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Dr. med. Boudewijn Chabot, PhD, Haarlem, Niederlande, Psychiater und So­zialwissenschaftler; www.fvnf.de

Dr. rer. nat. Christian Walther, Neurobiologe i. R., arbeitete am Physiologischen Institut, Universität Marburg.

Die 1. Auflage dieses Buches veröffentlichten die Autoren im Ernst Reinhardt Verlag im Jahr 2010.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03049-1 (Print)

ISBN 978-3-497-61464-6 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61465-3 (EPUB)

6. Auflage

© 2021 Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Printed in EU

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Hohenschäftlarn

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Satz: Rist Satz & Druck GmbH, 85304 Ilmmünster

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Geleitwort

Vorwort zur 6. Auflage

1Vier Personen, die durch Sterbefasten den Tod ­vorzeitig herbeiführten

Boudewijn Chabot

1.1Vorbemerkungen

1.2Frau B., 86 Jahre: „Sterben ist ein mühsames Geschäft“

1.3Frau G., 83 Jahre: „Ich habe genug Willenskraft, um das durchzuhalten“

1.4Herr R., 84 Jahre: „Seit dem Tode meiner Frau will ich nicht mehr leben“

1.5Herr E., 86 Jahre: „Wenn der Arzt mich begleitet, gehe ich lieber den legalen Weg“

1.6Positionen zum bewussten, vorzeitigen Sterben

2 Informationen zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit: Was man darüber wissen sollte

Boudewijn Chabot

2.1Vier Möglichkeiten eines humanen Ausweges aus einer unerträglichen Leidenssituation am Ende des Lebens

2.2Überblick über den Verlauf von FVNF

2.3Der Umgang mit Fasten und Flüssigkeitsverzicht in unterschiedlichen Situationen

2.4Berichte über Patienten, die in den Niederlanden durch FVNF verstarben

2.5Wie lange dauert es, bis man stirbt?

3 Informationen zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit: Was zu tun ist

Boudewijn Chabot

3.1Die Rolle von Ärzten, Pflegekräften und Angehörigen bei Vorbereitung

3.2Die kooperative Durchführung

3.3Mundpflege und weitere wichtige Maßnahmen

3.4Ärztliche Versorgung bei FVNF und Einnahme von Medikamenten

3.5Zusammenfassung der Maßnahmen, die den Verlauf des Sterbefastens erleichtern

4 Physiologische Aspekte des FVNF; subjektive Erfahrungen; Umgang mit nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten

Boudewijn Chabot

4.1Änderungen im Stoffwechsel bei striktem Fasten

4.2Erfahrungen mit stark reduzierter Flüssigkeitsaufnahme bei korrekter Mundpflege

4.3Patienten, die spontan die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit verringerten

4.4Physiologische Aspekte des Durstes bzw. Durstgefühls

4.5Beenden der Flüssigkeitsversorgung bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten: Forschungsergebnisse

4.6Beenden der Flüssigkeitsversorgung bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten: drei Fallbeispiele

5 Rechtliche Fragen zum beabsichtigten, vorzeitigen Versterben durch Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

Christian Walther

5.1Rechtliche Ausgangsbasis

5.2Unterstützungshandlungen Dritter beim Suizid

5.3Garantenpflicht

5.4Freiverantwortlichkeit und Patientenverfügung

5.5Die Verlautbarung der BÄK zur Sterbebegleitung

5.6Ärztliches Ethos und Standesrecht

5.7Die Situation gegenüber der Krankenkasse

5.8Ausstellen des Totenscheins

5.9Empfehlungen für die Praxis

6 Ethische Aspekte des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit

Christian Walther

6.1Autonomie

6.2Vorzeitig sterben – ein vernünftiger Wunsch?

6.3Menschenwürde

6.4Gesellschaftliche Aspekte des Sterbewunsches

6.5Ist Sterbefasten Selbsttötung oder ein natürlicher Tod?

6.6Wer soll wann sterben dürfen?

6.7Moralische Fragen an die bei FVNF beteiligten Personen

6.8Abschluss: Ein hypothetischer Fall

7 Sterbefasten und Hospizbewegung

Christian Walther1

7.1Ein Beispiel

7.2Zur geschichtlichen Entwicklung der Hospizidee

7.3Die Hürde der Suizid-Problematik

7.4Grenzen wahren – Grenzen ziehen

7.5Sieben Punkte zum Weiterdenken

7.6Ausblick

Anmerkungen

Literatur

Weiterführende Literatur

Anhang:

Sachregister

Personenregister

Geleitwort

Dieses erstmals vor zehn Jahren erschienene Buch liegt hiermit in sechster Auflage vor. Das anhaltende Interesse ist ein Zeichen dafür, dass sich die Menschen zunehmend Gedanken über ihr unausweichliches Lebensende machen.

In der Tat sind Sterben und Tod seit längerem keine Tabuthemen mehr. Die Bereitschaft nimmt zu, den Gedanken an das Lebensende nicht mehr abzuwehren und zu verdrängen. Mehr und mehr Menschen formulieren ihre Wünsche an die letzte Lebensphase in Patientenverfügungen und in Gesprächen mit Menschen, die sie bevollmächtigen, für den Fall, dass sie sich nicht mehr äußern können, für ihre Wünsche einzutreten. Gleichzeitig wächst das Verlangen nach einem „guten“ Tod – einem möglichst sanften und schmerzfreien, gut begleiteten Sterben, bei dem die Würde und der Wille des Sterbenden so weit wie möglich respektiert werden. Nicht nur die Ansprüche an die Qualität des Lebens, auch die Ansprüche an die Qualität des Sterbens wachsen mit den Möglichkeiten ihrer Erfüllung und stellen die Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Der Bedarf nach einer neuen und nicht mehr nur religiös verstandenen Ars moriendi, einer „Kunst des Sterbens“, die medizinische, existenzielle und gesellschaftliche Aspekte gleichermaßen einbezieht, ist unübersehbar.

