Danke

… möchte ich all denen sagen, die mich bei der Arbeit an diesem Buch auf unterschiedliche Weise unterstützt haben.

Allen voran Jan, ohne den ich mir mein Leben nicht vorstellen kann.

Christa für ihren beharrlichen Glauben an mich.

Helge für die Freundschaft und den kontinuierlichen Input.

Hape Kerkeling und Anneke Kim Sarnau fürs unaufhörliche Mutmachen.

George Clooney – den ich tatsächlich mal leibhaftig getroffen habe – für sein charmantes Lächeln.

Den Lesern, die meine Bücher mögen.

Und der Bäckerei Wolter für ihren leckeren Kuchen.

Danke auch all den Medienmenschen, Stars und Sternchen, denen ich im Laufe der Jahre begegnet bin und die mich zu der einen oder anderen Anekdote inspiriert haben …

Infos zur Autorin und zu ihren Büchern finden Sie hier:

www.bibo-loebnau.de

www.facebook.com/autorinbiboloebnau

www.instagram.com/autorinbiboloebnau

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage

Originalausgabe 08/2014

© 2020 bibo Loebnau

Covergestaltung: Eva Brandt, diekomplizen Bremen

Lektorat/Satz: biboPR & Kommunikation

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-8977-6

www.bibo-loebnau.de

As long as there's sun

As long as there's rain

As long as there's fire

As long as there's me

As long as there's you

„Where Are We Now?“, David Bowie, 2013

Das Krächzen der Krähen, die sich hoch oben in den Kiefern beschimpften, war das erste Geräusch, das sie wieder klar und deutlich wahrnahm. Mit einer Mischung aus Unbehagen und Genugtuung legte Ina den Kopf in den Nacken und beobachtete in den Baumwipfeln drei der großen Rabenvögel, die mit heftig schlagenden Flügeln um den Vorrang auf einem armdicken, knorrigen Ast stritten und dabei einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalteten. Das Gezeter drang mit einem Schlag in ihren Kopf. Es dauerte einen winzigen Moment lang, bis sie realisierte, was die unangenehmen Laute, die sie scharf und unverschleiert vernahm, zu bedeuten hatten – sie konnte mit dem linken Ohr wieder hören! Das großartige Gefühl, endlich keinen dämpfenden Wattepfropfen mehr im Gehörgang zu haben, wurde durch das Geräusch selber aber sofort wieder getrübt. Ausgerechnet zeternde Vögel. Hätte es nicht auch der melodische Gesang des schwarzen Amselmännchens, das gestern sein abendliches Lied auf der alten Antenne über ihrem Holzhäuschen geschmettert hatte, sein können? Das harmonische Geträller, das sie mehr erahnt, als tatsächlich gehört hatte? Natürlich war es nun dieses unangenehme Krächzen, das ihre Freude über die wiedererlangte Hörkraft trüben musste.

Sie rief sich zur Ordnung. Es war so typisch für sie. Warum musste sie immer zuerst das Haar in der Suppe suchen und finden, noch bevor sie sich richtig freuen konnte? Na, wahrscheinlich, weil es da war, das Haar, dachte sie trotzig. Aber damit sollte jetzt ein für alle Mal Schluss sein. Das hatte sie sich fest vorgenommen, für den Fall, dass die Symptome ihres Hörsturzes irgendwann wieder verschwinden sollten. Ina riss sich zusammen und versuchte zu lächeln, nur um im selben Moment genervt die Augen zu verdrehen, weil nun die unvermeidliche Kreissäge von Bauer Herbert nebenan einsetzte. Das mit dem ruhigen Landleben hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt, als sie vor ein paar Wochen nach Bienensee gekommen war.

Es hatte sie abends um halb elf erwischt. Sie war gerade dabei, einen Artikel über den deutschen Schauspieler zu schreiben, der eine Hauptrolle in dem neuen Hollywoodfilm spielte. Die Premiere war glanzvoll gewesen, und als Chefreporterin des auflagenstärksten People-Magazins hatte Ina Frinks natürlich ein Exklusivinterview mit den Hauptdarstellern bekommen. Sie wurde bevorzugt behandelt, denn ihre publizierte Meinung zum Film wirkte sich an den Kinokassen aus. Ina genoss die Privilegien, sie waren schon lange selbstverständlich für sie. Sie gehörte einfach dazu, war Teil der großen Showbusiness-Maschinerie. Dennoch bemühte sie sich um Objektivität in ihren Artikeln und fand deutliche Worte, wenn ihr etwas nicht passte. Dabei hatte sie allerdings immer die Meinung ihrer zumeist weiblichen Leser als eine Art Selbstzensur im Kopf. Wenn ein Star beliebt war, gab es keinen Grund, ihn runter-zuschreiben, auch wenn er seine Rolle im neuen Film nicht besonders gut gespielt hatte. Dann war eben der Regisseur schuld, und der Star strahlte weiter.

