein einziger Raum, nur geteilt von den jetzt offenen Balken des früheren Fachwerkes. Küchenzeile, Sitzecke, Schreibtisch, mein alter Fernseher, Stereoanlage. Über allem lag die Staubschicht von sechs Monaten. Meine Zimmerpflanzen fehlten. Die Fensterbänke waren unfreundlich kahl.
Mich schüttelnd trat ich zurück in den kleinen Flur, wo der Sicherungskasten war. Die Hauptsicherung war abgeschaltet. Mit absurder Normalität legte ich den Schalter um. In meinem Kopf rasten zwei Leben konfus durcheinander, Ivo, Cedric, der Alamanne und hier ein unbewohntes, leeres Haus, das an gleicher Stelle, aber fast zweitausend Jahre später mein Leben ausmachte.
Fahrig drückte ich erneut den Lichtschalter neben der Stubentür, schloss in gleicher Sekunde geblendet die Augen. Elektrisches Licht war nichts für jemanden, der Öllampen und Kerzen gewöhnt war. Es musste ohne gehen.
Irgendwo lagen Streichhölzer, die mir in den letzten Monaten so oft gefehlt hatten. Sie hätten Ivo gefallen, Cedric noch mehr und zündete die Kerzen auf dem Esstisch an. Die Stimmung wurde noch unwirklicher und kein bisschen einladender.
Erschöpft ließ ich mich auf meinen angestammten Stuhl sinken, schob mit letzter Kraft die alte Tasse zur Seite und legte meinen Kopf auf die staubige Tischplatte. Zuviel.
Vergangene Nacht war ich in der Gewalt des Alamannen vor Angst schier gestorben, hatte jede Hoffnung aufgegeben Ivo jemals wiederzusehen. Und ich würde ihn tatsächlich nie wiedersehen, weil er mich fortgeschickt hatte. Einfach nach Hause geschickt.
Fühlte man sich so, wenn der Transporter der Enterprise nicht alle Teile mitgeschickt hatte? Welche Teile von mir waren mitgereist? Was war bei Ivo geblieben und welche Stücke von mir waren irgendwo dazwischen verloren gegangen? Verstört lauschte ich auf das dumpfe Rauschen in meinen Ohren und das überstürzte Hämmern dessen, was einmal mein Herz in meiner Brust gewesen sein musste. Darüber schlief ich ein.
Mit steifem Nacken und diesem untrüglichen Gefühl einer unfassbaren Katastrophe erwachte ich. Die Kerzen waren heruntergebrannt, ihre Flammen zuckten mit letzter Kraft in einer Lache aus Wachs und draußen schien es noch immer finstere Nacht zu sein. Beltane. Meine Hochzeitsnacht, die ich ohne meinen Mann verbrachte. Ich war mir sicher, dass auch Ivo allein war.
„Ivo?“
Ich lauschte in die nächtliche Stille, die abrupt von einem vorbeifahrenden Auto durchbrochen wurde. Stöhnend stemmte ich mich von Stuhl. Alles an mir tat weh, innen und außen. Wund, geschunden, kaputt. Der Schnitt in meiner Hand pochte. Ich sollte ihn dringend säubern.
Mich am Türrahmen abstützend torkelte ich zur Treppe ins Obergeschoss. Aber nach einem Blick hinauf war mir klar, dass ich dort oben in meinem Schlafzimmer garantiert noch einsamer sein würde. Ich lehnte mich zögernd an die Stubentür, schlurfte dann entschlossen zum Sofa zurück, auf dem meine Wolldecke lag. Wenigstens im Stall schien alles ruhig. Mich zusammenrollend zog ich die Wolldecke über mich.
Immer wieder dämmerte ich in einen von Traumfetzen durchzogenen Halbschlaf hinüber, aus dem mich das abwechselnde Gebimmel der Kirchenglocken und der Höllenlärm der Autos herausrissen. Ivo am Strick hängend, die staubige Straße, die schlagende Hand des Alamannen. Dann war da Cedric, der mich lächelnd in Nebel auflöste.
Bei Morgengrauen wurde ich endgültig, nicht zuletzt von meinem eigenen ungewaschenen Gestank, wach. Beim Versuch aufzustehen fiel ich vom Sofa, blieb verstört auf dem Holzboden liegen, wartete auf Tränen. Ich wusste, sie würden mir einen Moment der Erleichterung bringen, vordergründig zwar, aber immerhin. Doch meine Augen blieben trocken.
Minutenlang regte ich mich nicht, bis mir klar wurde, dass mein Leben nicht dadurch besser wurde, dass ich am Boden liegen blieb.
„Besser wird es grundsätzlich niemals mehr“, fluchte ich in die Dämmerung hinein und stemmte mich halbherzig auf. Vielleicht wäre es im Nachhinein eine Gnade gewesen, wenn Ivo und ich zu Tode gekommen wären. Im Tode vereint schien mir allemal besser, als im Leben getrennt.
Mein Magen knurrte und auch wenn ich keinen Gedanken an Essen verschwendete, so hatte mein Körper andere Vorstellungen. Und während ich da auf den alten Dielen hockte und zwischen sterbensunglücklich und halb verhungert schwankte, wurde mir schlagartig die materielle Konsequenz meiner unfreiwilligen Heimreise bewusst.
Um zu essen brauchte man Lebensmittel, die es heutzutage nur zu kaufen gab und dafür brauchte man Geld. Geld bekam man aber nur, wenn man arbeitete und ich hatte seit sechs Monaten keine Einkünfte mehr. Theoretisch mussten aber auf meinen Konten ein paar Ersparnisse schlummern. Nach und nach erinnerte ich mich an EC-Karten, Kreditkarten, Krankenkarte, Kontonummern und Onlinebanking. Führerschein und Personalausweis.
Gedankenverloren humpelte ich zum Vorratsschrank, bemerkte dabei, dass der Kühlschrank leer und abgetaut offen stand. Wer war hier gewesen? Warum hatte die Polizei mein Haus versiegelt?
Im Vorratsschrank fand ich ein paar Packungen Nudeln, Reis und Kartoffelbrei. Und eine Dose Kekse. Zum Glück noch verschlossen. Ich riss die Dose auf, schnupperte den fettigen Geruch von Butterplätzchen. Mir wurde schlecht, trotzdem stopfte ich mir einen der Kringel mit Streuzucker in den Mund, kaute. So süß hatte ich seit Monaten nicht mehr geschmeckt, angewidert verzog ich das Gesicht. Aber mein Magen war glücklich.