Insgesamt ist in diesen Jahren das Sterben in unserer Gesellschaft humaner geworden. Nach einer langen Zeit des Zögerns und Verschleppens ist auch in Deutschland die palliativmedizinische Versorgung sukzessiv verbessert worden. Patientenwünsche nach Therapiebegrenzung werden zunehmend ernst genommen. Das Streben, die Mittel der Medizin ungeachtet des Willens des Patienten bis zum Letzten auszureizen, wird nach und nach zum Relikt einer vergangenen Epoche. Dennoch bleiben viele Wünsche an das Sterben unerfüllt. Die meisten Menschen möchten zu Hause und im Kreis ihrer Nächsten sterben, aber oft ist dieser Wunsch nicht erfüllbar, etwa weil sich eine professionelle medizinische und pflegerische Versorgung im häuslichen Rahmen nicht sicherstellen lässt, es an Familienangehörigen und anderen Bezugspersonen fehlt oder die Pflege am Lebensende die Familien überfordert. Während in Deutschland nur sechs Prozent der Menschen in einem Krankenhaus oder Pflegeheim sterben wollen, sterben dort tatsächlich drei Viertel aller Menschen. Allerdings zeigt das Beispiel der Niederlande, wo mehr als die Hälfte der Menschen zu Hause sterben, dass auch in dieser Hinsicht Alternativen möglich sind. Auch der Wunsch nach Selbstbestimmung am Lebensende stößt oft auf unüberwindliche Hindernisse, insbesondere dann, wenn ein Mensch den Zeitpunkt seines Sterbens, so weit es die Umstände zulassen, selbst bestimmen möchte und dafür auf fremde Hilfe angewiesen ist. Auch wenn das bahnbrechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 den 2015 eingeführten Strafrechtsparagrafen 217 für nichtig erklärt hat, der die Hilfe zur Selbsttötung in Deutschland faktisch unmöglich gemacht hatte, sind auch nach diesem Befreiungsschlag die Möglichkeiten zur Verwirklichung dieses Wunsches begrenzt. Zwar begegnen viele Ärzte und Pflegende dem Wunsch eines schwer oder unheilbaren Kranken nach Hilfe zur Lebensbeendigung mit Verständnis. Es sind aber nur wenige zu einer aktiven Mitwirkung bereit. Hinzu kommt, dass die ärztliche Hilfe zur Selbsttötung weiterhin im Zuständigkeitsbereich von zehn Landesärztekammern berufsrechtlich verboten ist.

Die vier Jahre, in denen der Zugang zu einem selbstbestimmten Sterben durch Ärzte und Sterbehilfegesellschaften versperrt war, haben eine alte Form des Sterbens in den Vordergrund rücken lassen, die einerseits dem Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Lebensende entgegenkommt, andererseits an die Bereitschaft professioneller Helfer, die Wünsche des Schwerkranken zu unterstützen, weniger weitgehende Anforderungen stellt als die Hilfe zu einer aktiven Selbsttötung. Eine solche Form ist der in diesem Buch beschriebene Weg des selbstbestimmten Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit, des „Sterbefastens“.

Dieser Weg ist kein leichter und bequemer Weg. Er wird nur teilweise den Erwartungen gerecht, die viele mit der Wunschvorstellung eines sanften und würdigen Todes verbinden. Insbesondere im Alter noch nicht weit Vorgerückte empfinden ihn häufig als beschwerlich. Für diejenigen, die ihr Lebensende – in den Grenzen des nach den Umständen Möglichen – in die eigene Hand nehmen wollen, ist aber auch dieser Weg eine Option. Unter pragmatischen Gesichtspunkten hat dieser Weg den Vorteil, dass er bei potenziellen Begleitern auf weniger Vorbehalte stößt als eine aktive Selbsttötung. Sterbefasten überbrückt in gewisser Weise den Gegensatz, der in unserem Kulturbereich zwischen der stoischen und der christlichen Auffassung vom guten Sterben besteht: zwischen dem Ideal einer rational-selbstbewussten Gestaltung des Lebens und Sterbens, die so wenig wie möglich dem Schicksal überlässt, und dem Ideal einer hinnehmenden Haltung dem Leben und Sterben gegenüber, die das Lebensende vertrauensvoll in die Hände höherer Mächte legt.

In der Tradition der philosophischen Auseinandersetzung mit Sterben und Tod ist wohl Schopenhauer diesem Weg am nächsten gekommen. Schopenhauer kritisiert an den gewöhnlichen Formen der Lebensbeendigung aus eigenem Willen, dass sie angesichts der mit ihnen verbundenen Gewaltsamkeit mit dem von ihm vertretenen Ideal einer „Selbstverneinung des Willens“ unvereinbar sind. Nur den „aus dem höchsten Grade der Askese freiwillig gewählten Hungertod“ nimmt er von diesem Urteil aus – obwohl dieser, wie das vorliegende Buch zeigt, nicht nur sorgfältige Planung und Unterstützung, sondern auch einen starken Willen verlangt.

Dieter Birnbacher

Professor für Philosophie i. R.

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, im Februar 2021

Vorwort zur 6. Auflage

Grundlage dieses Buches sind mehr als einhundert Berichte über Menschen, die verstarben, nachdem sie mehr als sechs Tage lang nichts mehr getrunken hatten (Chabot 2007; Chabot/Goedhart 2009). Etwa vierzig Prozent der Verstorbenen hatten Krebs, weitere dreißig Prozent litten an neurologischen, kardiovaskulären oder anderen schweren Krankheiten im fortgeschrittenen Stadium. Die übrigen dreißig Prozent waren sehr alt und litten unter Behinderungen wie Erblindung oder starker Reduzierung der Beweglichkeit durch schwere Arthrose. Alle hatten sich nach gründlichen Diskussionen mit einer Person ihres Vertrauens und manchmal auch mit ihrem Arzt dafür entschieden, ihren Tod vorzeitig herbeizuführen, statt noch Monate oder Jahre weiterzuleben.

In Deutschland wie in anderen Ländern ist es noch immer nicht generell bekannt, dass ein freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (im Folgenden mit „FVNF“ abgekürzt1) jedem Menschen bei fortgeschrittenem Alter und erheblichem Leiden unter Krankheiten und Gebrechen die Möglichkeit bietet, das Leben vorzeitig in Würde zu beenden. Seit dem Erscheinen unseres Buches vor zehn Jahren ist die „Mauer des Schweigens“ bei diesem Thema zwar bröckelig geworden, doch die Meinungen über FVNF bleiben geteilt. Immerhin findet man heutzutage ausgiebig Informationen und Bewertungen des Themas von verschiedensten Seiten, nicht zuletzt wenn man im Internet mit dem Suchbegriff „Sterbefasten“ unterwegs ist – eine verkürzte Bezeichnung für FVNF, die sich dauerhaft etabliert hat2. Übrigens sind nach 2017 – dem Erscheinungsjahr der 5. Auflage dieses Buches – etwa ein Dutzend Fachaufsätze und fünf neue Bücher zum Thema erschienen (Coors et al. 2019; Kaufmann et al. 2020; Luckwaldt 2018; Mehne 2019; zur Nieden/zur Nieden 2019).

