Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.
Jetzt anmelden!
Jetzt Fan werden!
Annie Waye
Fateful Kiss. Geliebt und getäuscht
**Glück im Spiel, Verrat in der Liebe**
Als Kassie in einer Bar auf den scheinbar perfekten Kieran trifft und einen leidenschaftlichen Kuss von ihm bekommt, kann sie es nicht fassen. Sollte sie endlich auf einen Mann gestoßen sein, der sich nicht als kompletter Reinfall entpuppt? Doch als sich die beiden näherkommen, kann Kassie das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendetwas an Kieran seltsam ist. Sein nahezu übernatürliches Talent, Menschen zu beeinflussen und jede Wette für sich zu entscheiden, jagen ihr immer mehr Angst ein. Aber als sie vor dieser Liebe fliehen will, ist es bereits zu spät. Denn das Spiel um ihr Herz hat längst begonnen …
Annie Waye ist eine junge Autorin mit einer alten Seele. Sie ist auf der ganzen Welt zuhause und seit jeher der Magie von Büchern verfallen. Wenn sie schreibt, dann um fantastischen Figuren und wundersamen Orten Leben einzuhauchen. Und wenn sie gerade nicht an einem Roman arbeitet, bereist sie die Welt auf der Suche nach neuen Sehnsuchtsorten.
Though my soul may set in darkness, it will rise in perfect light;
I have loved the stars too fondly to be fearful of the night.
»THE OLD ASTRONOMER« von Sarah Williams
***
Mag meine Seele auch in der Dunkelheit versinken, in hellem Licht wird sie sich wieder erheben.
Zu sehr habe ich die Sterne geliebt, um mich vor der Nacht zu fürchten.
(frei übersetzt von Annie Waye aus »THE OLD ASTRONOMER« von Sarah Williams)
Die nächtliche Finsternis begleitete mich noch dann, als ich die Bar betrat. Bereits an der Türschwelle erkannte ich Shannons violett gefärbte Haare – und meine Mundwinkel sackten runter. Das kann doch nicht ihr Ernst sein!
Ich hob eine Hand und versuchte Shannons Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, aber obwohl sie mich herbestellt hatte, sah sie nicht einmal in meine Richtung. Alles in mir sträubte sich dagegen, die Bar zu durchqueren und sie notfalls an ihren Haaren heraus zu schleifen. Denn ich wusste genau, wie das enden würde.
»Shannon!«, rief ich, doch die laut dröhnende Musik verschluckte meine Stimme restlos. Widerstrebend setzte ich mich in Bewegung.
Wohin man auch blickte, stieß man auf finstere Nischen, in deren Schatten die Gäste beinahe verschwanden, je tiefer sie sich in die Stühle und Bänke zurücklehnten. Es war stickig, mit verschiedenen Noten von Alkohol und Rauch. Binnen weniger Sekunden spürte ich, wie meine Brust enger wurde. Normalerweise hatte ich kein Problem mit Bars, aber heute war das der letzte Ort, an dem ich sein wollte.
Obwohl es Sonntag war, war die Bar mehr als gut besucht. Das obligatorische Bier in der Hand, standen die Gäste dicht gedrängt in bunt gemischten Gruppen beieinander und schrien sich über die Musik hinweg an, weil das der einzige Weg war, sich zu unterhalten. Über all dem lag der widerlich penetrante Geruch von frisch gerauchtem Gras.
Mein Magen krampfte sich zusammen. Eine böse Vorahnung stieg in mir auf und ich beschleunigte meinen Schritt, zwängte mich entschlossen an den anderen Menschen vorbei. Sie alle waren in meinem Alter, und ihre Haarfarben glichen einem Wirbelsturm aus Regenbögen. Typisch für eine Bar, in der hauptsächlich Musik gespielt wurde, die schon in den 80ern hart am Mainstream vorbeigeschlittert war. Manchmal spielte hier eine Band live, aber nicht heute, am Abend vor Semesterbeginn.
Dass der morgige Tag verdammt wichtig für sie war, hatte Shannon mir eingebläut, bevor sie unsere gemeinsame Wohnung verlassen hatte. »Wenn ich bis elf nicht zurück bin, ist mir irgendwas zugestoßen!«, hatte sie mich vorgewarnt. »Such nicht nach mir, sondern ruf sofort die Polizei!« Es war jetzt halb zwölf, und ich war mir nicht sicher, ob ich erleichtert oder sauer auf sie sein sollte, weil sie am Leben und wohlauf war.
Nicht nur das – sie hatte Spaß. Unsere ganze Clique war hier. Shannon, Prince, Clara und zu meinem Pech auch Nick.
Sie nahmen mich erst wahr, als ich an ihrem Tisch in der hintersten Ecke der Bar angekommen war – mit verschränkten Armen und, darauf wollte ich wetten, einer Miene wie drei Tage Regenwetter.
Doch anstatt sich von meiner Laune anstecken zu lassen, breitete sich ein Strahlen auf Shannons Gesicht aus. Nach einem langgezogenen »Hey« rutschte sie zur Seite und quetschte Prince dabei zwischen sich und der Wand ein. »Du kommst gerade richtig, Kassie!«
Ich blinzelte. »Das sehe ich.« Ich nickte in Richtung Tür. »Los, wir hauen ab.«
Shannons Augen weiteten sich. »Was? Abhauen? Wer hat hier was von abhauen gesagt?«
Ich runzelte die Stirn. Ich konnte ihre Nachricht unmöglich falsch verstanden haben. SOS war alles gewesen, was sie mir geschickt hatte – zusammen mit ihrem aktuellen Standort. Für mich hatte das bedeutet, dass sie offensichtlich in eine Notlage der Kategorie Gruppenzwang geraten war. So wie es aussah, hatte ich es nicht rechtzeitig hergeschafft, um sie zu retten.
Sie hatte wieder Gras geraucht. Und wenn ich mir die gelösten Mienen der anderen so ansah, war sie nicht die Einzige. Ärger schoss in mir hoch, doch ich wusste, dass es Energieverschwendung war, ihn jetzt auf Shannon loszulassen – sie würde es in ihrem Zustand sowieso nicht verstehen. »Hast du seit dem letzten Mal nicht dazugelernt?«, fragte ich mit einem bitteren Unterton, während ich Nicks bedrohliche Präsenz neben mir immer deutlicher spürte. Ich wollte nicht hier sein. Nicht in der Nähe dieses Mannes. Und ich konnte kaum glauben, dass ich mich von Shannon immer noch regelmäßig genau dorthin ziehen ließ. In den vergangenen Monaten hatte Shannon immer wieder bis zur Besinnungslosigkeit gefeiert. Und ich war stets zur Stelle gewesen, um das, was noch von ihr übrig war, nach Hause zu schaffen.
Eigentlich verhielt sie sich mir gegenüber absolut unfair – schließlich war ich diejenige von uns, der man vor zwei Monaten das Herz gebrochen hatte. Aber während ich meine Gefühle in mich hineinfraß, benahm sie sich, als wäre sie diejenige, die ein zersplittertes Selbstbewusstsein wiederaufbauen musste.