Mit einem Keks in der Hand trat ich vor die Tür, draußen regnete es in Strömen, die Pferde standen halb im Stall. Ich musste dringend nach Askans Hufen und Beinen schauen, die sich nach dem Gewaltritt mit dem Alamannen in keinem guten Zustand befanden. Ein Wunder, dass er nicht lahm ging. Achtlos trat ich in den Regen. Mein dreckiges Leinenhemd klebte sofort an mir, was mich erneut unschön an den Alamannen erinnerte, aber hier würde mich niemand sehen.
Ich warf noch mehr von dem alten Heu in die Raufe, suchte dann meine Hufraspel in der Sattelkammer, die ebenfalls mit einem Polizeisiegel verklebt war. Viel Horn gab es nicht mehr an Askans Füßen, wenigstens waren die Hufe nicht warm und seine Sehnen schienen auch keinen Schaden genommen zu haben. Zähes Pony.
Die Arbeit bei den Pferden beruhigte mich ein wenig, war so vertraut durch alle Zeiten. Ich sammelte den Mist zusammen, schob die moderne Schubkarre zum Misthaufen, den irgendjemand weggeräumt hatte und stand dann planlos im Stall. Mir war klar, dass ich mich hier wieder einfügen musste, aber ich wusste nicht wie und ich wollte nicht.
Sehnsucht nach Ivo zerfraß mich mit jedem Atemzug. Trotzdem fühlte ich mich innerlich wie versteinert, dumpf, hohl. Draußen auf der nassen Straße rasten die Autos vorbei, Traktoren, der Schulbus hupte beim Nachbarhof, Glocken schlugen viertelstündlich. Es war alles so laut.
Sehnsüchtig lauschte ich auf die Geräusche des morgendlichen Dorfes in mir. Hähne krähten um die Wette, fröhliche Kinderstimmen, ein übermütiger Hund bellte, während die Kühe muhend auf die Melker warteten. Ich schloss die Augen, sah unser Haus im Frühlingslicht, sah Ivo zum Brunnen gehen. Und wieder wartete ich auf Tränen, doch nur das Regenwasser lief mir über mein Gesicht. Der Himmel weinte für mich.
Es half nichts. Da war kein Dorf, seit Jahrhunderten gab es hier keines mehr, nur mein Haus und den Nachbarhof ein wenig die Straße hinunter. Vermutlich hatten die irgendwann festgestellt, dass ich verschwunden war und die Polizei geholt. Vroni, die Bäuerin, wusste, dass mein Hausschlüssel unter dem Stein neben der Tür lag.
Durch den Regen und den aufgeweichten Weg schlurfte ich zum Haus zurück, schob mit dem Fuß die Stapel alter, jetzt aufgeweichter Werbezettel zur Seite, die aus meinem Briefkasten herausquollen. Drinnen stapelte ich Holz im Kachelofen, denn mir war kalt und ich musste wohl oder übel irgendwann etwas Warmes essen. Eigentlich hätte ich nur den Herd benutzen müssen, doch auf die Idee kam ich nicht.
Ich wusch mich mit kaltem Wasser vor dem Ofen, schrubbte danach meine Kleider, auch die Tunika, aus der ich aber die Blutflecke nicht herausbekam. Sie roch sacht nach Cedrics Räucherkräutern.
Den Sattel legte ich in eins der Gefache, setzte mich an den Tisch, wo ich reglos Stunde um Stunde verbrachte und in die Flamme der Kerze starrte. Nur mit aller Kraft konnte ich mich aufraffen, um den Pferden neues Heu zu bringen, es regnete ohne Unterlass, die Wolken hingen tief über dem Rottachrücken. Ich aß ein paar Kekse, trank lauwarmen Tee, der nach nichts schmeckte. Voller Wehmut spürte ich dem Geschmack von Ingruns Kräutertees nach, Mädesüß und wilde Minze, Holunderbeeren.
Bei Anbruch der Dämmerung kramte ich Wolldecken aus dem Schrank im Flur und richtete mir ein Lager am Ofen. Ich konnte noch immer nicht ins Obergeschoss gehen. Bad und Schlafzimmer waren zu viel für mein antikes Selbst.
Im Halbschlaf dämmerte ich durch die Nacht. Wann immer ich tiefer einschlief sah ich Ivo am Strick hängen, während er mir seltsam nah war, wenn ich vermeintlich wach dalag. Nicht schlafen.
Tags drauf ging Askan lahm, drei von vier Beinen waren warm und dick. Ich saß hilflos im Paddockmatsch. Es regnete nach wie vor. Was sollte ich tun? In einem anderen Leben hätte ich mein Handy gezückt und den Tierarzt meines Vertrauens angerufen, doch ich wusste nicht wo mein Handy war, geschweige denn, ob es überhaupt noch angemeldet war. Und allein die Vorstellung eines modernen Menschen in meiner Nähe überforderte mich total, wo ich doch verzweifelt versuchte einen Hauch meines Lebens mit Ivo zu retten. Dem hier wollte und konnte ich mich noch nicht stellen. Askan musste anders geholfen werden.
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen, ließ mich halb ins Heu fallen. Was hätte Ingrun getan? Womit hätte Mara das Pferd behandelt? Was davon könnte ich hier auftreiben? Bein zu Bein, hatte Mara immer gemurmelt, Beinwell und Weidenrinde gegen Entzündungen, Bärlauch. Wickel aus Wegerich und kühlen.
Beinwellsalbe und Arnika hatte ich womöglich noch in meinem Medizinkasten im Bad. Ich schluckte angestrengt. Auch Ingrun hatte ihre Kiste immer parat gehabt. Weidenrinde konnte ich am Bach vom Baum schneiden und Wegerich gab es genug auf den Koppeln.
Mühsam rappelte ich mich auf, auch meine körperliche Verfassung hätte sicher manchen Arzt blass werden lassen und schlüpfte unter dem Holzzaun des Auslaufes hindurch auf die angrenzende Koppel, wo ich nach den Kränzen des Breitwegerichs suchte und die mittelstarken Blätter vorsichtig abpflückte. Wie hatte Mara beim Kräutersammeln immer gesagt? Nimm nie die jungen Blätter, denn die sichern den Fortbestand und nicht die alten, denn die sind verbraucht.