Es sei denn, ein Promi betrog seine Frau und ließ sich dabei erwischen. In dem Fall war es mit dem Verständnis oder Hofieren vorbei. Für eine saftige Enthüllungsstory hätte Ina ihren rechten Arm gegeben. Oder nein, besser ein Bein, denn den Arm brauchte sie ja noch zum Schreiben. Als ihre Finger über die Tastatur des Computers sausten, musste sie unwillkürlich grinsen. Während sich die Story über den deutschen Schauspieler unter ihren Händen zu einer wahren Hymne entwickelte, schlummerten gleichzeitig ein paar Notizen und Fotos in einer unscheinbaren Datei in ihrem Laptop, die dem Star sicher ein paar schlaflose Nächte bereitet hätten, hätte er davon gewusst. Ein Fehltritt mit Folgen. Jedenfalls behauptete das seine Exfreundin. Noch war die Story nicht lückenlos recherchiert, aber Ina konnte warten. Bis dahin pflegte sie weiter das makellose Bild des Aufsteigers aus bescheidenen Verhältnissen, der es bis nach Hollywood geschafft hatte und dabei so normal und bescheiden geblieben war, wie ihre Leserinnen es mochten.

Ina tippte und tippte, bis ein plötzliches Pfeifen im linken Ohr sie zusammenzucken ließ. Sie schüttelte den Kopf, doch der Ton ließ nicht nach. Verwirrt sah sie sich nach der Quelle des unangenehmen Geräusches um, bemerkte aber schnell, dass es nicht von außen kam, sondern in ihrem Ohr war. Ihre Hände griffen nach der Schreibtischplatte, als ein Schwindelgefühl sie auf ihrem weißen Lederschreibtischstuhl leicht schwanken ließ. Die Buchstaben auf dem beleuchteten Monitor begannen vor ihren Augen zu tanzen, und ihr wurde schlecht. Ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt.

Ina versuchte, ruhig zu atmen, doch eine leichte Panik erfasste sie. Was war mit ihr los? Wahrscheinlich ihr hoher Blutdruck. Ja, das Rauschen in ihrem Kopf war sicher das Blut, das auf Hochtouren durch ihre Adern sauste. Das kannte sie seit Jahren, Dauerstress und seine Folgen gehörten einfach zu ihrem Leben dazu. Aber dieses Gefühl war irgendwie anders. Wann hatte sie eigentlich zuletzt etwas gegessen? Das alberne Fingerfood nach der Premiere war zwar köstlich, aber wenig nahrhaft gewesen. Sie sollte zukünftig auf eine regelmäßigere Ernährung achten – auch auf die Gefahr hin, dass sie dann irgendwann nicht mehr in die schicken, engen Kleider der namhaften Designer passte, die sie so gerne trug. Der Hunger allein konnte aber nicht der Auslöser für das schrille Piepsen in ihrem Ohr und das Schwindelgefühl sein. Vielleicht ein Herzinfarkt? Sie spürte etwaigen Schmerzen in Arm und Brust nach. Da war nichts. Und sowieso, in ihrem Alter? Entrüstet verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Aber warum hörte dieses lästige Pfeifen nicht auf? Mit Daumen und Zeigefinger hielt sie sich die Nase zu und versuchte, wie bei der Landung im Flugzeug, Luft in ihre Ohren zu pressen, um den Unterdruck loszuwerden. Ohne Erfolg. Ihr Körper pfiff ihr was.

Ina hatte kaum geschlafen und früh am nächsten Morgen ihren HNO-Arzt angerufen. Der hatte sie sofort in die Praxis beordert und nach kurzer Untersuchung die niederschmetternde Diagnose gestellt: Hörsturz. Zum Glück musste sie nicht ins Krankenhaus, sondern konnte gleich beim Arzt eine Infusion gelegt bekommen, zur Erweiterung der Gefäße und Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes. Der Doktor verschrieb ihr ein Vitamin-B-Präparat, verbot ihr Nikotin, Alkohol und Kaffee und jeglichen Stress!