Mein Psychologiestudium von vor zwei Jahren drängte sich an den Rand meines Bewusstseins und ich schob es vehement beiseite – in die allmählich überfüllte Schublade mit der Aufschrift abgebrochene Studiengänge.
»Wir gehen«, wiederholte ich mit Nachdruck. »Jetzt!«
Nick verdrehte die Augen. »Kühl dich ab, Victoria Beckham. Wir amüsieren uns doch nur ein bisschen.« Nick, der mal mit Shannon zusammen war und dann doch wieder nicht – ich hatte aufgehört nach dem Stand der Dinge zu fragen. Warum er gerade jetzt, in einer offensichtlichen Off-Phase, immer noch mit uns abhing, war mir ein Rätsel – und es ging mir gewaltig gegen den Strich.
Vor allem nach dem, was er getan hatte.
Ich ballte eine Hand zur Faust und öffnete sie wieder. Ich durfte nicht aus der Haut fahren. In ihrem Zustand würden mich die anderen sowieso nicht ernst nehmen.
»Lass mich raten.« Ich fixierte Nick. Niemals würde ich seinem Blick ausweichen und Schwäche zeigen. »Du hast das Gras aufgetrieben.«
Verwirrt runzelte Nick die Stirn. »Was?«, fragte er eine Spur zu laut. »Ich verstehe dich nicht!«
»Setz dich zu uns!« Shannon packte mich am Arm und zog. »Wir spielen jetzt Flaschendrehen!«
Unwillkürlich kämpfte ich gegen ihren Griff an. »Seid ihr nicht ein bisschen zu alt für so was?«
Mit einem lauten Knall stellte Clara ihre Flasche auf dem Tisch ab, die sie in den letzten Sekunden restlos geleert hatte. »Ist doch lustig!« Sie grinste mich an und stieß mit dem Finger gegen den Flaschenhals, um sie völlig umständlich umzuwerfen.
Clara war klein, geradezu winzig, mit kurzen braunen Haaren und einer überdimensionalen Brille auf der Nase. Sie sah nicht so aus, als würde sie zu uns – oder zu irgendwem – gehören, aber sie war bei jedem Konzert die Erste, die sich in den Moshpit warf.
Mit einem Ruck zog Shannon abermals an meinem Arm, und diesmal gab ich nach, wenn auch zögerlich. Gut, dass ich keinen Schlabberlook kannte und deshalb gestylt genug war, um eine Weile bleiben zu können, ohne negativ aufzufallen. Ich konnte meine Mitbewohnerin hier nicht allein lassen. Prince, Clara und Nick wohnten alle südlich von hier, in Richtung Stadtzentrum, während Shannon und ich eine Wohnung im Norden bezogen hatten. Und der Norden von Dublin – vor allem die Gegend, in der wir lebten – war kein Ort, an dem eine Frau wie Shannon nachts alleine herumlaufen wollte. Für mich galten andere Regeln: Man musste mir lediglich einen kurzen Blick zuwerfen, um zu wissen, dass man besser das Weite suchte.
Widerstrebend zog ich meinen Mantel aus.
»Zwei Männer und drei Frauen«, kommentierte ich unseren Tisch. »Etwas unausgeglichen, meint ihr nicht?«
Mit verschränkten Armen lehnte Nick sich zurück. »Also ich finde das großartig.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Komm mir einen Zentimeter näher«, knurrte ich, »und ich brech dir den Kiefer.« Er wusste, dass ich jedes Wort so meinte.
Ich spürte Shannons weiche Hand auf meiner Schulter.
»Hey! Wir spielen doch kein normales Flaschendrehen!«
Es war offensichtlich, dass sie mich damit beruhigen wollte. Stattdessen wurde mir übel. Ich hätte an der Tür kehrtmachen und nach Hause gehen sollen. Aber jetzt war es zu spät.
»Was soll das denn heißen?«
»Clara hat es gerade erfunden!«
Fast erlaubte ich es mir, mich zu entspannen. Ich hielt Clara für die mit Abstand Intelligenteste von uns – wenn die Idee von ihr stammte, dann …
»Es ist Flaschendrehen mit Fremden!«, platzte sie heraus und zerstörte mein Bild von ihr innerhalb eines Sekundenbruchteils. Sie platzierte die Flasche in der Mitte des Tischs. »Wenn die Öffnung auf einen von uns zeigt, zählt es nicht. Nur bei Fremden!« Sie grinste breiter, als ich es bei ihrem schmalen Mund für möglich gehalten hätte. »Das macht doch den Reiz der Sache aus!« Ihr kindliches Kichern nahm mir jegliche Hoffnung, dass das hier noch ein zivilisierter Abend werden würde.
Ich schielte zu Prince hinüber. »Und du spielst da mit?«
Unbeholfen zuckte er die Achseln, aber trotz seines dunklen Teints glaubte ich seine Wangen rot glühen zu sehen. Sein richtiger Name war Rajkumar, und als er sich mir als Prince vorgestellt hatte, hatte ich ihn zuerst für einen arroganten Idioten gehalten – bis ich erfuhr, dass Prince tatsächlich die direkte Übersetzung seines Namens ins Englische war. Als ich ihn kennengelernt hatte, war er gerade erst aus Delhi nach Dublin gezogen und hatte nach Anschluss gesucht. Ich fragte mich, ob er sich jemals ausgemalt hätte, ausgerechnet bei uns zu landen. Ich unterdrückte ein Seufzen. Wenn Prince Frauen ansprach, hatte er normalerweise kein Glück. Offenbar rechnete er sich bei einem bescheuerten Spiel bessere Chancen aus.
»Ich fang an!«, sagte er sofort und riss Clara regelrecht die Flasche aus der Hand.
Begeistert klatschte Shannon in die Hände. »Das ist so aufregend!«
»Es ist doch noch gar nichts passiert«, murmelte ich.
»Sag mal, Kassie«, ertönte Nicks nervtötende Stimme von gegenüber. »Warum bist du überhaupt hier, wenn du nicht in Stimmung bist?«
Ich widerstand dem Drang, ihm unter der Tischplatte vors Schienbein zu treten. Seit Shannon ihn angeschleppt hatte, war er darauf aus, mich aus der Gruppe zu ekeln – angefangen bei meiner Kleidung. So unterschiedlich wir auch waren, so einfach waren wir gestrickt: Prince hörte Pop und kleidete sich so mainstreamig, dass er in jeder Menschenmenge ungesehen untergehen könnte. Nick war angeblich früher ein Punk gewesen, aber da er inzwischen in einer Bank arbeitete, sah er einfach nur aus wie ein Langweiler, der krampfhaft versuchte hip zu sein. Shannon färbte sich jede Woche die Haare anders. Sie wandelte irgendwo zwischen Punk und Rock, und das war in Ordnung – genauso wie die Tatsache, dass Clara gerne einen auf graue Maus machte. Und ich? Eigentlich gehörte ich der Grunge-Szene an, hatte mich in den letzten Monaten aber der Emo-Musik hingegeben. Ich trug dasselbe wie immer: ein schwarz-weißes Karo-Shirt und eine enganliegende Hose, versteckt unter einem weiten schwarzen Mantel, der einen krassen Kontrast zu meinen hellblond gefärbten Haaren bildete. Das war nicht Emo genug für Menschen wie Nick, die andere gerne auf eine einzige Eigenschaft reduzierten. Und aus irgendeinem Grund schienen sich genau diese Menschen mehr an meinem Äußeren zu stören als ich selbst.