Unser Buch hat zwar breite Anerkennung als umfassende Quelle gefunden3, ist aber bei denen auf Ablehnung gestoßen, die FVNF unbedingt mit einer Ablehnung von Suizidhilfe verknüpfen wollen (Radbruch et al. 2019) oder ihn nur ausnahmsweise dulden, nicht aber als normale, gute Option für das Lebensende gelten lassen wollen. So verlangt z. B. Stefan Sahm, wohl auch aus religiöser Überzeugung, dass Ärzte generell nur solche Patienten beim FVNF unterstützen, die schon länger von ihnen betreut werden; dies bedeute aber nicht, „dass die Entscheidung positiv bewertet wird“ (Sahm 2019, 224).

Die vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) mit einer Arbeitsgruppe verfasste Positionierung zu FVNF beschränkt sich „auf Patient*innen mit lebensbedrohlichen oder lebenslimitierenden Erkrankungen. Die Inhalte des Positionspapiers sind nicht ohne weiteres auf andere Gruppen übertragbar, zum Beispiel auf alte, multimorbide oder gebrechliche Menschen ohne schwere Erkrankungen oder gesunde Menschen, die des Lebens müde sind“ (Radbruch et al. 2019,4). Aber auch diese Menschen gehören weiterhin zur Zielgruppe unseres Buches, und wir sind uns sicher, dass keineswegs alle in der Palliative Care in Deutschland Engagierten deren Ausgrenzung gutheißen.

Weiterhin ist unser Hauptanliegen jedoch nicht die Diskussion über den FVNF (z. B. Coors et al. 2019; Kaufmann et al. 2020), sondern eine fundierte Wissensvermittlung. Sie ist vor allem Patienten gewidmet, die (noch) freiverantwortlich für sich entscheiden können und durch Sterbefasten vorzeitig aus dem Leben gehen wollen. Dieses Buch ist nicht zuletzt eine Grundlage für eine gute Kommunikation mit den Ärzten, dem Pflegepersonal und den Angehörigen, die hieran gegebenenfalls beteiligt sein werden. Es wendet sich ganz besonders an alle, die im Hospizwesen tätig sind und inzwischen vermehrt mit der Bitte um Unterstützung beim FVNF konfrontiert werden.

Dem FVNF begegnen in unserer Gesellschaft immer noch viele mit der reflexhaften Vorstellung, dass konsequenter Flüssigkeitsverzicht auf ein grauenhaftes Verdursten hinauslaufe. Auch wenn z. B. für Deutschland keine Schätzungen existieren, sollte man dennoch davon ausgehen, dass nicht wenige jährlich diesen Weg aus dem Leben wählen. In den Niederlanden liegt diese Zahl in der Größenordnung von 1000 Personen jährlich (Chabot/Goedhart 2009; van der Heide 2012).

Immer wieder scheinen Menschen FVNF sozusagen neu für sich zu erfinden – was letztlich für diejenigen naheliegt, die kaum noch Appetit haben und aufgrund eines fortgeschrittenen medizinischen Leidens endlich sterben möchten. Der FVNF war aber z. B. schon in der europäischen Antike bekannt. Im hohen Alter mit dem Essen und Trinken aufzuhören, um zu sterben (Griechisch: „apokarterein“; Lateinisch:„inedia“5) wurde jedenfalls von Philosophen thematisiert. So weist z. B. Seneca darauf hin, dass Sokrates durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, auf diese Weise sein Leben vorzeitig zu beenden, statt 30 Tage im Gefängnis darauf zu warten, bis man ihm den Giftbecher reiche6. Auch in einigen fernöstlichen Regionen dürfte diese Art des Sterbens schon früh in Betracht gezogen worden sein. Das ergibt sich aus religionswissenschaftlichen Abhandlungen über Hinduismus und Jainismus7, denen wir übrigens den Begriff „Sterbefasten“ verdanken. Hier die Worte eines Jaina, der sich zum Sterbefasten entschlossen hat und sich dazu in die Obhut eines erfahrenen religiösen Meisters begibt (aus Banks 1992, modifiziert):

„Bitte unterrichten Sie mich, mein Herr! Ich bin gekommen, um sallekhana [Sterbefasten] zu suchen. Dieses Gelübde werde ich von nun an bis zum Ende meines Leben einhalten. Ich fühle mich […] frei von allen Zweifeln und Ängsten. Ich verzichte von jetzt an bis zum Augenblick meines letzten Atemzuges auf Nahrungsmittel und Getränke jeglicher Art.“

Auch heutzutage ist Sterbefasten in manchen Teilen von Indien nichts Ungewöhnliches (Bilimoria 1992; Madan 1992), obwohl in diesem Land bereits über ein Verbot dieser vor allem von Mönchen vollzogenen vorzeitigen Lebensbeendigung nachgedacht wurde (Young 1989).

Wenn in Deutschland eine Patientenverfügung, die das Legen einer Magensonde oder einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) verbietet, konsequent umgesetzt wird, dann verstirbt der betreffende Patient letztendlich aufgrund des Flüssigkeitsverzichts (sofern es nicht die vorliegende Krankheit ist, die dann zum Tode führt). Somit sollte dieser Tod im klinischen Alltag nichts Ungewöhnliches oder Abwegiges sein. Er kann ganz friedlich sein, sofern ihn die Ärzte und das Pflegepersonal professionell begleiten. Doch die Entscheidung, bei solchen Patienten – nicht zuletzt bei Dementen in der Spätphase – die Flüssigkeitsversorgung zu beenden, ruft noch oft erhebliche Ängste hervor, dass dies einen schrecklichen Tod bedeutet. Gerade die Beispiele derer, die im Sterbefasten diesen Weg bewusst und freiwillig gehen, zeigen, dass solche Sorgen übertrieben sind8. Andererseits muss betont werden, dass für jüngere, weitgehend gesunde Menschen ein radikaler Flüssigkeitsverzicht kaum auszuhalten ist, so dass für sie FVNF in der Regel kein gangbarer Weg aus dem Leben ist.

Sterbefasten wird sich in unserer Gesellschaft als eine Option für eine vorzeitige Lebensbeendigung weiter etablieren, aber eben nur für diejenigen, die darin eine ihnen gemäße Sterbekultur sehen. Andere werden z. B. einen Suizid mit einem geeigneten Medikament bevorzugen. Seit der Annullierung des § 217 StGB durch das Bundesverfassungsgericht (s. u.) bestehen in Deutschland dafür nun wieder bessere Chancen; jedoch wird nun von manchen Seiten davor gewarnt, dass dies zu etwas „Normalem“ werden könnte. Dies ist abwertend gemeint: Die Gesellschaft gewöhne sich an etwas, das nicht gut sei. Hier geht es um weltanschauliche Fragen, deren Diskussion sich in unserem Buch weiterhin auf knappe Darlegungen beschränkt.