Im Garten fand ich tatsächlich auch noch ein paar Bärlauchpflanzen. In der Küche suchte ich minutenlang nach meinem Mörser, bis mir einfiel, dass der nicht in dieser Küche seinen Platz hatte. Also griff ich mir das alte Rollholz und zermatschte die Blätter zu einem Brei, den ich in alte Handtücher einschlug und im strömenden Regen um die verschlammten Beine meines Haflingers wickelte, mit blauen Heuschnüren festschnürte und eine stumme Bitte an Mara und Cedric richtete, mir wie auch immer ihre Heilenergie zu schicken.
Völlig durchnässt und ausgekühlt schlurfte ins Haus zurück. Als ich meine Kleider waren nach dem Waschen anzog, waren sie noch nicht wieder trocken gewesen, jetzt nach dem Regen tropften sie vor Nässe. Es half nichts, ich musste etwas Anderes anziehen.
Zögernd hievte ich mich die Treppe hinauf. Die Fensterläden waren in beiden Zimmern geschlossen, auch das Bad war dunkel. Gut so, dachte ich in Erinnerung vieler kalter Abende, wo ich alles für genau jenes Badezimmer und eine Wanne voll heißen Wassers gegeben hätte. Jetzt hatte ich sie und war auch nicht glücklich. Warum hatte Ivo mich fortgeschickt? Völlig überraschend ging ich in die Knie. Ivo. Meine Finger walkten den nassen Stoff meines Rockes, meine geprellten Knie schmerzten, aber ich konnte nicht aufstehen. Warum? Es war doch alles gut.
„Warum, Ivo?“, flüsterte ich in das Dämmerlicht meines unbewohnten Hauses. „Es fing doch gerade erst richtig an?“
Draußen donnerte ein Traktor vorbei, gefolgt von einem LKW. Fast schien es mir, als bebte das Haus unter dem Lärm, ich hielt mir die Ohren zu.
Was, wenn ich jetzt Selbstmord beging? Würde ich dann Ivo finden? Das Blut rauschte in meinen Ohren, ich hörte meinen Atem. Ein verlockender Gedanke, einer den ich schon in Gewalt des Alamannen gehabt hatte und verwarf, denn ich konnte meine Tiere nicht im Stich lassen. Meinen Kater hatte ich unfreiwillig verlassen. Wie es ihm wohl ging? Vermisste er mich? Ich vermisste ihn sehr.
Ein weiteres Mal stand ich notgedrungen auf, öffnete im halbdunklen Schlafzimmer meinen Kleiderschrank, zerrte eine Jeans, T-Shirt und Pullover aus den Fächern. Hosen hatte ich auch vermisst. Socken aus der Schublade, einen Slip. Seit einem halben Jahr hatte ich so etwas nicht mehr getragen und wiederum nicht vermisst, aber es musste wohl sein.
Hastig zog ich mich an, doch als ich den Knopf der Jeans schloss, rutschte mir die Hose von den Hüften. Verwirrt starrte ich den Haufen Stoff um meine Beine an. Diese Jeans war mir immer zu eng gewesen. Auch Shirt und Pullover schienen von einer anderen Frau getragen worden zu sein, ich jedenfalls passte nicht wirklich hinein.
Mit den Kleidern in der Hand trat ich unsicher vor den Spiegel neben dem Bett. Eine dünne Frau blickte mir im Dämmerlicht aus übergroßen, übermüdeten und unsagbar traurigen Augen entgegen. Blaue Augen konnten so schon leuchten, doch diese waren komplett tot. Ihr dunkelbraunes Haar hing ihr in einem halb aufgelösten, verzottelten Pferdeschwanz weit über den Rücken. Ihr Körper war übersäht mit Blutergüssen, die in allen Farben schillerten.
Das also war ich nach einem halben Jahr Leben in der Antike. Ich schloss die Augen. Hatte Ivo mich deswegen fortgeschickt? Gefiel ich ihm so dürr nicht mehr? Oder konnte er die Verletzungen nicht ertragen? Ich jedenfalls fand mich scheußlich. Dieses Bild hatte nichts mit der Winterkönigin im Kupferspiegel zu tun, so sinnlich und schön.
Krampfhaft atmete ich tief ein. Es half alles nichts. Ivo sagte damals beim Anblick der alamannischen Feuer auf der anderen Illerseite, dass er mich lieber eigenhändig töten würde, als mich lebend in deren Gewalt zu wissen. In Loja konnte er mich nicht beschützen.
Langsam und sehr bewusst öffnete ich meine Augen wieder, der wilde Frühlingsmorgen in Loja war klar in meiner Erinnerung. Sie hatten Ivo schneller überwältigt, als wir die Situation erfassten. Und dann musste er mit ansehen, wie der Barbar mich misshandelte und wegschleppte. In seinen Augen hatte er umfassend versagt. Das wog auch meine Rettung nicht auf.
Langsam dämmerte mir, dass es für Ivo keinen anderen Weg geben konnte, um seine Ehre wiederzuerlangen, als mich endgültig in Sicherheit zu bringen und dafür musste er mich gehen lassen. Wegschicken. Was du liebst gib frei. Tragisch nur, dass ich keine Chance hatte, den zweiten Teil dieses Ausspruchs von Krishnamurti zu erfüllen. Ich wäre nur zu gern zu ihm zurückgekehrt um für immer bei ihm zu bleiben.
Ergeben drehte ich mich um, angelte einen Gürtel aus der untersten Schublade und schnürte mir die Jeans um die Hüften, T-Shirt drüber und Pullover. Der Schlabberlook kam nie so richtig aus der Mode.
Als wollte der Himmel meine Tränen weinen, regnete es die nächsten Tage permanent durch, feiner Frühlingssprühregen, der durch alle Klamotten drang, aus den gepflügten Feldern dampfte.
Mehrfach täglich wechselte ich Askans Wickel und meine durchnässten Kleider, wenn ich auf den Wiesen frischen Wegerich gesammelt hatte. Aber es ging ihm langsam besser. Beide Pferde fanden sich problemlos in ihr altes Leben ein, wo ich jede Minute haderte, mich verweigerte, nicht schlief und nicht essen konnte.