Claras schrilles Kreischen riss mich aus meinen Gedanken. Die Kilkenny-Flasche hatte sich gedreht – und zeigte direkt in die undurchdringliche Menschenmenge.
»Sie!«, schrie Clara. »Die mit den Dreadlocks!«
Prince machte große Augen. »B-b-bist du dir sicher?«
»Sicher ist sie sicher!« Shannon schob mich so energisch von der Bank, dass ich beinahe gestürzt wäre, und sprang selbst auf die Füße, um Prince durchzulassen. »Schnapp sie dir, Tiger!«
Wir blieben stehen, während unser Freund sich zögerlich auf die besagte Frau mit Dreadlocks zubewegte, die mit dem Rücken zu uns stand und ihn nicht kommen sah. Ich glaubte, mein Herz schneller schlagen zu spüren – Shannon hatte recht. Dieses Spiel war wirklich aufregend. Ich hoffte inständig, dass Prince endlich einen Glückstreffer landen würde – bis er sich der unbekannten Schönheit in den Weg stellte und seine Lippen ungestüm auf ihre presste.
Ich konnte nicht einschätzen, wie viele Sekundenbruchteile sie einander berührten, da hatte sie auch schon einen Satz zurückgemacht. Sie brüllte vor Entsetzen, und dann machte es Klatsch!, als ihre Hand mit voller Wucht in seinem Gesicht landete.
Ich atmete zischend ein und wandte den Blick ab. »Seid ihr sicher, dass ihr nicht was anderes spielen wollt?« Oder einfach nach Hause gehen wollt?
Tatsächlich war Shannons Lächeln etwas eingefroren. Mit besorgter Miene beobachtete sie Prince, der wie ein getretener Hund zu uns zurücktrottete.
Er rieb sich die Wange, dann grinste er verlegen. »Nächstes Mal.«
Die anderen drei brachen in schallendes Gelächter aus, und ich fragte mich, wie viel Selbstbewusstsein in einem einzigen Mann stecken konnte.
»Jetzt bin ich dran!« Noch bevor ihr Po die Bank berührt hatte, drehte Shannon die Flasche … die sich genau zwei Zentimeter weiter bewegte und geradewegs auf Nick zeigte. Sofort lehnte sie sich vor, um ihn zu küssen.
»Zählt nicht!« Clara hielt sie auf, ehe Nick reagieren konnte.
Shannon ließ die Schultern hängen. »Ist ja gut!« Sie legte mehr Kraft in ihren zweiten Versuch. »Jackpot!«, rief sie, und ehe ich auch nur ausmachen konnte, wen die Flasche für sie auserkoren hatte, hatte sie sich an mir vorbeigezwängt. »Und du«, forderte sie Nick auf, »siehst besser ganz genau hin!«
Irritiert blickte ich ihr nach. Ich wurde nicht schlau aus den beiden. Waren sie nun doch wieder zusammen?
Shannon tänzelte zu einem Dunkelhaarigen, der hier ziemlich oft abhing. Anstatt wie Prince gleich aufs Ganze zu gehen, sprach sie ihn an und machte ihm bilderbuchmäßig schöne Augen. Nach ein paar Worten nickte sie in unsere Richtung. Der Fremde ließ den Blick über uns hinweg schweifen, und ich spürte eine Schamesröte in mir aufsteigen, von der ich normalerweise verschont blieb.
»Ist Vorwarnen erlaubt?«, fragte Nick gedehnt.
»Gute Frage«, erwiderte Clara ratlos.
In diesem Moment nickte Shannons Opfer, beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf den Mund.
Prince schnaubte. »So hätte ich das auch gekonnt.«
»Klar doch«, sagte Clara trocken.
Nick blieb still.
Ich griff nach Shannons Cider und nahm ein paar große Schlucke. Die brauchte ich, wenn ich hier auch nur weitere fünf Minuten überstehen wollte. Dass ich hätte gehen sollen, wurde mir spätestens klar, als Shannon zu uns zurückkehrte. Auffordernd sah sie mich an. »Und jetzt bist du an der Reihe!«
Mein Herz machte einen Satz.
»Kommt nicht infrage!«, gab ich entschieden zurück. »Ich sehe hier nur zu, klar?«
»Ach, komm schon, Kassie!«, mischte Clara sich ein. »Das ist wirklich witzig!«
»Nein.« Wenn es ein Wort gab, mit dem meine Freunde mich beschreiben würden, dann war es »ernst«. Leg dich nicht mit Kassie Burns an! war ihr absoluter Lieblingsspruch. Und ich wusste, dass sie die Sache auch in jeder anderen Situation auf sich hätten beruhen lassen. Weil sie mich kannten. Weil ich ihnen etwas bedeutete.
Aber dann war da noch Nick. »Wenn du dich wie ein Emo verhalten willst, solltest du dich auch wie einer anziehen.«
Meine Hand verkrampfte sich um Shannons Glas. Noch ein Wort und ich würde ihm eine Cider-Dusche verpassen.
Doch ehe ich mich von meinem Ärger überwältigen lassen konnte, hatte Shannon sich neben mich gequetscht.
»Kassie«, sagte sie leise und wirkte auf einmal völlig nüchtern. »Gib dir ’nen Ruck. Du hast dich seit der Trennung nur eingeigelt und bist kaum vor die Tür gegangen. Du musst wieder unter Leute kommen. Du brauchst das hier!«
Ich spürte einen Stich in der Brust – vielleicht hatte sie recht. Es war nur ein blödes Spiel. Es hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Und womöglich war das hier wirklich genau das, was ich brauchte … Auf einmal realisierte ich, dass Shannon mich von Anfang an reingelegt hatte. Von wegen SOS – sie hatte mich unter einem falschen Vorwand hierhergelockt, damit ich zumindest für einen Abend aus meinem schwarzen Loch kletterte.
»Also gut«, gab ich nach und versuchte, Claras Gejubel zu ignorieren. Ich legte die Hand auf die Flasche. In ihrem Inneren entdeckte ich einen halben Schluck Bier, den Clara nicht getrunken hatte und der jetzt bei jeder Runde wie ein Strudel durch den gläsernen Körper wirbelte. Ich konnte kaum glauben, dass ich das hier tat. Aber hatte ich denn eine Wahl? Halbherzig setzte ich die Flasche in Bewegung. Sie machte eine lustlose Dreivierteldrehung und zeigte geradewegs in eine Gruppe Männer.
Und wieder hatte Shannon offenbar sofort den Kandidaten ausgesucht: »Kieran McAllister.« Sie nickte bedächtig. »Nicht schlecht.«
»Kieran wer?«, wiederholte ich entgeistert.