Die meisten Leserinnen und Leser, die von Sterbefasten zum ersten Mal hören, werden drei Fragen stellen, auf die wir hier bereits kurz antworten wollen:

1 Ist dies ein natürlicher Weg aus dem Leben?

˃Der Weg ist insofern natürlich, als keine lebensverkürzenden, medizinisch-technischen Maßnahmen ergriffen werden.

2 Kann man diesen Weg ohne zu leiden und ganz ohne fremde Hilfe bewältigen?

˃Er ist nicht frei von Beschwerden. Das Durstgefühl lässt sich durch gute Mundpflege in Grenzen halten. Doch um diese Beeinträchtigung besser bewältigen zu können, werden sich viele, die so ihr Leben beenden wollen, an manchen Tagen ein Medikament zur Dämpfung des Bewusstseins wünschen.

3 Warum sollte man ausgerechnet einen längeren, für manche doch schwierigen Weg wählen, wo es andere Möglichkeiten gibt, auf humane Weise vorzeitig aus dem Leben zu scheiden?

˃Die Antwort ist dreifach:

a)Tötung auf Verlangen wird zwar von manchen Ärzten gewährt, ist aber in Deutschland, der Schweiz und Österreich verboten.

b)Beihilfe zu einer wohlüberlegten Selbsttötung ist in Deutschland zwar nicht verboten, doch die Beschaffung eines hierzu benötigten Mittels ist weder einfach noch in jedem Falle legal, und nur ein Teil der Ärzte wird hierbei den Patienten voll unterstützen.

c)Das Sterben durch solche Methoden bedeutet einen abrup-ten Tod, während beim Sterbefasten ein allmählicher, weitgehend harmonischer Abschied vom Leben möglich ist.

Der Titel „Ausweg am Lebensende“ bezieht sich auf die Möglichkeit, eine Leidenssituation durch beabsichtigtes, vorzeitiges Sterben in Würde zu beenden. Hiermit verbinden wir, dass die Entscheidung wohlüberlegt getroffen wurde und der Tod, möglichst in Anwesenheit von Angehörigen oder Freunden, sanft (im Schlaf) eintritt, anstatt dass sich jemand – wie es so oft bei ­alten Menschen vorkommt – einsam und vielleicht als Folge ­einer überstürzten Entscheidung auf schreckliche Weise umbringt. Oft stellen sich einer humanen Verwirklichung des Sterbewunsches erhebliche Hindernisse entgegen. Hier kommen nicht allein „technische“, sondern auch manche rechtliche, ethische und, für Ärzte, standesrechtliche Schwierigkeiten ins Spiel. Auch in dieser Hinsicht stellt das Sterbefasten einen Ausweg dar, denn man kann manche Einwände, die in Deutschland noch immer gegen Beihilfe zur Selbsttötung erhoben werden, auf sich beruhen lassen.

Dass man das Leben nach einer autonomen Entscheidung ­eines Tages durch Sterbefasten beenden kann und hierfür keine schwierigen, z. T. rechtlich bedenklichen Vorbereitungen nötig sind, wird für manche etwas Befreiendes und Beruhigendes darstellen. Es gehört übrigens zu den Vorteilen des Sterbefastens, dass man zu ­einem frühen Zeitpunkt wieder anfangen kann mit Essen und Trinken, wenn einem das Durchhalten zu schwer fällt oder wenn man sich aus anderen Gründen dazu entschließt, doch noch ­einige Zeit weiterzuleben. Für Patienten, die Sterbefasten in Erwägung ziehen, sowie deren Angehörige und Freunde könnten zwei Dokumentarfilme von Interesse sein, die 2013 erschienen sind (Chabot 2013; Me­dienprojekt Wuppertal 2013)9.

Wo es sich anbot, wurden Aktualisierungen oder Verbesserungen vorgenommen. Gelegentlich wurde auch auf neuere Betrachtungen zum Sterbefasten eingegangen. Ende 2015 wurde vom Bundestag ein Gesetz beschlossen, welches die sog. Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellte (§ 217 StGB). 2020 wurde es erwartungsgemäß vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Damit ist die Verunsicherung derjenigen zu Ende gegangen, die dank dieses unzeitgemäßen Paragrafen die Unterstützung beim FVNF als möglicherweise strafbare Suizidhilfe einschätzten.

Das 2017 hinzugekommene Kapitel 7 „Sterbefasten und Hospizbewegung“ ist weiterhin hochaktuell. Es trägt der Tatsache Rechnung, dass sich in den letzten Jahren in der deutschen Hospizbewegung samt der ihr zugehörigen Palliativmedizin zunehmend Interesse am Thema gezeigt hat, aber bisher unseres Wissens keine Empfehlungen der zuständigen Verbände dazu vorliegen. Dies ist nicht verwunderlich, denn das Sterbefasten wirft für die Hospizbewegung eine Reihe von nicht ganz einfachen Fragen auf, deren Beantwortung je nach Standpunkt unterschiedlich ausfallen dürfte.

Das Interesse der Medien für unser Thema hat zwar etwas zugenommen, doch oft wird es in einer Weise behandelt, dass Schwierigkeiten und mögliche Probleme sehr betont werden, was eher auf eine Abschreckung als eine Ermutigung hinausläuft, diesen Weg selber zu gehen. Bislang gibt es keine klinische Forschung über den FVNF; jedoch wurden Erhebungen über das Vorkommen des FVNF, z. B. in Altersheimen, und dessen Bewertung seitens beruflich Pflegender durchgeführt (Stängle et al. 2020a–d).

Noch immer hüllen sich die Kirchen, also Deutsche Bischofskonferenz und EKD, zum Thema Sterbefasten in Schweigen. Gleiches gilt für die Landesärztekammern. Von größter Bedeutung bleibt somit weiterhin die alle Aspekte berücksichtigende Richtlinie der Königlichen Niederländischen Medizinischen Gesellschaft (KNMG) von 2015.

Zwecks leichterer Lesbarkeit verwenden wir in unserem Buch nur die männliche Form als Oberbegriff. Wir haben ausgiebig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Belege sowie ergänzende Informationen, die nicht jeden Leser gleichermaßen interessieren dürften, in Anmerkungen am Ende des Buches aufzuführen. Diese nehmen auch öfters Bezug auf die „Sterbehilfe-Debatte“ der letzten Jahre. Schließlich sei noch auf das Sach- und das Personenregister am Ende des Buches verwiesen.

Da sich dieses Buch an ein breites Publikum wendet und somit auch an diejenigen, die nicht wissenschaftlich interessiert sind, haben wir ein Großteil der neueren Fachliteratur lediglich aufgelistet in dem dafür neu geschaffenenen Verzeichnis „­Weiterführende Literatur“.

Hiermit möchten wir uns herzlich bedanken bei Frau Angelika Feichtner, die mit einer Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der neuen Auflage beigetragen hat.