Im Haus war es auch fast eine Woche nach meiner Rückkehr noch immer dunkel, mir fehlte die Kraft, die Fensterläden zu öffnen, mich im Bad zu waschen. Mir war, als würde ich damit etwas akzeptieren, was ich nicht einmal in Gedanken ertragen konnte, auch wenn ich Ivo verstanden hatte und wusste, dass ich mich arrangieren musste, irgendwann. Aber nicht jetzt. Meine Existenz musste ich noch früh genug reaktivieren.
So verbrachte ich meine Tage am Tisch sitzend, in die Flamme der Kerze starrend und knabberte hin und wieder an einem der Butterkekse, um ansatzweise am Leben zu bleiben. Nachts lag ich vor dem Ofen auf den Wolldecken, wo ich im Halbschlaf dahindämmerte.
Nachts ereilten mich die Bilder der vergangenen Wochen, aber es wurde dadurch nicht leichter. Wenn der Morgen graute, hockte ich mich draußen vor dem Haus auf meine Bank, wartete im Regen auf die Sonne. Dann fragte ich mich manchmal, ob das alles wirklich geschehen war oder ob ich nicht einfach auf der Bank eingeschlafen war und geträumt hatte.
Aber im Haus lag der Sattel, hing das Zaumzeug am Haken und meine Kleider trockneten auf dem alten Gestell über dem Ofen, so wie Cedrics Räucherschale auf dem Esstisch stand. An meinem Körper trug ich die Male meiner Verschleppung, der Schnitt in meiner Hand schmerzte. Ich sehnte mich nach Ivos Umarmung und danach endlich zu weinen.
Als die Sonne tatsächlich an einem Morgen aufging, glühten die letzten Regenwolken mit orangenen Kränzen, die Erde roch frisch und ich hörte plötzlich die Vögel zwitschern. Ich fröstelte, zog die Wolldecke enger um meine Schultern, während ich zu den Pferden ging, die wie ich ihre Gesichter in die Sonne streckten und wohlig schnaubten. Ich verteilte das Heu, stellte erleichtert fest, dass Askan mit Appetit fraß, seine Hufe zwar vorsichtig, aber ohne Lahmen auf den Boden stellte.
„Das sollte ich auch endlich tun, Askan“, seufzte ich in seine dichte Mähne hinein, „endlich hinstehen und weiterleben. Aber ich bin so unendlich müde, so traurig. Ich sehne mich so sehr nach Ivo.“
Sanft rüsselte er mit seinem weichen Maul an meiner Wolldecke herum, zupfte an den Fransen. Askan war immer fröhlich, war immer bereit allem eine Chance zu geben, ein super Ding zu sein. Jeder Tag war toll. Ich bewunderte ihn für seine unschrottbare Lebensfreude, die mir nicht immer gegeben war und auch jetzt zauberte er mir das erste Lächeln seit Jahrhunderten ins Gesicht.
Entschlossen verließ ich den Auslauf. Es war an der Zeit, endlich die Fensterläden zu öffnen. Ivo wollte, dass ich lebte, also sollte ich es aus Liebe zu ihm auch tun.
„Ich liebe dich, Ivo“, flüsterte ich in den Wind, suchte den Punkt auf der Wiese, wo zu einer anderen Zeit die mächtige Eiche den Dorfplatz markierte, blickte zu Cedrics und Oswins Häusern hinüber, um mich dann bewusst umzudrehen. Ich sah den alten Eingang zu unserem Haus, sah die drei Stufen mit der kleinen Veranda und dem Weidenzaun, hinter dem mein weniges Gemüse wuchs. Langsam wanderte mein Blick in die unvermeidliche Gegenwart, erkannte das Bauernhaus, das ich vor vielen Jahren als mein Heim gefunden hatte.
„Nicht jetzt“, flüsterte ich wieder, „aber hier.“
Mit einiger Anstrengung hebelte ich die Riegel aus den Fensterläden, die seit einem halben Jahr nicht bewegt worden waren und klappte sie zurück. Überall hingen Spinnenweben, klemmte altes Laub in den Scharnieren und Ritzen. Die Fenster waren staubig, ich würde sie putzen müssen.
Dann trat ich ins Haus, legte die Hauptsicherung um. Im Schlafzimmer hörte ich meinen Radiowecker fiepen, der Kühlschrank sprang brummend an und auch die Heizung rauschte im Nebenraum.
„Willkommen zuhause“, murmelte ich mit reichlich gemischten Gefühlen. Noch immer waren ein paar wichtige Teile von mir nicht eingetroffen. Ich war ein Flickenteppich der Frau, die ich irgendwann einmal gewesen war. Aber gut, ich zog mir meine übergroße Jeans wieder hoch und stapfte entschlossen in den Wohnraum, der mit den offenen Fenstern lichtdurchflutet vor mir lag. Staub tanzte in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Wieder holte ich tief Luft, musterte mein Zuhause. Hätte es Ivo so gefallen? Gönnte er mir den Luxus, den er nicht kannte?
Nachdenklich schaltete ich den Kühlschrank aus, denn den brauchte ich nicht. Es gab hier nichts, was gekühlt werden musste. Aufmerksam strich ich durch das große Zimmer, öffnete zwei Fenster zum Lüften, ordnete eine schiefe Gardine. Erst jetzt bemerkte ich die Bücher, die seit einem halben Jahr auf dem Tisch neben dem Sofa lagen, las ein paar Zeilen und erinnerte mich an die Geschichte. Ich kam mir vor wie jemand, der sein Gedächtnis verloren hatte und sich langsam wiederentdeckte. Es fühlte sich nicht gut an, aber aufhören durfte ich nicht. Dieses Leben hatte mir vor noch nicht allzu langer Zeit gefallen.
Mein Schreibtisch schien nach irgendetwas durchsucht worden zu sein, denn ich war mir sicher, dass ich ihn nicht so durcheinander zurückgelassen hatte. Da lag ein halb fertiger Artikel von mir zwischen Notizen zu einer Recherche, die ich im Auftrag bearbeitet hatte. Ein Stapel geöffnete Briefe, die ich nie gesehen hatte. Mein Notebook war zugeklappt, mein MP3-Player hing halb auf dem Boden. Und überall fehlten die Pflanzen an den Fenstern.