Ungeniert deutete Shannon in seine Richtung – ich war nur froh, dass er mit dem Rücken zu uns stand. »Da hinten. Braune Haare, Ohrstecker, Tattoos.«
Irritiert starrte ich ihn an. Von meiner Position aus konnte ich nicht allzu viel erkennen. Er trug eine Jeansjacke über einem Kapuzenpullover und dazu schwarze Jeans, die seine dünnen Beine betonten. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen – und das hatte was zu bedeuten, schließlich wohnten wir quasi hier. »Wer zur Hölle ist das?«, fragte ich.
Sie grinste. »Warum gehst du nicht zu ihm und findest es heraus?«
Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß nicht, ob …«
»Du schaffst das, Kassie!«, feuerte Clara mich an.
»Wir glauben an dich, Galway Girl!«, stimmte Prince überflüssigerweise mit ein und erntete einen vernichtenden Blick von mir. Meine Eltern lebten in der Nähe von Galway – und ich hasste diesen Song.
»Sie zieht den Schwanz ein«, kommentierte Nick.
Abrupt sprang ich auf die Füße. »Fick dich!«, spuckte ich aus, schob mich an Shannon vorbei und ging geradewegs auf Kieran McAllister zu.
Doch mit jedem Schritt wurde ich unsicherer. Nervöser. Mein Selbstvertrauen wich einer Schüchternheit, die mich immer befiel, wenn ich einen Mann ansprechen wollte – weshalb ich es meistens bleiben ließ. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn ich mich meinen Freunden gegenüber beweisen wollte – wenn ich Nicks Maul stopfen wollte –, dann musste ich das hier tun. Ich näherte mich Kieran von der Seite her und saugte dabei jedes Detail, das ich von ihm erhaschen konnte, in mich auf: seine schmale Statur und seine langen Beine, die dafür sorgten, dass er mich auch jetzt, mit High Heels, ein klein wenig überragte. Seine braunen, feinsäuberlich zur Seite frisierten Haare. Den Ohrstecker, von dem Shannon gesprochen hatte – genauer gesagt den mittelgroßen Tunnel in seinem linken Ohrläppchen. Die bunten Schlieren, die sich seinen Arm hinaufzogen und Teil eines größeren Tattoos sein mussten. Auch wenn ich sein Gesicht kaum sehen konnte, wusste ich genau, was sie mit nicht schlecht gemeint hatte.
Ein leichtes Prickeln breitete sich in mir aus. Wenn sie betrunken waren, fielen meinen Freunden immer wieder dumme Spiele ein. Aber das hier war etwas anderes. Sie schickten mich auf ein Blind Date – nur dass es dabei nichts weiter als einen Kuss geben würde. Und dass mein Date keine Ahnung von seinem Glück hatte.
Ich hatte nichts zu verlieren. Und doch schlug mir das Herz bis zum Hals. Die stinkende Luft um mich herum schien vor mir zurückzuweichen, denn auf einmal konnte ich kaum mehr atmen. Ich blieb stehen und war ihm schon so nahe, dass er mich bestimmt gehört hätte, hätte ich etwas gesagt. Aber das tat ich nicht. Ich spürte einen dicken Kloß im Hals. Hilfesuchend drehte ich den Kopf – und blickte in vier Paar erwartungsvoller Augen. Nick hatte eine Sie-macht-es-doch-eh-nicht-Miene aufgesetzt. Und genau deshalb durfte ich jetzt nicht zögern.
Ich riss mich am Riemen und überbrückte mit einem großen Schritt die letzte Distanz zwischen mir und Kieran McAllister. Wie von selbst teilten sich meine Lippen.
»Hi.«
Sofort schalt ich mich dafür. Was in aller Welt tat ich da? Ich sollte ihn einfach nur küssen und dann –
Kieran drehte sich um und mein Herz machte einen Satz. Ein Teil von mir hatte damit gerechnet, dass ich enttäuscht sein würde. Dass mir seine Vorderseite nicht gefallen würde. Aber jetzt wusste ich nicht mehr, wo ich hinsehen sollte. Zu seinen markanten Gesichtszügen und den hohen Wangenknochen? Zu seinen dunklen, perfekt geschwungenen Augenbrauen, von denen er eine fragend hob? Oder in seine blauen Augen, deren Blick sich in meinen Körper und direkt in mein Herz bohrte? Sie wirkten hellwach. Er war nicht bekifft, vielleicht noch nicht einmal angetrunken. Nach all den Reinfällen, die ich in den letzten Jahren in Dublin erlebt hatte, hätte ich niemals für möglich gehalten, jemandem wie ihm zu begegnen. Aber da war er. Und er war perfekt.
N-nein, natürlich war er nicht perfekt. Er war passabel. Er sah gut aus, und er war auch voll und ganz mein Typ. Nicht mehr. Und doch ließ er den Sekundenbruchteil, den wir einander ansahen, wie eine Ewigkeit erscheinen. Eine heiße Röte schoss mir ins Gesicht und breitete sich zeitgleich mit einer Unsicherheit aus, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Was war nur mit mir los?
Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn noch viel intensiver als Kierans Blick waren die meiner Freunde, die in meine Seite stachen. Ich nahm meinen letzten Rest Mut zusammen. »Sorry!« Das war die einzige Ankündigung, die er bekam, bevor ich den Kopf reckte und meine Lippen auf seine drückte.
Mit dem, was dann geschah, hatte ich nicht gerechnet. Ehe ich auch nur auf den Gedanken kommen konnte, den Kuss so schnell enden zu lassen, wie er für Kieran gekommen war, lehnte dieser sich in meine Richtung und erwiderte ihn.
Ich wusste nicht, wie mir geschah. Meine Schüchternheit explodierte in einem Regenbogen aus Endorphinen. Eine wohlige Hitze stieg in mir auf und betäubte meine Gedanken noch mehr, als das halbe Glas Cider es gekonnt hatte. Ich hatte überhaupt keine Gelegenheit zu verarbeiten, was da gerade passierte.
Mein Körper machte, was er wollte. Wie von selbst legten sich meine Hände auf seine Wangen. Meine Fingerspitzen berührten sie nur leicht, aber das war genug, um winzige Blitze durch mein Inneres zu senden. Seine Lippen auf meinen fühlten sich rau an wie die Wellen, die gegen die Klippen im Westen des Landes schlugen, und doch passten sie sich perfekt an meinen zarten Gegenpart an, als wären sie für einander geschaffen worden. Kieran roch nach Aftershave – nicht so aufdringlich wie die Kerle, die sich von Kopf bis Fuß mit AXE einsprühten und in jedem Raum, den sie betraten, eine erschlagende Duftwolke hinterließen. Es war nicht mehr als eine milde Note, die einen leicht, kaum merklich berührte, sodass man unbedingt mehr davon wollte, und zwar um jeden Preis. Sogar als sich Kierans Hände auf meine Oberarme legten, war sein Kuss so sanft wie die Strahlen der Morgensonne. Ich war mir absolut sicher, dass jeder andere inzwischen versucht hätte, mir die Zunge in den Hals zu schieben. Aber das tat er nicht. So war er nicht. Er war anders. Und das war alles, was zählte.