Haarlem, Niederlande, und Marburg, Februar 2021

Boudewijn Chabot, Christian Walther

1Vier Personen, die durch Sterbefasten den Tod ­vorzeitig herbeiführten

Boudewijn Chabot

1.1Vorbemerkungen

Im Jahr 2018 starben laut Statistischem Bundesamt 4416 Menschen, die 60 Jahre oder älter waren, durch Suizid. 1535 von ­ihnen waren mindestens 80 Jahre alt. Diese Suizide werden oft als „­Alterssuizide“ bezeichnet. Zu misslungenen Suizidversuchen gibt es keine Zahlen, woraus jedoch nicht gefolgert werden darf, dass sie seltener sind als die „gelungenen“ (De Leo et al. 2006). Hinter diesen Zahlen verbergen sich traurige Schicksale, über die auch immer wieder öffentlich geklagt wird. Diese Klage wird meist verbunden mit der Forderung, „die Gesellschaft“ müsse mehr tun für Menschen, die im hohen Alter so verzweifelt sind, dass sich manche von ihnen sogar das Leben nehmen wollen. Im gleichen Atemzug wird häufig gegen Beihilfe zum Suizid polemisiert, so als sei es deren Anliegen, die Gesellschaft aus ihrer Pflicht für die alten und schwer leidenden Menschen zu entlassen (z. B. Fittkau 2006).

Hinter dem, was heute amtlich „Suizid“ heißt und z. B. vom Deutschen Ethikrat als Selbsttötung bezeichnet wird, stehen sehr verschiedene Tathergänge, die von grässlichen, meist einsam begangenen Akten bis zu einem friedlichen Einschlafen im Kreise von Verwandten und Freunden reichen. Ebenso vielfältig sind die Situationen, aus denen heraus sich der Wunsch nach Selbst­tötung entwickelt: Es gibt durchaus die Möglichkeit, dass Lebensumstände, die einen alten Menschen zur Verzweiflung und zum Aufgeben treiben, erkannt und so erfolgreich geändert werden, dass dieser dann doch noch eine Zeit lang mit Freude und Gelassenheit weiterleben kann. Jeder, der aufgrund einer unmittelbaren oder aber auch weniger direkten Betreuungssituation Verantwortung für das Wohl eines alten Menschen trägt, muss sich stets aufs Neue fragen, ob es zu Versäumnissen gekommen ist oder ob sich bedenkliche Entwicklungen absehen lassen, die präventives Handeln erforderlich machen.

Sofern ein Arzt das Vertrauen des Sterbewilligen besitzt, kommt ihm sicher eine besondere Rolle für dessen Beratung und die Beurteilung seines Willens zu. Es gibt darüber hinaus ein „Netzwerk“ von Anlaufstellen, Vereinen, Wissenschaftlern u. a., die sich Suizid-Prävention zur Aufgabe gemacht haben (Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, DGS; Nationales Suizidpräventionsprogramm, www.naspro.de).

Man kann aber wahrscheinlich nicht davon ausgehen, dass man von den zahlreichen Anlaufstellen für die hier von uns betrachtete Fallgruppe der ­älteren Menschen immer eine wirklich hilf­reiche Beratung erhalten kann.1 Ein Hauptproblem bei älteren Menschen, die sich mit Suizid-Gedanken tragen, dürfte darin bestehen, dass sie selber sich meist gar nicht an irgendeine helfende Instanz wenden möchten. Insofern ist es vor allem für ihre Angehörigen und Freunde von Interesse, solche Angebote zu kennen. Dafür kann man sich an einen Psychotherapeuten wenden, insbesondere ­einen psychologischen Psychotherapeuten mit längerer Berufserfahrung (mehr hierzu in Kap. 5.4).

Heutzutage können sich viele Menschen vorstellen, dass sie vor allem mit zunehmendem Alter an einen Punkt kommen könnten, an dem sie nicht mehr weiterleben wollen. Sie tref-fen ihre Bewertung der Lebensumstände gemäß ihrer Weltanschauung und aufgrund ihrer gesammelten Erfahrungen (Seale 1996). Wenn eines Tages ihre Absicht heranreift, aus dem Leben zu scheiden, werden sie sich mit anderen Menschen beraten, sofern es ihnen nicht völlig unmöglich ist, sich über derartige existenzielle Fragen mit anderen auszutauschen. Leider wird es für manche sehr schwer sein, eine Beratung wie sie sie sich wünschen, zu erhalten, vor allem wenn niemand mehr am Leben ist, der ihnen nahe stand und dem sie vertrauen konnten. Diejenigen, die eine Selbsttötung aus Überzeugung von vorneherein ablehnen, werden als Gesprächspartner nicht in Frage kommen. Eine „paternalistische“, d. h. bevormundende Einmischung anderer in diesen Entscheidungsprozess wird der Rat Suchende ablehnen, – zu Recht, wie wir meinen.

Die kritische Bewertung eines fürsorglichen, von Bevormundung nicht ganz freien Umgangs mit älteren Menschen als ­„paternalistisch“ kann im Grunde jeden treffen. Dass man irgendwann dahin kommt, auf alte Menschen in ähnlicher Weise Einfluss nehmen zu wollen wie auf Kinder, wird kaum jemand leugnen. Etwas anderes ist es, ob man jemanden dann, wenn es um den Wunsch, vorzeitig zu sterben, geht, nur noch „beschützen“ will oder wirklich offen ist für die Möglichkeit, dass dieser Wunsch für diesen Menschen in dieser Situation nachvollziehbar und zu respektieren ist. Diese prinzipielle Offenheit würde dann auch beinhalten, dass man diesem Menschen gegebenenfalls dabei hilft, vorzeitig auf humane Weise aus dem Leben zu gehen – wie man ihm andernfalls ja auch helfen wird, mit seiner Situation wieder besser zurecht zu kommen.2

Wer unter humanen Bedingungen seinem Leben ein Ende setzen will und hierfür Rat und Hilfe sucht, hat es in Deutschland nicht leicht, gewiss schwerer als etwa in der Schweiz, aber doch weniger schwer als in Österreich. Die in diesem Buch beschriebene und diskutierte Möglichkeit, durch Sterbefasten, also den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) vorzeitig und friedlich zu versterben, ist in der breiteren Öffentlichkeit immer noch wenig bekannt, auch wenn seit dem Erscheinen unseres Buches über einzelne Fälle öffentlich berichtet wurde (z. B. zur Nieden 2017; Luckwaldt 2018; zur Nieden/zur Nieden 2018). Um einen ersten Eindruck zu vermitteln, worum es bei solch einem Sterbefasten geht, schildern wir im folgenden vier Fälle, die sich tatsächlich so zugetragen haben, und zwar in den Niederlanden. Man erfährt daraus nicht allein, was im Verlauf von FVNF geschieht, sondern man erlebt mit, wie sich der Entschluss, durch FVNF vorzeitig aus dem Leben zu gehen, bei jemandem ent­wickelt und wie die bzw. der Betreffende diesen Entschluss in seinem sozialen Umfeld dann durchsetzt.