Das alles passte zu dem Polizeisiegel an meiner Tür. Ich war offensichtlich irgendwann vermisst worden. Von wem? Hatte mich jemand besucht und das Haus leer vorgefunden? War Vroni auf einen Plausch vorbeigekommen? Was hatten sie hier gesucht? Was konnte für die Polizei ein Hinweis sein, wenn jemand mit zwei Pferden verschwand?
Automatisch suchte mein Blick das Telefon, das seltsam unnahbar neben dem Schreibtisch auf der Fensterbank stand. Sollte ich meinen Anrufbeantworter nach einem halben Jahr abhören? Mir die Terminmahnungen meiner Auftraggeber geben? Besorgte Stimmen von meinen wenigen Freunden?
Oder sollte ich gleich meinen vermutlich überlaufenden Mailposteingang anschauen? Weder noch, dachte ich, mein Leben musste mich nicht an einem Tag zurückerobern. Rigoros drehte ich mich um. Unter Umständen hatte ich auch gar kein Netz mehr und keinen Telefonanschluss. Ein Blick in meine Handtasche im Flur musste reichen. Vielleicht fand ich dort auch mein Handy.
In meinem Geldbeutel fand ich zu meiner Erleichterung fast zweihundert Euro, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, was ich vor einem halben Jahr mit so viel Bargeld anstellen wollte. Verwundert starrte ich mein Foto vom Personalausweis an. So hatte ich ausgesehen. Fast pummelig, irgendwie streng.
Trotz diversen Kilos mehr hatte auch die Frau auf dem Foto nichts von der Sinnlichkeit einer Winterkönigin im Kupferspiegel. Aber sie musste Ähnlichkeit mit Ingrun gehabt haben. Ingrun. Ich bin Ingrun, dachte ich, aber ich bin auch Christin.
In meinem Geldbeutel fehlte nichts, Kreditkarte und EC-Karte steckten ordnungsgemäß in ihren Fächern. Ob mein Auto nach so langer Zeit anspringen würde? Ich musste wohl oder übel in absehbarer Zeit ein paar Lebensmittel organisieren. Schlimmstenfalls musste ich mit dem Rad nach Sulzberg fahren oder gleich nach Kempten. Mein Handy suchte ich vergebens.
Wo sollte ich überhaupt anfangen? Erschöpft setzte ich mich an den Tisch, blies die Kerze aus. Wie reaktivierte man seine Existenz? Musste ich mich bei der Polizei melden? Und was bitte, sollte ich denen erzählen?
Okay, dachte ich, drehte vorsichtig Cedrics Schale zwischen meinen Händen, als erstes brauchte ich eine stimmige Geschichte für mein Verschwinden, die ich jedem, der fragte erzählen konnte. Lügen war nur dann geschickt, wenn man so nah als möglich bei der Wahrheit blieb, keine unnötigen Ausschmückungen und nur eine Version.
Was konnte mir also passiert sein? Wie konnte eine Frau mit zwei Pferden für ein halbes Jahr spurlos verschwinden, ohne Papiere, ohne Geld und Gepäck? Das war eigentlich nicht möglich. Eigentlich. Aber mir war es passiert. Würde ich allerdings von Samhain, dem Licht und der Wolke oben an der Fliehburg erzählen und meinem Sturz durch die Zeit, dann fände ich mich vermutlich wenig später in der Bezirksklinik wieder.
Grübelnd tippte ich mit den Fingern gegen die Schale. Vielleicht war das genau die Story, die ich bringen konnte? Würde irgendjemand so indiskret sein und genauer nachfragen, wenn man verschämt von seinem Aufenthalt in der Geschlossenen berichtete? Die Pferde waren in einem Stall untergebracht gewesen. Depressionen und Burnout waren gesellschaftsfähige Erkrankungen. Als Singlefrau mittleren Alters, selbständig dazu, war ich in den Augen meiner Mitmenschen wahrscheinlich prädestiniert für derlei Psychokram.
Knackpunkt an der Geschichte war allerdings, dass sie selbst oberflächlichen Nachforschungen nicht standhalten würde, die Polizei mich sicher gefunden hätte. Wilde Konstrukte schwirrten in meinem Kopf herum, ein Zeichen dafür, dass ich langsam anfing wieder ich selber zu sein. Konnte ich wegen irgendetwas im Knast gelandet sein? Da würde so gut wie keiner genauer nachfragen, aber es war schlecht fürs Image. Plötzlicher Auslandsaufenthalt, kranke Mutter? Verdeckte Recherche?
Meine trommelnden Finger stoppten abrupt. So wahr wie möglich. Jeder kannte meinen latenten Hang als Journalistin zu merkwürdigen Themen. Es würde zu mir passen, wenn ich in einem mehrere Monate dauernden Selbstversuch ausprobieren würde, wie ein Mensch vor zweitausend Jahren gelebt hatte. Eine Art Survival. Dafür brauchte ich eine einsame Alpe ohne jeglichen Komfort, Handy, PC, Strom und warmes Wasser. Mit den Pferden einfach mal aussteigen. Keine Daunenjacke für mich, keine gefütterten Winterdecken für die Ponys.
Erleichtert patschte ich meine Hände flach auf den Tisch. Das war´s! So konnte ich auch meine ausgezehrte Figur erklären, mein Wissen über antike Lebensweisen. Und keiner konnte wirklich nachprüfen wo ich gewesen war. Alphütten gab es viele und die wenigsten waren winterfest. Perfekt! Ich stand auf und ging zum Schreibtisch, wo ich mit einer Liste der notwendigen Erledigungen anfing.
Als es dunkel wurde schaltete ich zum ersten Mal bewusst elektrisches Licht an. Blinzelnd stand ich mitten im Raum. Aber dieses Mal hielt ich Stand.
Dann trat ich zum Fernseher und schaltete ihn mit einer halbherzigen Bewegung an. Laute, schrille Bilder der Nachrichten sprangen mir entgegen. Ich schwankte, meine Hand ruderte erschrocken mit der Fernbedienung in der Luft herum, aber die richtige Taste fand ich nicht. Gebannt starrte ich auf die Trümmer eines entgleisten, brennenden Zuges, gleichzeitig zuckten die Flammen des brennenden Cambodunum durch mein Hirn. Wie so oft in den vergangenen Tagen vermischten sich die Zeitalter in mir, gaben mir ein Gefühl von Zerrissenheit. Aber es musste sein, ich musste das ansehen, denn hier war mein Leben. Cambodunum brannte schon lange nicht mehr. Heute war Kempten eine blühende Provinzstadt.