Ina wusste nicht, welches der Verbote sie am meisten schockte – alle vier gehörten zu ihrem Alltag, ja, waren quasi ihr Lebenselixier. Und jetzt sollte sie auf all das verzichten? Sie konnte es nicht fassen. Aber ein taubes Ohr samt fiesem Pfeifgeräusch war auch nicht gerade das, was sie in ihrem Job und außerhalb gebrauchen konnte. Also sagte sie zu allem Ja und Amen und bekam einen neuen Infusionstermin für den nächsten Tag.

Das Handy am gesunden Ohr, rief sie in der Redaktion an. Statt des Chefredakteurs Klaus Berger meldete sich die Redaktionsassistentin Frauke Harms – ausgerechnet die! Ina konnte die Neue nicht leiden. Eigentlich war die auch ausgebildete Journalistin, hatte jedoch keinen Redakteursposten bekommen, sondern sich stattdessen mit der einzigen freien Stelle als Redaktionsassistentin begnügen müssen. Doch Ina wusste, dass die jüngere Konkurrentin nur auf ihre Chance lauerte, nach oben zu klettern.

„Morgen Frauke, stell mich mal schnell zu Klaus durch. Ist dringend“, schnarrte sie kurzangebunden in ihr iPhone.

„Der Klaus ist noch nicht da. Was gibt’s denn?“, fragte Frauke neugierig.

Nein, der Trulla würde sie jetzt auf keinen Fall von ihrer Krankengeschichte berichten. Kam gar nicht in Frage. Also antwortete Ina nur: „Er soll mich gleich anrufen, wenn er kommt. Ich bin heute nicht im Office. Wichtiger Termin … Also dann.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, drückte sie die „Beenden“-Taste.

Sie versuchte, vernünftig zu sein und widerstand dem Drang, sofort ihren Laptop anzuschalten, doch das iPhone legte sie neben sich auf den kleinen Glastisch, als sie sich erschöpft auf ihrer Le-Corbusier-Liege niederließ. Sie starrte auf das große, bunte Gemälde von Rainer Fetting, das an der Wand gegenüber hing. Sie meinte die laute Musik der Rockband, die da mit heftigen Pinselstrichen abgebildet war, zu hören, aber das war nur das Pfeifen in ihrem Ohr.

Ina schloss die Augen, doch an der Lautstärke änderte das nichts. Sie versuchte, gleichmäßig zu atmen und sich zu entspannen. Sie brauchte dringend Ruhe, hatte der Arzt gesagt und sie dabei sehr ernst angesehen. Ruhe, ja, das hätte sie auch gern, aber wie sollte sie sich entspannen, wenn es in ihrem Kopf pfiff und rauschte. Genervt schlug sie die Augen wieder auf. Wieso hatte sich Klaus noch nicht gemeldet? Um halb zehn musste er doch längst im Büro sein. Ina griff nach ihrem Telefon und rief seine Nummer erneut an. Wieder meldete sich Frauke:

„Ach, hallo Ina …“

Sofort unterbrach sie die Redaktionsassistentin: „Wo ist Klaus?“

„Du, der ist gerade erst reingekommen. Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, zu sagen, dass du angerufen …“

„Stell mich einfach durch!“, schnaubte Ina.

„Okay, Momentchen …“

Klick. Dann hörte sie die alberne Melodie des Werbejingles und einen Frauenchor, der den Slogan des „V.I.P.“-Magazins hauchte:

„Viiii-ei-piiiiiiiii – das Maaagaziiiiin. Heute lesen, wer morgen in ist!“ Ina hielt das iPhone ein Stückchen von ihrem rechten Ohr weg. Klick.

„Ina! Wo steckst du? Wir haben gleich Konferenz!“, meldete sich Klaus Berger hektisch.

„Sorry Klaus, aber ich kann heute nicht kommen …“

„Wie? Und was ist mit der Geschichte über die Filmpremiere? Die ist als Doppelseite mit einer fetten Fotostrecke eingeplant. Das Layout wartet auf dich, um alles passend zur Story zu bebildern“, rief er ins Telefon.

„Schrei mich bitte nicht so an! Ich bin krank. Aber die Story hab ich letzte Nacht noch fertig geschrieben. Hab ich dir doch gemailt. Warum guckst du nie in dein Eingangsfach?“

„Ach so … Ja, dann ist ja gut“, sagte er etwas ruhiger, nur um sich gleich wieder aufzuregen. „Und wie sollen wir das ohne dich bebildern? Und wer schreibt die Bildunterschriften?“

„Dann muss sich das Layout eben ausnahmsweise mal meinen Text durchlesen und gucken, welche Promi-Nasen drin vorkommen. Und die paar Bildunterschriften kann doch wohl mal deine kleine Redaktionsassistentin machen“, blaffte Ina zurück.