Zum besseren Verständnis dieser Fallbeispiele ist es nützlich, sehr kurz die gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe in den Niederlanden mit der derzeitigen Situation in Deutschland zu vergleichen:

>> Rechtliche Regelung der Sterbehilfe in den Niederlanden im Vergleich zu Deutschland

Während in Deutschland ärztliche Tötung auf Verlangen vom Strafgesetz verboten ist, jedoch Beihilfe zur Selbsttötung prinzipiell nicht strafbar ist, sind beide Formen von Sterbehilfe in den Niederlanden unter gesetzlich definierten Voraussetzungen straffrei, wenn sie von Ärzten zum Beenden von „unerträglichem Leiden“ geleistet werden (Griffiths et al. 2008). In Deutschland ist jedem die Beihilfe zur Selbsttötung ­erlaubt, doch gerade den Ärzten wird sie bisher durch die noch herrschenden Prinzipien im ärztlichen Standesrecht erschwert. Andererseits genügt in Deutschland die Willensfreiheit des Sterbewilligen, damit seinem Wunsch (nach Beihilfe zur Selbsttötung) entsprochen werden darf, während in den Niederlanden nur bei einer medizinisch aussichtslosen Lage, nämlich einer zum Tode führenden Krankheit oder einem nicht heilbaren, schweren (körperlichen oder psychischen) Leiden Sterbehilfe straffrei vom Arzt geleistet werden darf.

Die Beihilfe zur Selbsttötung ist in den Niederlanden also in zweierlei Hinsicht restriktiver geregelt als in Deutschland: Sie darf nur von Ärzten durchgeführt werden, und es muss dieselbe Voraussetzung wie für die Tötung auf Verlangen erfüllt sein, näm-lich die aussichtslose Lage des Patienten (Van Delden et al. 2004).

1.2Frau B., 86 Jahre: „Sterben ist ein mühsames Geschäft“

Dieser Bericht beruht auf separaten Interviews mit der Tochter und dem Hausarzt von Frau B. nach ihrem Tode.

>> Soziale Situation und Persönlichkeit

Frau B., 86 Jahre alt, war immer Hausfrau gewesen und seit zwölf Jahren Witwe. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren beiden hilfsbereiten Kindern. Sie lebte selbständig, hatte viele soziale Kontakte und führte ein abwechslungsreiches und interessantes Leben. Ihre Tochter beschrieb sie als eine starke Frau, fürsorglich und mit einfühlsamem Interesse für andere Menschen, da-bei stabil in ihrem Gefühlsleben.

>> Medizinische Lage und Entscheidungsfindung

Frau B. litt an mäßigem Bluthochdruck. In den Monaten vor ihrer Entscheidung, das Leben zu beenden, hatte sie mehrmals eine ­vorübergehende Durchblutungsstörung des Gehirns (Transitorische ischämische Attacke, kurz TIA) mit kurzen Ausfallerscheinungen. Auf Befragen hatte der Hausarzt ihr erklärt, dass solch eine TIA der Vorbote eines größeren Schlaganfalls, verbunden mit bleibenden Lähmungserscheinungen und /oder Sprachstörungen (Aphasie) sein kann. Außerdem hatte Frau B. Altersdiabetes, den sie aber mit Tabletten wirkungsvoll behandelte. Einige Wochen vor ihrem Tod ging plötzlich ihre Sehkraft stark zurück, so dass sie die Bildunterschriften im Fernsehen nicht mehr lesen konnte.

Frau B. fürchtete sich nicht davor, an einer weiteren Durchblutungsstörung zu sterben, aber dass eine TIA der Vorbote von Lähmungen und Sprachstörungen sein und sie daher pflegebedürftig werden könnte, ängstigte sie sehr. Ihr wurde klar, dass sie dann als Pflegefall in ein Alten- oder Pflegeheim aufgenommen werden müsste. Das hätte den Verlust ihrer Unabhängigkeit bedeutet, welche für sie – als der Persönlichkeit, zu der sie geworden war und die sie bleiben wollte – das Wesentliche bedeutete. Außerdem war sie davon überzeugt, dass sie das Leben in vollen Zügen genossen hatte und ihre Zeit nun gekommen sei.

Während einer Periode von mehreren Monaten sprach Frau B. mit ihrem Hausarzt über ihren Wunsch, das Leben zu beenden, solange dieses noch gut sei, und darüber, wie sie dies selbst in die Hand nehmen könne, ohne ihn zu belasten:

„Es handelt sich nicht um ein unerträgliches Leiden, deshalb möchte ich Sie nicht um Beihilfe zur Selbsttötung bitten. Ich möchte nicht jemand anderem die Verantwortung für meinen Tod übertragen. Lieber will ich für mein Sterben selbst verantwortlich sein, solange mir das noch möglich ist.“

Darauf eröffnete ihr der Arzt die Möglichkeit, durch Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit aus dem Leben zu gehen. Er befand, dass Frau B. in der Lage sei, diese wichtige Entscheidung vollverantwortlich selbst zu treffen. Frau B. sprach über diesen Ausweg mit dem Arzt dann mehrfach und ausführlich. Mit ihren Kindern besprach sie während der Phase der Entscheidungsfindung ihr Vorhaben, das Leben so zu beenden, noch nicht.

Drei Wochen vor dem Tod von Frau B. bat die Tochter den Hausarzt, vorbeizukommen, weil sich ihre Mutter nicht wohl fühle. „Sie klagt über Übelkeit und möchte im Bett bleiben.“ Nach den vorangegangenen Gesprächen über ihren Wunsch zu sterben, gab es an diesem Tag etwas in der Gefühlslage von Frau B., das den Arzt veranlasste, sie in Anwesenheit der Tochter zu fragen: „Wollen Sie sterben?“ Die Antwort lautete: „Ja.“ Das traf die Tochter völlig unerwartet. Frau B. scherzte daraufhin: „Papa [also der verstorbene Ehemann] hat gesagt, du brauchst nichts mehr zu essen, du kriegst dann da oben was.“ Sie ließ keine Diskussion über ihre Entscheidung zu. Die Tochter fragte den Hausarzt: „Wie kann ich wissen, dass sie wirklich nicht mehr essen will?“ Der Hausarzt nahm ­einen Teller mit Essen, der neben dem Bett stand und bot ihn Frau B. an. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nicht.“ Der Hausarzt sagte zur Tochter: „Sie können es ihr immer wieder anbieten und sehen, was passiert.“ Das beruhigte die Tochter etwas. „Wenn meine Mutter wirklich sterben will, dann werde ich das so ganz ­sicher merken.“ Der Hausarzt hinterließ Frau B. einige Schlaf- und Beruhigungstabletten für den Fall, dass sie diese gegen Schlaflosigkeit oder andere unerwartete Beschwerden brauchen würde.