„Einundzwanzigstes Jahrhundert“, murmelte ich die Fernbedienung umkrampfend, „keine Alamannen.“
Unfähig meinen Blick vom Fernseher zu wenden, wo jetzt eine moderne, top gestylte junge Frau die weiteren Weltnachrichten verlas, fragte ich mich, wann genau die Alamannen Cambodunum überfallen hatten? Wie viele Jahrhunderte trennten mich von Ivo?
Nach meinen groben Berechnungen anhand der wenigen Ereignisse von denen Cedric berichtet hatte, war ich ins zweite, dritte Jahrhundert nach Christus geworfen worden. Tief einatmend schaltete ich den Fernseher aus, schloss kurz die Augen, unsicher ob das, was da als Gedanke in mir keimte wirklich eine gute Idee war.
Langsam wanderte mein Blick über die Bücherregale, Nachschlagewerke besaß ich genug, aber Geschichte hatte nie zu meinem Interessengebiet gehört, insofern würde ich dort kaum fündig. Mein Notebook lag zugeklappt auf meinem Schreibtisch. An was hatte ich vor einem halben Jahr gearbeitet? Ich wusste es nicht mehr, aber im Internet würde ich sicher Antworten auf meine Fragen finden, sofern ich noch über eine Onlineverbindung verfügte. Zögernd eierte ich zum Schreibtisch, strich scheu über den schwarzschillernden Kunststoff, bevor ich mit zittrigen Fingern das Display hochklappte und den Knopf drückte.
Das seltsam vertraute Surren, der Dreiklang der Windowsanmeldung, auch hier verstörend grelle Farben und tatsächlich erschien in der Taskleiste das Symbol der WLAN-Verbindung. Ich setzte mich mit angehaltenem Atem, klickte auf den Edge und tippte unsicher die erstbesten Begriffe, die mir einfielen in die Suchmaschine.
Cambodunum tauchte seitenweise auf, alle möglichen Firmen, Vereine schmückten sich mit dem alten Namen. Meine Atmung klemmte. Was würde ich finden? Wollte ich es wirklich wissen?
Musste ich es wissen? Ich nickte halbherzig vor mich hin und schielte zu meiner Whiskysammlung hinüber. Irischer Whisky. Wie sehr hatte ich in manchen Momenten die beruhigende Wirkung eines guten Glas Whisky vermisst. Entschlossen stand ich auf, schenkte mir auf weitestgehend nüchternen Magen ein Glas ein und trat wieder an den Schreibtisch. Es galt die Suche sinnvoll zu gestalten. Recherche war eines meiner Spezialgebiete.
Nachdenklich blinzelte ich den Bildschirm an, tippte dann erneut eine Kombination von Begriffen und fing an zu lesen. Die Fliehburg hielt man für eine Ruine aus der Zeit der Hunnenüberfälle. Ich grunzte abfällig. Sicherlich hatte sie auch da gute Dienste geleistet, aber definitiv war sie älter.
Nirgends aber war etwas über eine keltische Siedlung im Ried unterhalb von Ottacker zu finden, nur über Loja gab es ein paar spärliche Informationen, die Fundamente einer römischen Villa Rustica und Vermutungen über eine Römerstraße gen Süden.
In Sulzberg war schon in Vorrömischer Zeit Salz gesiedet worden, aber Siedlungsreste der Kelten hatte man auch hier nicht gefunden. Wie auch, dachte ich mürrisch und nahm einen großen Schluck, dort oben war alles sumpfig. Der Whisky rann warm und weich durch meine Kehle. Spontan fühlte ich mich entspannt und seltsam satt. Angenehm satt.
Und dann fand ich das Jahr des ersten großen Überfalls. Das Jahr in dem Cambodunum brannte. Das Jahr, in das mich Ingruns Tod katapultiert hatte. 233 nach Christus.
Minutenlang starrte ich die Zeilen an, die sachlich korrekt berichteten, wie die Alamannen immer öfter über den Limes einfielen, den Verfall der Legionen, bis es zur Zerstörung Cambodunums kam. Man hatte Hortschätze gefunden, oben in Steingaden, in Wiggensbach, Loja. Hastig auf der Flucht vergrabene Münzen, Schmuck. Die Römer hatten es nicht glauben wollen, bis es zu spät gewesen war. 233 nach Christus.
Darauf musste ich wieder mein Glas an die Lippen setzten. 233. Eine seltsame Zahl, so unspektakulär, irgendwie aber hübsch. Die Zahl, die mein Leben verändert hatte. Hinter der sich der Mann verbarg, mit dem ich gern alt geworden wäre.
Verwirrt registrierte ich, dass meine Augen anfingen zu brennen, dann spürte ich Feuchtigkeit, Tropfen auf meinen Wangen, ein nasser Schleier vor meinen Augen, der den Bildschirm verschwimmen ließ. Ivo. Für ihn hatte ich alles aufgegeben, was mein Leben ausmachte. Zuerst nicht freiwillig, dann aber umso freudiger. Der Schmerz rumpelte über mich hinweg wie ein Panzer. Nach Tagen erlöste mich die 233 aus meiner Erstarrung.
Ich heulte und schluchzte, barg mein Gesicht in den Händen. Es würde nie wieder gut werden. Die 233 trennte mich mit 1786 Jahren von Ivo. Das war so ungeheuerlich. Obwohl ich es erlebt hatte, dabei gewesen war, erschien es mir hier vor dem Bildschirm völlig unmöglich.
Schluchzend holte ich Luft und schenkte mir ein zweites Glas Whisky ein, wohl wissend, dass das nicht besonders schlau war. Ich musste mehr recherchieren, herausfinden, was es mit dieser 233 auf sich hatte. Was gab das Jahr archäologisch her? Ich hatte das Gefühl, als hinge von dieser Zahl mein Leben ab.
Im Schlaf stieß ich an mein leeres Whiskyglas, das klirrend zu Boden ging. Sofort hatte ich den Geruch in der Nase, musste würgen, was mich vollends aufweckte. Nur wusste ich nicht so recht, wo ich mich befand und wohin ich schnellstmöglich verschwinden sollte, damit ich nicht auf die Tastatur kotzte. Die immerhin sah ich direkt vor meinen Augen.