Bis Shannons und Claras Jubelschreie mich abrupt von Wolke Sieben stießen. Ungebremst schlug ich auf meinem geistigen Boden der Tatsachen auf und erinnerte mich, wo ich war. Ruckartig löste ich mich von Kieran, doch unsere Gesichter blieben nur eine Haaresbreite voneinander entfernt.
Er lächelte leicht.
»Hi«, sagte er und wirkte völlig entspannt.
Ganz anders als ich, deren Herz wie wild in ihrer Brust hämmerte. Beschämt senkte ich den Blick.
»Tut mir leid«, murmelte ich.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich zurück an den Tisch kam. Auf einmal saß ich mit prickelnden Wangen neben Shannon.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Kieran so drauf ist«, stellte sie fest.
Ich räusperte mich und vermied es, in seine Richtung zu sehen. »Also kennst du ihn?«
»Kennen würde ich das nicht nennen«, erwiderte sie. »Er ist erst vor einer Woche oder so hergezogen.« Sie sah mich schief an. »Du solltest eindeutig öfter rauskommen. Ich glaube, wir müssen gar nicht mehr weitermachen«, wandte sie sich dann an die anderen. »Kassie hat das Spiel so was von gewonnen!«
»Hey!«, beschwerte sich Clara. »Ich war noch gar nicht dran!«
Was danach passierte, bekam ich überhaupt nicht mehr mit. Ihre Stimmen wurden in meinem Kopf zu einem unverständlichen Wirrwarr, der sich nicht mit den Gefühlen messen konnte, die durch meinen Geist stoben. Immer wieder ertappte ich mich dabei, in der Menge nach einem vertrauten Gesicht Ausschau zu halten. Manchmal bildete ich mir ein, Kieran würde nach meinem Blick suchen, sich aber genau in dem Moment abwenden, in dem ich den Kopf drehte.
Ich wusste nicht, wie diese Dinge normalerweise liefen. Ich konnte ihn doch unmöglich ansprechen, oder? Schließlich war ich ihm gerade eben schon viel zu nahegetreten. Er war derjenige, der an unseren Tisch kommen sollte. Vorausgesetzt, er hatte Interesse an mir.
Warum sollte er kein Interesse haben? Schließlich hatte er mich zurückgeküsst. Das musste doch etwas bedeuten. Warum interessiert dich das überhaupt, Kassie?
Ich biss mir auf die Unterlippe. Meine letzte Beziehung war vor nicht einmal zwei Monaten in die Brüche gegangen. Und von einer Heilung war ich noch meilenweit entfernt. Da ich nur wenige Menschen an mich heranließ, war Shannon die Einzige, die mein Innenleben kannte. Ich war verletzt und ich war todtraurig. Ich war verlassen worden, und zwar auf die übelste Weise, die ich mir nur vorstellen konnte. Mein Herz wollte nichts lieber, als dass ich mich in die Arme eines Mannes wie Kieran warf, der es flicken könnte. Aber ich wusste, dass das ein Fehler wäre. Denn jetzt war ich viel zu verletzlich. Und wenn ich zuließ, dass andere das ausnutzten, gäbe es am Ende nichts mehr, was noch heilen könnte.
Als ich mich abermals in der Bar umsah, war Kieran weit und breit nirgends zu finden. Mein Herz krampfte sich zusammen. Er war gegangen. Er hatte mich geküsst und dann war er einfach so gegangen.
Ich hatte ihn zum ersten Mal gesehen. Was, wenn es auch das letzte Mal gewesen war? Eine tiefe Beklommenheit machte sich in mir breit, der ich nicht einfach so nachgeben wollte.
»Entschuldigt mich kurz«, murmelte ich, auch wenn die anderen mich überhaupt nicht hören konnten, weil sie längst wieder ins Flaschendrehen vertieft waren. Ich griff nach meinem Mantel und stand auf. Ich drehte eine Runde durch die Bar in der Hoffnung, Kieran doch noch in einer dunklen Nische zu entdecken – aber er war weg. Definitiv. Warum war er einfach so gegangen? Hatte es an mir gelegen? Hatte ich etwas Falsches in den Kuss hineininterpretiert? War er überhaupt nicht …
Ich atmete tief durch – nur um eine neue Welle Gras-Gestank in die Nase zu saugen. Übelkeit stieg in mir auf und ich beschloss nach draußen zu gehen, wohl wissend, dass es dort vielleicht noch schlimmer werden würde. Aber ich brauchte ein paar Minuten für mich, um einen klaren Kopf zu bekommen. Und in Momenten wie diesen fühlte ich mich sogar in der lebhaftesten Menschenmenge allein.
***
Ich schlüpfte durch die Tür nach draußen, wo mir die kalte Nachtluft sofort bis in die Knochen drang. Ich zog mir den schwarzen Mantel enger um den schmächtigen Körper, für den ich in der Schule ständig gehänselt worden war.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber hier – vor der Tür, am Rande einer finsteren, schlecht beleuchteten Gasse – ging es mir kein Stück besser als drinnen. Die Bar war die einzige weit und breit. Den Rest der Straße flankierten heruntergekommene Wohngebäude. Hinter manchen Fenstern brannte Licht, andere Zimmer waren vollkommen in Schwärze gehüllt. Keine Menschenseele war unterwegs, und es wäre vermutlich totenstill gewesen, würde die Musik der Bar nicht nach draußen dröhnen.
Ich war schon viel zu lange hier. Shannon wollte natürlich nicht mit mir nach Hause, das hatte sie nie vorgehabt. War ich deshalb dazu verpflichtet, darauf zu warten, bis sie sich eines Besseren besann?
Meine Beine handelten, bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte. Wie von selbst sorgten sie dafür, dass ich mich abwandte und in Richtung Hauptstraße schritt. Weit kam ich allerdings nicht.
»Gehst du schon nach Hause?«, ertönte eine seltsam vertraute Stimme hinter mir.
Erschrocken fuhr ich herum – und sah erst jetzt, dass ich hier draußen nicht allein war. Ein paar Meter entfernt lehnte ein gutaussehender Mann mit Tunnel im Ohr an der Mauer. Er rührte sich nicht, aber er hatte mich mit seinem Blick auf eine Weise fixiert, die mich magisch anzog. So automatisch sich meine Füße von der Bar wegbewegt hatten, so kehrten sie jetzt wieder dorthin zurück.
»Du bist noch hier«, stellte ich fest und hoffte, dass die Woge der Erleichterung, die über mir zusammenschlug, nicht zu hören war. Ich blieb in zwei Schritten Entfernung zu ihm stehen, unschlüssig, ob ich mich zu ihm gesellen sollte oder nicht. Nicht, dass ich das nicht wollte – nur befürchtete ich, dass ich ihm heute für seinen Geschmack schon nahe genug gekommen war.
Kieran zuckte die Achseln. »Die Nacht ist noch jung.« Mir entging der Ausdruck in seinen Augen nicht, mit dem er mich bedachte. Viele Männer starrten mich an wie ein Raubtier seine Beute – bis sie meiner finsteren Miene begegneten. Er aber betrachtete mich vielmehr mit einer Neugierde, die ich zuletzt als Kind verspürt hatte. »Bleib doch noch ein wenig.« Obwohl noch eine Welt Abstand zwischen uns lag, war es, als könnte ich seine Körperwärme spüren, die meine Haut prickeln ließ.