Am Tag, bevor sie ihren Entschluss, mit dem Essen und Trinken aufzuhören, dem Hausarzt und ihrer Tochter mitteilte, hatte Frau B. ihrer Tochter ein Essen gekocht.

>> Der Verlauf

Für ihre Umgebung fast unmerklich verringerte Frau B. in der ersten Woche das Essen und Trinken. Auch nach der ersten Woche trank sie hin und wieder kleine Mengen, aber reduzierte das bald auf ein gelegentliches Eis am Stiel oder einen kleinen Schluck ­Kaffee. Wenn ein Enkelkind zu Besuch kam, aß sie „zur Gesellschaft“ ein kleines Häppchen mit. Ihre Kinder waren abwechselnd immer bei ihr und verwöhnten sie. Nach zwei Wochen wurde sie deutlich schwächer, aber sie blieb bis zum Tag ihres Todes bei klarem Verstand. In der letzten Woche nahm sie zwei Mal eine halbe Schlaf­tablette, um die Nacht besser zu überstehen. Einige Tage vor ­ihrem Tod machte ihr das Atmen zu schaffen, und sie bekam Angst, doch ließ sich dies mit einer Beruhigungstablette bewältigen. Sie führte die Mundpflege mit Hilfe der Kinder fort, und sie klagte nicht über Durst. Dennoch äußerte sie, als es auf das Ende zuging: „Ich muss schon sagen, sterben ist ein mühsames Geschäft. Man muss es selber tun, Papa kann nicht helfen, und Vater und Mutter nützen dir auch nicht.“ Sie starb in der Nacht, während ihr Sohn, der bei ihr wachte, sich gerade eine Tasse Kaffee machte. Er hörte sie aufseufzen und als er zu ihr kam, war es vorbei. Seit Beginn des Fastens waren nun insgesamt drei Wochen verstrichen; während der letzten zehn Tage hatte sie überhaupt nichts mehr getrunken. Die Tochter bemerkte dazu:

„Dies war eine wertvolle Zeit in unserem Leben, weil wir alle zusammen für sie sorgen konnten, so dass das Sterben für sie erträglich war. Wir sorgten dafür, dass im Hause eine gute Atmosphäre herrschte und dass unsere Mutter, wenn sie wach war, sich immer mit etwas beschäftigen konnte. Dass der Arzt jeden Tag vorbei kam und sich so viel Zeit für uns nahm, trug entscheidend dazu bei, dass unsere Mutter und wir selbst gelassen und ruhig blieben.“

>> Abschließende Bemerkungen

Im Vergleich zum nachfolgenden Beispiel ist dieser Sterbeprozess bemerkenswert friedlich verlaufen. Die Faktoren, die dazu beigetragen haben, sind:

>Sowohl die Tochter als auch der Arzt charakterisierten Frau B. als ausgeglichene, starke Persönlichkeit. Sie wollte die Verant-wortung für ihr Lebensende selbst übernehmen.

>Sie war gut vorbereitet auf das, was sie erwarten würde, dank der Gespräche mit ihrem Hausarzt.

>Der Hausarzt kam jeden Tag vorbei. Vorsorglich stellte er Schlaf- und Beruhigungstabletten zur Verfügung.

Schmerzmittel erwiesen sich als unnötig; gelegentlich eine Schlaftablette und ein angstlinderndes Mittel genügten. Es ist eine aus der palliativen Pflege bekannte Erfahrung, dass die Behandlung von Schmerz und anderen Symptomen bei einem terminalen Patienten oft besser verläuft, wenn dieser die Dosierung der Schmerzmittel oder anderer lindernder Mittel selbst bestimmen kann. Das verringert die Angst, dass man jeden Augenblick durch nicht mehr beherrschbare Schmerzen überwältigt werden könnte.

Frau B. hörte allmählich mit dem Essen und dann auch mit dem Trinken auf und folgte dabei ihrem eigenen Zeitgefühl. Im Verlauf eines Fastens verschwindet das Hungergefühl bekanntlich schnell, sobald überhaupt keine Kohlenhydrate mehr aufge­nommen werden. Es ist jedoch nicht klar, ob Durst erträglicher ist, wenn man die Flüssigkeitsaufnahme nach und nach oder wenn man sie abrupt vollständig einstellt. Das könnte von Person zu Person veschieden sein.

Die fürsorglichen Kinder und Enkel haben Frau B. das Sterbe-­fasten erleichtert, indem sie ihre (Groß-)Mutter verwöhnten und ihren Geist während der wachen Stunden beschäftigten. Trotzdem betonte Frau B. am Ende, dass man „es“ selbst tun müsse und das Sterben immer noch schwer genug sei.

1.3Frau G., 83 Jahre: „Ich habe genug Willenskraft, um das durchzuhalten“

Dieser Bericht beruht auf einem Interview mit dem Sohn und der Schwiegertochter sowie telefonischen Auskünften des Hausarztes von Frau G. nach ihrem Tode.

>> Soziale Lage und Persönlichkeit

Frau G. (83) war seit 20 Jahren Witwe. Mit ihrem einzigen Sohn und ihrer Schwiegertochter, die sie mehrmals in der Woche besuchten, stand sie in gutem Kontakt. Sie war außergewöhnlich vital und stand bis zu ihrem 81. Lebensjahr noch jede Woche auf dem Tennisplatz, machte lange Spaziergänge mit einer Freundin und hatte einen Freundeskreis, mit dem sie Bridge spielte. Ihr Leben lang legte Frau G. großen Wert auf ein sehr gepflegtes ­Äußeres und auf das Einhalten der Etikette. Dabei ging sie ihren eigenen Weg. Ihr Sohn beschrieb sie als willensstark, aber auch als dickköpfig.

>> Medizinische Lage und Entscheidungsfindung

Zwei Jahre vor ihrem Tod stellte ein Neurologe fest, dass in ihrer weißen Hirnsubstanz kleinere Blutungen aufgetreten waren, die fortschreitende Parkinson-Symptome zur Folge hatten: Zunehmende Probleme beim Schlucken und Sprechen, ein starkes Zittern und eine Spastik des linken Arms. Die Behandlung mit dem Mittel Madopar linderte die Beschwerden nur vorübergehend.