Als ich panisch aufsprang ging mein Kreislauf wie der Whisky zu Boden. Gebeugt, die Hände vor den Mund gepresst, stürzte ich automatisch zum Spülbecken, wo mein Magen verzweifelt versuchte irgendetwas von sich zu geben, damit es uns allen danach besser ging. Aber mit nur wenigen, mageren Keksen im Speiseplan hatte so ein Magen schlechte Karten.
Stöhnend kämpfte ich gegen die Würgekrämpfe an, ließ literweise kaltes Wasser über mein verheultes Gesicht laufen, bis es langsam besser wurde. Erschöpft rutschte ich mit dem Rücken den Küchenschrank hinunter, landete auf den alten Bodendielen, wo ich lange Zeit erst einmal nichts Anderes tat, als tief zu atmen.
Dann kam stückchenweise die Erinnerung zurück. Die 233 hatte mich aus dem Konzept gebracht. Die 1786 hatte mir den Rest gegeben. Oder der Whisky. Jedenfalls fühlte ich mich scheußlich.
Ich war 233 nach Christus in der Antike gelandet. Noch immer erschien es mir unbegreiflich, jetzt wo die Zeit einen Namen hatte, nicht einfach nur anders war. Gedankenverloren wanderte mein Blick durch das alte Haus, das irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts gebaut worden war, ungefähr annähernd auf dem Platz, wo Ivos Haus gestanden hatte. Gab es Reinkarnation auch bei Häusern?
Mühsam raffte ich mich auf, trat durch den Flur hinaus in den erwachenden Morgen. Noch versteckte sich die Sonne hinter dem Rottachrücken, aber es versprach ein sonniger Tag zu werden. Die Luft roch nach frischem Gras voll Tau, eine Drossel schlug oben auf dem Giebel. Ich schaute lächelnd hoch, blickte dann über die noch dämmrigen Wiesen und zu den Pferden.
Kurz überlegte ich, ob Askan einen kleinen Spaziergang schon verkraften würde, aber verwarf den Gedanken und ging einfach los, duckte mich unter dem Koppelzaun hindurch, um zu der kleinen Anhöhe zu laufen, auf der Ivo und ich manchen Morgen begrüßt hatten und manchen Tag verabschiedet.
Lange stand ich dort, müde, traurig, aber mit einer seltsam freudigen Aufregung in mir. Die 233 würde mir helfen alles besser zu verstehen. Mit ihr musste ich mich beschäftigen um Ivo nahe zu sein.
Und mit ihr konnte ich meine Lüge vom Selbstversuch in den Bergen belegen, eine Reportage schreiben, wieder Geld verdienen und vielleicht halbwegs in diesem Leben neu ankommen. Die Idee hätte Ivo gefallen.
Langsam wanderte ich zurück zum Haus, die Sonne ging eben auf. Ins Licht blinzelnd wand ich mich wieder unter dem Zaun hindurch.
„Stehenbleiben, Hände hoch!“
Vor Schreck plumpste ich rücklings unter dem Zaun ins Gras, versuchte trotzdem wie aufgefordert meine Hände zum Zeichen des Friedens zu recken. Vorsichtig schlug ich die vor Schreck zugeklappten Augen auf, drehte mich halb der Stimme entgegen, nur um direkt in die finstere, nach Feinöl stinkende Mündung eines Gewehres zu schauen. Im harten Gegenlicht erkannte ich einen Kopf ohne Gesicht, doch die Stimme kam mir entfernt bekannt vor.
„Peter?“, ich kniff die Augen zusammen, um deutlicher zu sehen.
„Was soll der Mist?“
Ein zweiter Kopf schob sich neben den ersten und die Mündung. „Hoi! Christin?“
Die Stimme kannte ich definitiv. Meine Nachbarin. „Natürlich, Vroni, wer sonst?“, knurrte ich jetzt mutiger und sicher, dass ich Vronis Mann vor mir hatte. „Nimm das Gewehr weg, Peter.“
Der Lauf senkte sich zögernd. „Bischt des wirklich du, Christin?“
„Ja, doch.“ Energisch drückte ich den Lauf ganz von mir weg und richtete mich auf. „Haben wir jetzt amerikanische Zustände, wo jeder mit einer Knarre herumwedelt?“
Verlegen reichte Peter mir eine Hand und zog mich unter den Zaun durch auf die Beine. „Ja, weischt, wir dachten, hier sei ein Einbrecher.“
„Ein Anruf bei der Polizei hätte es auch getan.“, erwiderte ich ungnädig. In letzter Zeit war ich entschieden zu oft mit einer Waffe bedroht worden. Ganz davon abgesehen war ich verkatert am frühen Morgen noch weniger genießbar, als unter normalen Umständen. Aber was war schon normal seit einem halben Jahr?
Peter zuckte ansatzweise kläglich die Schultern, warf dabei einen vorwurfsvollen Seitenblick auf seine Frau. Klar, dachte ich, Vroni brauchte keine Polizei.
„Was machst du hier, Christin?“ Vroni musterte mich ungläubig.
„Du schaust schrecklich aus.“
Meistens waren mir ehrliche Worte wichtig, aber heute Morgen brauchte ich sie nicht. „Was soll ich hier schon machen“, konterte ich zickig, „ich wohne hier, das ist mein Haus.“
Peter hob begütigend die Rechte. „Mädels, es ist noch früh am Morgen. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht, Christin. Immerhin warst du monatelang spurlos verschwunden und dann hat Vroni heute Morgen Licht im Haus gesehen. – Machst uns ´nen Kaffee?“
Leicht beschämt senkte ich den Kopf. Die Reste des Whiskys rumorten in meinem leeren Magen, mir war schlecht und eigentlich war mir schon wieder danach zu heulen. Aber das hätte die beiden endgültig aus der Fassung gebracht. Also schniefte ich nur tief und versuchte etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Wie lächelte man, wenn man eigentlich todunglücklich war?
Besonders erfolgreich schien es mir dann auch nicht zu gelingen, denn Vroni legte fürsorglich ihren Arm um meine Schultern. „Magst uns erzählen, was passiert ist?“
„Passiert ist nichts.“ Ich startete einen weiteren Versuch meine Mundwinkel in die richtige Position zu bringen. „Ich war wegen einer Recherche unterwegs.“
Ich wappnete mich für die Generalprobe meiner Geschichte, während ich in meinem Küchenschrank die Kaffeedose suchte. „Der ist fei nicht mehr ganz frisch, der Kaffee.“ Entschuldigend blickte ich über die Schulter. Vroni berührte gerade vorsichtig Cedrics Räucherschale. Ich atmete tief, irrationale Angst schepperte durch mich hindurch, dass die Schale zerbrechen könnte.