Mein Herz begann zu flattern. Ich gab mir einen Ruck und überbrückte die restliche Distanz zu ihm. Während ich mich neben ihn an die Mauer lehnte, schienen unsere Arme für einen kurzen Moment eine hauchzarte Berührung zu teilen. Auf einmal war ich viel ruhiger – und schaffte es irgendwie, das Wort an ihn zu richten, ohne dabei zu stottern: »Du heißt Kieran, nicht wahr?«, fragte ich.
Er warf mir einen erstaunten Blick von der Seite zu. »Woher weißt du das?«
»Ich habe da so meine Quellen«, wich ich grinsend aus und hoffte, dass ich nicht wie der letzte Stalker rüberkam. »Ich bin Kassie.«
»Kassie«, wiederholte er. »Ist das eine Abkürzung?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Einfach nur Kassie.« Der Moment der Stille, der auf meine Worte folgte, fühlte sich unangenehm an. Vor allem, weil es schließlich diese unausgesprochene Sache zwischen uns gab. Ich atmete tief durch. Dann gab ich mir einen Ruck: »Tut mir leid. Wegen … dem, was vorhin passiert ist«, umschrieb ich es galant.
Obwohl die Tatsache, dass er nicht sofort die Flucht ergriffen hatte, bedeuten musste, dass er keinen Groll gegen mich hegte, fürchtete ich mich vor seiner Antwort. Denn Kieran ließ sich Zeit damit.
»Das muss es nicht.«
Beinahe wäre ein Seufzen meinen Lippen entwichen, doch ich konnte es im letzten Moment herunterschlucken.
»Es kam etwas unerwartet, aber … es war eine schöne Überraschung.« Er blickte in den dunklen Nachthimmel hinauf. »Und nur die wenigsten Überraschungen im Leben sind das.«
»Das kannst du laut sagen«, murmelte ich. Dann wurde es wieder still – und meine Anspannung wuchs mit jeder Sekunde. Aus irgendeinem Grund wollte ich, dass er weitersprach, obwohl es nichts mehr zu sagen gab. Ich wollte seine Stimme hören, wollte, dass er mir Aufmerksamkeit schenkte, dass er mich auch nur ansah … Und realisierte, dass ich gerade dabei war, einen furchtbaren Fehler zu begehen. Ich durfte nicht mein ganzes Glück von Kieran abhängig machen, von einem Mann, den ich überhaupt nicht kannte. Genau das hatte ich vor Kurzem schon einmal getan, und am Ende war ich diejenige gewesen, deren Herz gebrochen war. Ich durfte es nicht noch mal so weit kommen lassen. Und doch blieb ich, wo ich war. Rührte mich nicht von der Stelle. Ging nicht nach Hause. Weil die Hoffnung meines geschundenen Herzens größer war als sein Schmerz.
Obwohl ich nicht rauchte, wünschte ich mir sehnlichst eine Zigarette herbei. Ein Glimmstängel in der Hand erlaubte es einem, nichts zu sagen, ohne dabei komisch oder asozial zu wirken. So standen wir jedoch einige unendlich lange Sekunden nebeneinander, starrten die abgenutzte Wand des gegenüberliegenden Gebäudes an und sprachen kein Wort.
Ich war nervös. Es war mir nicht schwergefallen ihn zu küssen, aber jetzt befürchtete ich, dass ihn jede Silbe, die ich aussprach, vertreiben könnte.
»Also …«, brachte ich irgendwann raus. »Shannon hat gesagt, du bist gerade erst hergezogen?«
Kieran runzelte die Stirn. »Wer ist Shannon?«
»Meine Mitbewohnerin. Im Moment hat sie violette Haare. Vor zwei Wochen waren sie noch pink«, schob ich hinterher.
Seine Miene klärte sich, als erinnere er sich. »Ja«, beantwortete er meine ursprüngliche Frage. »Anfang des Monats. Ich wohne im Osten der Stadt.«
»Also bist du neu in Dublin«, mutmaßte ich, doch Kieran schüttelte den Kopf.
»Ich bin hier aufgewachsen. Vor ein paar Jahren bin ich von hier weg.«
»Warum?«, fragte ich erstaunt. Die meisten Menschen, die ich kannte, waren nach Dublin gezogen. Nur wenige Bekannte waren von hier verschwunden. Wohin sollten sie auch gehen? Diese Stadt bot einem einfach alles – bis sie einen packte und in einen Abgrund zog, in dem man für immer verschwand.
Nachdenklich blickte er in den Himmel. »Es sind ein paar Dinge passiert, die ich hinter mir lassen musste. Es immer noch muss.«
Ich spürte einen Stich in meiner Brust. Genau das hatte ich auch noch vor mir. »Und warum bist du dann wieder zurückgekommen?«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Kieran den Kopf zu mir drehte. Unwillkürlich wandte ich mich ihm zu und sein Blick allein reichte aus, um eine Hitze in mir zu erzeugen, unter der ich mir am liebsten den Mantel von den Schultern gestreift hätte.
»Ich hab hier noch etwas zu erledigen.« Er seufzte lautlos. »Eine letzte Sache, bevor ich diese Stadt für immer hinter mir lassen kann.«
Ich wagte es nicht nachzuhaken. »Wer weiß?«, sagte ich stattdessen. »Vielleicht wird dir aber auch klar, dass Dublin gar nicht so schlecht ist, wie du glaubst. Ich meine, sieh mich an!« Ich lächelte ihn an. »Ich hab schon so oft versucht von hier abzuhauen, und ich bin immer noch hier.« Als Kieran mein Lächeln erwiderte, entfachte er einen Wirbelsturm aus Schmetterlingen in meiner Magengegend.
»Vielleicht hast du recht.« Für einen unendlich langen Moment sahen wir einander einfach nur an. »Hey«, schlug er dann vor. »Warum gehen wir nicht in eine Bar, die etwas weniger …« Er warf einen zweifelnden Blick in Richtung Tür.
»Abgefuckt ist?«, fragte ich grinsend. Doch ich biss mir auf die Zunge, bevor ich Ja sagen konnte. Ich hatte heute nicht einmal herkommen wollen. Und das aus einem ganz bestimmten Grund. »Ich kann nicht«, wehrte ich ab. »Morgen ist ein wichtiger Tag für mich.« Mein dritter wichtiger Tag, um genau zu sein. Oder auch mein dritter erster Tag im Studium. Ich hoffte, es würde der letzte sein. »Ich sollte besser nach Hause gehen.«
Ich zog mein Handy aus der Manteltasche und tippte eine kurze Nachricht in den Gruppenchat:
Bin weg. @Nick Keen: Wenn Shannon heute Nacht nicht nach Hause kommt, reiße ich dir die Eier ab.
Bevor ich auf Senden drücken konnte, überlegte ich es mir anders und löschte den letzten Satz. Stattdessen schrieb ich:
Pass auf Shannon auf.