Sie hörte Klaus Berger unwillig schnauben und einmal tief durchatmen. Dann fragte er etwas freundlicher: „Was hast du überhaupt?“

„Ich dachte schon, das interessiert dich überhaupt nicht. Ich hatte gestern Nacht einen Hörsturz. Übrigens während ich an dem Text für dich gearbeitet habe! Und heute Morgen war ich beim HNO und der hat mich erst mal bis einschließlich morgen krankgeschrieben.“

„Was? Zwei Tage? Wie soll das denn gehen?“

„Muss es wohl irgendwie. Ich brauche jedenfalls absolute Ruhe, sagt der Doc. Sonst dauert’s noch länger.“

„Hm … Na gut …“ Er schien zu überlegen. „Du bist doch sonst nie krank … Mit unserem kleinen Streit neulich hat das Ganze nicht zufällig was zu tun?“

„Also, hör mal, Klaus“, entrüstete sich Ina. „Privatleben und Job konnten wir bisher doch auch ganz gut auseinanderhalten. Zu dem Thema ist im Übrigen alles gesagt. Schluss ist Schluss. Ich bin tatsächlich krank. Also nerv mich nicht mit deinen Unterstellungen. Ich muss mich erholen und melde mich, sobald es was Neues gibt. Ciao.“

Erschöpft lehnte sie sich zurück und lauschte den Geräuschen in ihrem Kopf.

An das Gespräch vor ein paar Wochen wollte sie jetzt lieber nicht denken. Es war nie angenehm, eine Affäre zu beenden. Wenn es eine mit dem eigenen Chef war, gestaltete sich das Ganze deutlich komplizierter …

„Es tut mir leid Frau Frinks, aber die zweite Infusion hat noch keinerlei Besserung gebracht. Schlechter ist es zum Glück aber auch nicht geworden. Das Einzige, was da tatsächlich hilft, ist Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe“, sagte der Arzt streng.

Er kannte seine Patientin seit Langem, hatte sie selbst schon mal bei einer Theaterpremiere am Ku’damm als Klatschreporterin in Aktion erlebt. Daher wusste er, dass Ina Frinks und Ruhe eigentlich zwei Dinge waren, die ganz und gar nicht zusammenpassten. Die quirlige Journalistin stand ständig unter Strom, um ja kein brisantes Ereignis zu verpassen oder sich womöglich von jemand anderem eine Exklusivstory abspenstig machen zu lassen.

Sie lief permanent auf Hochtouren. Das war der Preis, den sie für ihren privilegierten Job zu zahlen bereit war. So tickten schließlich praktisch alle in ihrer Branche – jedenfalls die Erfolgreichen.

Entweder man machte mit und hielt den ständigen Druck aus, oder man war ganz schnell weg vom Fenster. Die nächste Generation aufstrebender Klatschreporter stand schon in den Startlöchern und lauerte auf ihre Chance.

Fassungslos sah Ina den Arzt an. „Aber wie soll das gehen? Ich hab jede Menge Termine. Die Gala nächste Woche und die Musicalpremiere am Freitag, ganz zu schweigen von dem Charity-Dinner am Wochenende. Da kommt der ganze Hochadel! Wenn ich da nicht dabei bin, dann …“

„Dann geht die Welt auch nicht unter“, unterbrach sie der Arzt. „Es tut mir leid, aber Sie müssen davon ausgehen, dass Sie die nächsten Wochen an keinem derartigen Event teilnehmen werden.“

„Wochen? Mehrere?“, fragte Ina erschrocken.

„Ja, vielleicht sogar Monate. Das weiß man bei dieser Erkrankung nie.“

„Aber ich hab da mal was gelesen, auf unserer Ratgeberseite. Da waren Leute von heute auf morgen dieses grässliche Pfeifen und Rauschen los und konnten wieder normal hören.“

„Stimmt, es gibt bei Tinnitus Spontanheilungen, aber darauf sollten Sie sich nicht verlassen. Sie sind auf jeden Fall erst mal ein paar Wochen lang nicht arbeitsfähig. Wenn Sie überhaupt je ganz davon geheilt werden. Das kann Ihnen kein Arzt garantieren. Aber ich werde mein Bestes tun. Den Rest können Sie nur alleine schaffen – mit absoluter Ruhe und ein bisschen Glück. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr Hoffnung machen kann, aber das sind nun mal die Fakten.“

Niedergeschlagen schleppte sie sich nach Hause und gab die Hiobsbotschaft an ihre Redaktion durch.