Nur mit größtem Widerwillen war Frau G. ein Jahr vor ihrem Tod aus ihrer eigenen Wohnung in ein Pflegeheim gezogen, weil sie wegen ihrer Parkinson-Erkrankung keine Treppen mehr steigen konnte. Im Pflegeheim knüpfte sie anfangs neue Kontakte. Als aber die Schluckstörungen zunahmen, begann sie zu sabbern. Sie wollte deshalb nicht mehr zu den Mahlzeiten oder am Bridge-Tisch erscheinen, denn: „Das sieht doch scheußlich aus!“ Es fiel ihr auch zusehends schwerer, sich verständlich zu ma­chen, insbesondere in Gesellschaft mehrerer Leute. Das führte zu ihrer sozialen Isolierung.

Als sie ihren Wunsch äußerte, mit ärztlicher Hilfe aus dem Leben zu gehen, konnte sie bereits nicht mehr allein aufstehen und musste mit einem Lifter aus dem Bett gehoben weden. Ihr Essen wurde püriert, trotzdem bereitete ihr das Schlucken große Schwierigkeit. Sie hustete viel und konnte den Schleim aus den Atemwegen immer schlechter abhusten. Medikamente, um den Schleim flüssiger zu machen, halfen wenig. Weil sie den Schleim nicht herunterschlucken konnte, fiel ihr das Atmen schwer, bis hin zu gelegentlichen Erstickungsanfällen. Ihr wurde klar, dass diese Abhängigkeit nur noch zunehmen würde. Die soziale Isolation durch ihr undeutliches Sprechen gab für sie den Ausschlag, nicht mehr leben zu wollen.

Im Nachhinein glauben ihr Sohn und ihre Schwiegertochter, dass diese Beeinträchtigungen und deren Bedeutung für Frau G. nur ungenügend mit dem Hausarzt besprochen worden sind. Frau G. besaß das Antragsformular für ärztliche Sterbehilfe, hatte aber mit dem Ausfüllen und Unterschreiben gewartet. Als sie wieder einmal fast an ihrem Schleim erstickt wäre, bekam sie große Angst und beschloss, nicht mehr länger zu warten.

Sowohl der Hausarzt als auch die beiden Angehörigen beurteilten Frau G. im Rückblick als urteilsfähig und in der Lage, diese Entscheidung nach Abwägung von allem Für und Wider zu treffen. Der Hausarzt schätzte sie nicht als depressiv ein. Sie ­unterschrieb den schriftlichen Antrag auf ärztliche Sterbehilfe wegen ihrer Probleme beim Sprechen, Schlucken und Sabbern. Die Grenze dessen, was für sie ein sinnvolles soziales Leben bedeutete, war überschritten. Beim Gespräch mit dem Hausarzt, in dem sie diesen um ein tödliches Medikament bat, war die Schwiegertochter anwesend. Nachdem Frau G. ein Jahr lang damit gewartet hatte, den Antrag zu unterschreiben, erwartete sie nun, dass der Arzt bald ihren Wunsch erfüllen werde.

Der Hausarzt weigerte sich jedoch – nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil er sich durch Frau G. unter Druck gesetzt fühlte. Er war davon beeindruckt, dass Frau G. noch mit 80 Jahren regelmäßig Tennis gespielt hatte. Er glaubte, dass sie nur deshalb Mühe damit habe, die Behinderungen zu akzeptieren, weil sie im-mer in ausgesprochen guter physischer Verfassung gewesen war. Im Vergleich zu anderen Bewohnern des Pflegeheims hielt er das unverständliche Sprechen und das Sabbern nicht für so ungewöhnlich. Andere ältere Menschen, die ihren Speichel nicht schlucken konnten und ihn mit einem Taschentuch auffingen, kamen sehr wohl zu Tisch und spielten auch beim Bridge mit. Wenn er allein mit ihr sprach, konnte er sie verstehen. Der Hausarzt sah deshalb nicht ein, warum die Einschränkungen für Frau G. nicht hinnehmbar sein sollten. Schließlich spielte bei der Ablehnung ihrer Bitte um Sterbehilfe eine wichtige Rolle, dass keine tödliche Krankheit vorlag.

Am darauf folgenden Wochenende beschloss Frau G., sich selbst um ihren Tod zu kümmern: Sie entschied sich intuitiv, mit Essen und Trinken aufzuhören – eine Methode, die sie allerdings als erniedrigend bezeichnete. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter konnten sie nicht mehr von ihren Plan abbringen. Sie sagte: „Ich werde aufhören zu trinken, weil der Arzt mir nicht helfen will. Ich habe genug Willenskraft, um das durchzuhalten.“

>> Der Verlauf laut Aufzeichnungen des Pflegepersonals im Dienstbuch

Das Pflegepersonal notierte über die Schluckprobleme und das Abhusten des Schleims von Frau G.: „Sie isst und trinkt sehr schlecht, weil sie sich oft verschluckt und keine Luft mehr bekommt; einmal lief sie blau an.“

Tag 1: „Patientin beschließt, alle Medikamente sowie das Essen und Trinken zu verweigern in der Hoffnung, schnell zu sterben; heute Nacht trank sie noch ein Glas Wasser.“

Tag 2: „Aß und trank nichts, ließ kein Wasser und klagte über Schmerzen bei den Verrichtungen des Pflegepersonals. Der Haus-arzt verordnete Paracetamol-Zäpfchen (500 mg), bis zu sechs Mal täglich. Sie will nicht mehr aus dem Bett in den Stuhl gehoben werden.“

Tag 3: „Weigert sich immer noch zu essen und zu trinken. Sie äußert die Hoffnung, dass ihr der Arzt eine tödliche Dosis Barbi­turate verabreichen wird.“

Tag 4: „Sie klagt immer noch über Schmerzen. Die Paracetamol-Zäpfchen werden auf 1000 mg erhöht.“

Tag 5: Der Hausarzt forderte den Besuch eines SCEN-Arz-tes3 an, sagte jedoch, dieser Besuch sei nicht dringend.

Tag 6: „Patientin klagt über Schmerzen. Beim Aufwachen fragte sie: ‚Bin ich denn immer noch nicht tot?’“

Tag 7: „Sie reagiert weniger und hat Blasen im Mund.“

Tag 8 u. 9: Keine Berichte.

Tag 10: „Beim Besuch des SCEN-Arztes kann sich Frau G. nicht mehr verständlich äußern. Der Hausarzt verordnet Durogesic 25.“ Dies ist ein Fentanylpflaster (Opioid) in der Einstiegsdosis.

Tag 11: „Sie ist komatös. In Anwesenheit der Familie stirbt sie am Nachmittag.“

Ihre Schwiegertochter sagte über die Tage 8 und 9