»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, fragte Kieran. »Die Gegend hier ist nicht besonders sicher.«
Ich schnaubte belustigt. »Zufällig wohne ich in dieser Gegend.«
Kierans Miene verfinsterte sich. Nord-Dublin hatte seinen Ruf weg. »Dann bringe ich dich besser nach Hause.«
Ich blinzelte. Das klang nicht wie ein Angebot oder eine Frage – sondern eher wie ein Beschluss.
»Nicht nötig«, hielt ich dagegen. »Wirklich. Ich lebe hier schon seit Jahren und es ist noch nie was passiert.« Ein Teil von mir wollte, dass er mich nach Hause brachte – und mehr. Aber wenn es eines gab, worauf ich mich immer verlassen konnte, dann war es meine Stimme der Vernunft.
»Also gut.« Kieran stieß sich von der Wand ab. »Wie wäre es, wenn wir eine Münze werfen?«
Irritiert sah ich ihn an. »Eine Münze?«
Schon hatte er einen Euro aus seiner Jackentasche gezogen. »Kopf: Du setzt dich durch«, schlug er vor. »Zahl: Ich bringe dich sicher nach Hause.«
Ich verdrehte die Augen. »Es ist ja nicht so, als würde ich es ohne dich nicht sicher nach Hause schaffen.«
Kieran hob eine Braue. »Haben wir einen Deal?«
Ich dachte kurz nach. Meine Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Und was hatte ich schon zu verlieren? Ich würde ihn nicht über meine Türschwelle lassen. Auch, wenn ich schon jetzt in seinen blauen Augen zu versinken drohte … Nein. Auf gar keinen Fall würde ich ihn reinbitten und einen Fehler begehen, den ich nicht mehr rückgängig machen könnte. Und das Absurde an der ganzen Sache war, dass ich mich damit nicht einmal vor Kieran schützen wollte, sondern vor mir selbst. Ich zuckte die Achseln. »Von mir aus.«
Kieran lächelte leicht. »Spielschulden sind Ehrenschulden, Kassie.«
Ich stöhnte. »Wirf einfach die verdammte Münze.«
»Also gut.« Er schnippte sie in die Luft und fing sie trotz des schlechten Lichts sicher in seiner Faust. Den Rücken seiner anderen Hand benutzte er als Unterlage, legte den Euro darauf ab und deckte ihn auf.
Es war Zahl.
Unverwandt starrte ich sie an. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder ärgern sollte.
»Ich würde jetzt gerne ›Tut mir leid sagen‹«, kommentierte Kieran meine Niederlage trocken, »aber das tut es nicht.«
»Na schön. Ist sowieso bloß ein paar Straßen weiter.« Ein Teil von mir wünschte sich, es wäre weiter. Dass ich eine ganze Stunde Fußweg von hier entfernt wohnte. Oder auf der anderen Seite der Welt – auf dem Mond! Einfach nur, weil das bedeuten würde, noch mehr als fünf Minuten mit Kieran verbringen zu können.
Clara – eine nüchterne Clara – hätte mich davor gewarnt, Kieran zu mir nach Hause zu führen. Schließlich kennst du ihn überhaupt nicht! Er könnte wer weiß wer sein! Doch ich lebte hier schon seit einer Ewigkeit. Und ich wusste mich zu verteidigen. Leg dich nicht mit Kassie Burns an. Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich ihre unausgesprochene Warnung in den Wind schlug – ich hatte nicht das Gefühl, dass Kieran Böses im Schilde führte. Obwohl ich ihn nicht kannte, wollte ich ihm vertrauen. Auch wenn es bescheuert klang, hatte sein Kuss etwas Aufrichtiges, etwas Ehrliches an sich gehabt. Und selbst nach allem, was geschehen war, glaubte ich immer noch an das Gute im Menschen.
Wir setzten uns in Bewegung und schritten nebeneinander her. Dabei kamen wir uns manchmal so nah, dass sich unsere Handrücken kaum merklich berührten. Immer, wenn sie einander streiften, fuhren unzählige Blitze in meine Haut und elektrisierten mein Innerstes.
»Also, Kassie«, hob Kieran an. »Was ist deine Geschichte?«
Verwirrt sah ich ihn an. »Meine Geschichte?« Ich hoffte, dass er nicht auf irgendeinen spirituellen Schwachsinn hinauswollte. Davon hatte ich bei einem meiner Exfreunde schon genug bekommen.
»Deine Freunde«, erwiderte er, »sind ohne dich hergekommen. Du bist viel zu spät aufgetaucht, hast den ganzen Spaß verpasst, dir kein einziges Getränk bestellt und bist jetzt auf dem Weg nach Hause.«
»Ach«, sagte ich trocken. »Diese Geschichte.« Also hatte er mich doch beobachtet! Ich atmete tief durch. »Es geht mir nur um Shannon. Immer wenn ich glaube, sie braucht mich, stellt sich das genaue Gegenteil heraus.«
Ein paar Sekunden lang blieb er still. »Ich denke«, antwortete er dann, »manche Menschen weiß man erst zu schätzen, wenn sie fort sind.«
Er hatte keine Ahnung, welchen brennenden Schmerz er mit diesen Worten in mir heraufbeschwor. Ich konnte spüren, wie sich der dunkle Ort in meinem Herzen auszudehnen begann, wie so oft in den letzten zwei Monaten. Immer und immer wieder hatte ich versucht, ihn endgültig aus meinem Inneren zu verbannen – vergeblich.
»Manche Fehler können nun mal nicht rückgängig gemacht werden«, sagte ich leise.
Was dann geschah, kam völlig unerwartet: Kieran lachte. Damit brachte er mich so aus dem Konzept, dass die Dunkelheit unversehens fortgewischt wurde.
Irritiert und auch etwas gereizt blickte ich ihn an. »Was ist daran so lustig?«
»Komm schon«, wehrte er ab. »Du redest wie eine alte Frau. Wie alt bist du? Zwanzig?«
»Einundzwanzig.« Plötzlich fühlte ich mich absolut kindisch, ihn wegen dieses einen läppischen Jahres korrigiert zu haben.
»Wenn das so ist«, erwiderte Kieran völlig entspannt, »ist für dich noch alles offen.«
»Woher willst du das wissen?«, gab ich zurück. »Du kennst mich überhaupt nicht.«
Er zuckte die Achseln. »Aber ich kenne mich.«
»Was soll das denn …« Ich stockte, als Kieran plötzlich stehenblieb und mir eine Hand auf die Schulter legte.
»Wir sollten hier links gehen«, sagte er und nickte in die entsprechende Richtung.
Ich runzelte die Stirn. Als wüsste er besser als ich, wo sich meine Wohnung befand. »Geradeaus ist kürzer«, entgegnete ich. Ich wollte mich von ihm losmachen, doch sein Griff war überraschend fest. »Kieran?«
Er sah mich nicht einmal an. Stattdessen hielt er den Blick auf eine der Gassen gerichtet, die von dieser Straße abzweigten. Dort war nichts und niemand zu sehen.
»Keinen Schritt weiter.«
Sein Tonfall ließ eine Gänsehaut meine Arme hinaufkriechen. Ich wusste nicht, ob ich mich vor ihm fürchten sollte oder vor dem, wovon er sprach.