„Wir werden´s überleben.“ Peter lächelte freundlich, obwohl sein Blick argwöhnisch über mein Deckenlager am Ofen strich.
Unsicher stellte ich eine Schale mit meinen letzten Keksen auf den Tisch. „Sorry, ich kam noch nicht zum Einkaufen.“
Mir schwante in diesem Moment, dass mein Leben mich doch schneller zurückerobern würde, als ich es mir gedacht hatte. An Vronis hochgezogenen Augenbrauen war unschwer zu erkennen, dass sie sich jetzt erst recht Sorgen um mich machte. Angespannte Minuten mit unsicheren Floskeln verstrichen, bis die drei Tassen Kaffee fertig war.
„Also“ Vroni drehte ihre Tasse in den Händen, „wo warst du und wieso hast du niemandem gesagt das du gehst und wohin du gehst?“
Peters mahnender Blick prallte an ihr ab. Leider. Seufzend probierte ich einen Schluck Kaffee, Zeit schinden. Meine Story musste passen obwohl ich sie bisher nur in groben Zügen entworfen hatte.
Gegenangriff. Der Kaffee schmeckte selbst für meine entwöhnte Zunge abgestanden und fad. „Wem hätte ich es denn sagen sollen? Ich lebe allein und ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass es jemandem auffallen würde, wenn ich mal ein paar Monate nicht da bin.“ Ich deutete bezeichnend hinter mich zum Schreibtisch und den leeren Fensterbänken. „Das Polizeisigel hat mich wirklich überrascht.“ Und das war nicht einmal gelogen.
An den Gesichtern der beiden Bauern erkannte ich, dass meine Antwort nicht die richtige war. Selbst der duldsame Peter schob unwirsch seine Tasse auf dem Tisch herum.
„Wie wäre es mit uns gewesen, Christin?“, zischelte Vroni spitz.
„Dann hätte ich deine Zimmerpflanzen leichteren Herzens geholt und mir die Sache mit der Polizei und der Vermisstenanzeige gespart.“
„Ihr habt die Polizei gerufen?“ Ich hatte es geahnt, aber doch gehofft, dass es anders gewesen war.
„Ja klar.“ Peters Blick strich forschend über meine desolate Gestalt.
„Allerdings ist uns erst irgendwann Mitte November wirklich klar geworden, dass du nicht daheim bist. Dann haben wir noch einmal zwei oder drei Wochen gewartet, aber als du dann nicht wieder auftauchtest, sind wir zur Polizei nach Kempten gegangen.“
Ich spürte, wie mir langsam die Röte in die Wangen stieg und ich anfing mich etwas für meinen groben Ton zu schämen. „Danke“, murmelte ich leise.
„Alles hier sah nicht danach aus, als hättest du eine längere Reise geplant“, fuhr Vroni fort, „grad das die Haustür abgeschlossen war.“ Ich wand mich innerlich, versuchte äußerlich halbwegs Haltung zu bewahren. Vroni fixierte mich mit bohrenden Blicken. „Naja, und als dann im Februar ein Waldarbeiter die Leiche einer Frau oben im Tobel bei der Fliehburg fand, da dachten wir natürlich alle, dass dir etwas Schreckliches passiert sein musste.“
Bevor ich Vronis Worte richtig verstanden hatte, flutschte mir meine Tasse aus den Händen. Kaffee spritzte über den Tisch und tränkte einen Teil der altbackenen Kekse. „Was?“
Peter nickte mitfühlend, während Vroni ganz die perfekte Hausfrau sofort ein Geschirrhandtuch in die Lache tunkt.
„Leiche ist wohl zu viel gesagt“, versuchte Peter zu beschwichtigen,
„eigentlich war es ein Skelett. Aber wir dachten trotzdem …“ Er zuckte hilflos die Schultern.
Skelett machte die Sache nicht besser, im Gegenteil. Ich wusste ja, dass dort oben eine Frau ermordet worden war. Allerdings war das lange her. Ich schluckte. 1786 Jahre.
„Peter!“ Vroni stupste ihren Mann ärgerlich an. „Sei doch nicht so pietätlos.“
Ich holte tief Luft. „Meine Leiche und mein Skelett ist es offensichtlich nicht, aber das hat die Polizei sicherlich recht schnell herausgefunden, oder?“
Witzig klingen und witzig sein waren zwei ganz unterschiedliche Dinge, wie ich gerade mal wieder an meinen eigenen, ausgesprochen dummen Worten feststellen musste.
„Gedauert hat es schon aweng.“ Vronis Gesicht machte deutlich, dass sie lange gebangt hatten, was mir dann ein weiteres mieses Gewissen bereitet, obwohl ich an der Leiche ja keine Schuld trug. „Aber dann wurde die Frau sogar zur Sensation.“ Vroni beugte sich zu mir herüber, wohl um die Wichtigkeit ihrer Botschaft zu verdeutlichen,
„denn sie muss irgendwann Mitte des dritten Jahrhunderts gestorben sein. Ermordet! Von hinten erstochen!“
Vronis Worte stießen Arnes Klinge in meinen Rücken, links an der Wirbelsäule vorbei ins Herz. Ich stürzte vom Pferd. Weder Tollkirsches panische Flucht durch den Wald, noch die Entsorgung meiner Leiche im Tobel erlebte ich wahrscheinlich. Aber ich wusste es, seitdem mir Arne in den Ruinen von Loja alles erzählt hatte.
Mein Hirn feuerte Erinnerungsblitze durch meinen Kopf, mir schwindelte. Sie hatten Ingrun gefunden, mich gefunden, obwohl ich lebte. Das war mehr als man begreifen konnte. Meine Hände fingen an unkontrolliert zu zittern, was Peter und Vroni natürlich sofort bemerkten.
„Irgendwie faszinierend grausig“, hechelte ich, weil sie so verständnislos schauten, „ich bin ja oft da oben unterwegs. Was haben sie mit der Frau gemacht? Wurde noch mehr gefunden?“