In diesem Moment hörte ich es. Ein, zwei spitze Schreie irgendwo in der Ferne. Mein Blick zuckte abermals zu der Stelle, die Kieran schon die ganze Zeit fixiert hatte. Dort rannten gerade zwei Mädchen auf die Straße. Ihre Stimmen waren so verzerrt, dass ich mir nicht sicher war, ob ich die Geräusche, die sie von sich gaben, als Kreischen oder Lachen einordnen sollte. Sie mussten um die achtzehn sein, vielleicht auch jünger – und sturzbetrunken. Ihre Bewegungen waren unkontrolliert – aber nicht annähernd so sehr wie die der beiden Jungen, die ihnen folgten. Einer von ihnen konnte sich kaum auf den Beinen halten und schien das urkomisch zu finden, sein Körper wurde von einem stillen Lachen regelrecht durchgeschüttelt. Der andere nahm gerade einen großen Schluck aus einer überdimensionalen Flasche – bevor er sie plötzlich mit voller Wucht gegen die nächste Hauswand schlug.
Ich zuckte zusammen, als das Glas mit einem lauten Klirren zerbarst und nichts als einen in scharfen Zacken endenden Flaschenhals übrigließ. In den falschen Händen eine tödliche Waffe. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
Die Mädchen hingegen kicherten nur, als würden sie grandios unterhalten werden. Der Junge hielt die Überreste der Flasche in seiner nun blutigen, zitternden Hand fest umschlossen. Langsam drehte er den Kopf in unsere Richtung.
Kieran legte mir einen Arm um die Schultern und drückte mich sanft, aber bestimmt, nach links. »Hier lang.«
Diesmal stellte ich keine Fragen mehr. Wenn es etwas gab, vor dem ich mich mehr fürchtete als vor betrunkenen Erwachsenen, dann waren es betrunkene Teenager. Zügigen Schrittes bogen wir ab, und schon nach kurzer Zeit rückte das Kreischen in den Hintergrund.
»Woher wusstest du das?«, raunte ich Kieran zu.
»Ich sage doch, das hier ist keine gute Gegend.«
Auch wenn mir das nicht einmal annähernd weiterhalf, gab ich mich damit zufrieden – und mit dem Arm, den Kieran noch immer um mich gelegt hatte. Seine schiere Nähe lullte mich ein, und ich musste all meine Vernunft aufwenden, um mich nicht an ihn zu schmiegen wie ein Kätzchen.
Für meinen Geschmack bewegten wir uns viel zu schnell, und binnen weniger Minuten bogen wir in die Straße ein, in der sich mein Wohnblock befand. Die Häuser zogen sich lückenlos bis zur nächsten Kreuzung – ein uraltes, tristes Backsteingebäude reihte sich ans nächste. Der einzige Weg, sie auf den ersten Blick voneinander zu unterscheiden, war, sich auf die Türen zu konzentrieren, die alle in einer anderen Farbe des Regenbogens gestrichen waren.
»Da wären wir.« Ich hatte das Gefühl, dass man die Enttäuschung in meiner Stimme hören konnte, und wagte es nicht, Kieran anzusehen. Zwei Stufen trennten uns von der violetten Haustür, hinter der die Treppe in den ersten Stock zu meiner Wohnung führte. Ich stieg sie hinauf. Eine Hand am Schlüssel in meiner Manteltasche drehte ich mich an der Tür zögerlich zu ihm um. »Danke.«
»Nicht dafür.« Kieran hatte sich mit einer Hand am kurzen Geländer abgestützt und blickte mich mit einem Ausdruck in den Augen an, den ich nicht deuten konnte. Das war nur eines der Dinge, die mich in seinen Bann zogen: In den meisten Menschen konnte ich lesen wie in einem offenen Buch – Kieran jedoch war eines mit sieben Siegeln.
Nervosität stieg in mir auf. Der Abschied stand kurz bevor und er hatte nicht nach meiner Nummer gefragt. So etwas machte man doch, wenn man jemanden wiedersehen wollte, oder?
Zugegeben, ich hatte keine Ahnung von so etwas. Und genau deshalb waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt: weil ich nicht wusste, was als Nächstes geschehen würde – oder wie ich das interpretieren sollte.
»Du …«, versuchte ich uns ein größeres Zeitfenster zu verschaffen. »Du kannst gerne drinnen auf dein Taxi warten.« Ich starrte auf meine Stiefel. »Ich glaube, es ist noch Bier im Kühlschrank.« Zumindest hatte Nick vor ein paar Tagen einige Dosen bei uns deponiert. Ohne zu fragen, natürlich.
»Nicht nötig«, winkte Kieran ab – und versetzte mir einen so schmerzhaften Stich, dass ich selbst überrascht war.
Er hat kein Interesse, Kassie.
»Okay.« Ich zwang mich, ihn noch ein letztes Mal anzusehen, obwohl das Brennen in meiner Brust unerträglich zu werden drohte. Vielleicht hätte ich doch mit ihm in eine andere Bar gehen sollen. Dann wäre dieser Abend ganz anders verlaufen. Aber jetzt war es zu spät, um meine Entscheidung zu ändern. »Also …« Ich stockte. Ich brachte keinen Ton mehr heraus. Ich wollte nicht. Denn sobald die entscheidenden Worte meine Lippen verlassen hatten, würde Kieran sich umdrehen und aus meinem Leben verschwinden, vielleicht für immer. Das wollte ich nicht. Viel lieber würde ich hundert Jahre in genau diesem Moment der Unsicherheit verbringen, als ihn davongehen zu sehen.
»Also?«, fragte Kieran nachdenklich. »Wie soll man in so einer Situation auf Wiedersehen sagen?«
Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht drohte ich mich in seinen mattblauen Augen zu verlieren. Ich wusste ganz genau, was ich wollte. Aber ich würde um keinen Preis der Welt den ersten Schritt machen. Meine Furcht davor, zurückgewiesen zu werden, war viel zu groß. Ich befeuchtete meine Lippen. Alles, was ich ihm geben wollte, war ein eindeutiger Wink mit dem Zaunpfahl. Eine letzte Chance für ihn, sich umzuentscheiden.
»Auf dieselbe Weise«, sagte ich leise, »auf die man Hi gesagt hat.«
Das war’s. Die Worte waren raus – und hinterließen nichts als einen Tornado aus Angst, Anspannung und Hoffnung in meinem Inneren. Jetzt hing alles von Kieran ab.
Seine Miene erhellte sich. Dann trat ein lauernder Ausdruck in seine Augen. Betont langsam stieg er auf die erste Stufe, ohne auch nur zu blinzeln, als befürchte er, er hätte mich falsch verstanden und wäre gerade drauf und dran, etwas zu tun, das ich auf keinen Fall wollte. Doch ich wollte es – mehr als alles andere. Er machte keine Anstalten, die zweite Stufe zu nehmen, denn schon jetzt war er so groß wie ich und unsere Nasenspitzen nur einen Spaltbreit voneinander entfernt. Sein warmer Atem kitzelte meine Wange.
»Dann wäre es aber keine Überraschung mehr«, sagte er leise.