Klaus Berger drehte fast durch, aber Ina blieb standhaft. Nach zwei Tagen Dauerlärm im Kopf war sie mürbe und wollte nur noch gesund werden. So schnell wie möglich. Und dazu musste sie so konsequent wie möglich sein. Der einzige Kompromiss, zu dem sie sich überreden ließ, war, dass sie per Mail die Termine und Texte ihrer Vertretung gegenchecken würde. Dafür sicherte ihr der Chefredakteur zu, dass auch während ihrer Abwesenheit ihr Name und Konterfei neben der V.I.P.-Kolumne abgebildet sein würde und möglichst wenige Leute erfahren würden, dass und vor allem warum sie derzeit nicht arbeiten konnte. Man einigte sich auf die Sprachregelung, dass sie auf einer längeren Dienstreise sei und deshalb Frauke Harms als Vertretung ihre Termine wahrnehmen werde.

Nachdem das geklärt war, überlegte Ina, wie und wo sie am besten die Ruhe finden könnte, die sie benötigte. In Berlin war das praktisch unmöglich. Hier musste sie ständig damit rechnen, irgendeinem bekannten Gesicht über den Weg zu laufen. Und wenn sich herumspräche, dass sie gar nicht unterwegs war, würde die Gerüchteküche brodeln.

Also musste sie verreisen. Nur wohin?

Zu weit weg konnte sie nicht fahren, weil sie zwischendurch vielleicht mal zum Arzt musste, und außerdem war sie krankgeschrieben. Da konnte sie schlecht nach ein paar Wochen frisch gebräunt zurück in die Redaktion kommen.

Sie müsste irgendein gemütliches Plätzchen in der Nähe von Berlin finden, am besten mit WLAN und Telefon, wo sie garantiert keinen Promi und keinen Bekannten treffen würde. Also kein schickes Wellnesshotel, sondern eher ein Appartement oder eine Ferienwohnung …

Anja! schoss es ihr durch den Kopf. Genau!

Ihre ehemalige Kollegin aus der PR-Agentur und beste Freundin hatte sich doch vor ein paar Monaten dieses kleine Sommerhaus irgendwo in Brandenburg gekauft, aber fast nie Zeit, dort rauszufahren. Vielleicht stand es ja auch jetzt leer? Ina scrollte schon in ihrem Handy nach Anjas Nummer.

„Hey, Ina! Das ist ja eine Überraschung. Wir haben ja ewig nichts voneinander gehört. Wie läuft’s? Also abgesehen von deiner Kolumne, die ich natürlich regelmäßig verschlinge. Nun sag schon, wie ist das Leben zu dir?“, ratterte Anja los, nachdem sie im Display gesehen hatte, wer angerufen hatte.

„Hey, Anja! Stimmt, ich hab mich echt lange nicht gemeldet, sorry. Tja, mir geht’s soweit ganz okay.“

„Ganz okay? Oh, oh, das klingt aber gar nicht gut, wenn das aus deinem Mund kommt! Was ist los? Gefeuert, Liebeskummer oder hat ein Promi dich verklagt?“ Anja lachte amüsiert auf.

„Nee, weder noch, aber blendend geht’s mir tatsächlich nicht. Ich hatte einen Hörsturz …“

„Oh Scheiße! Kenn ich, so was Ähnliches hatte eine der Künstlerinnen aus unserer Agentur auch vor Kurzem. Vom vielen Stress. Scheint ja gerade sehr hip zu sein. Und langwierig, hab ich gelesen. Unsere Chefin hat sich tierisch aufgeregt, wegen … Die ist ja schließlich …“

Anja unterbrach sich selbst, als sie merkte, dass sie gerade dabei war, Agenturinterna auszuplaudern, und ergänzte schnell: „Ich darf dir leider nicht sagen, um wen es geht. Du weißt ja: Diskretion – vor allem der Klatschpresse gegenüber …“

Sie musste bei der Bemerkung selber grinsen.

„Ach, entschuldige Ina, aber das ist so drin. War auch keins von meinen Babys hier, sondern so eine Schlagertante aus der Musikabteilung. Ich kenn da auch tatsächlich keine Details, weil wir uns ja hier selbst unter Kollegen nicht mal die Uhrzeit verraten“, erklärte sie lachend und versuchte damit, das Gesagte zu entschärfen.

Sie horchte ins Telefon, aber Ina reagierte nicht, also bemühte sie sich, das nötige Mitgefühl für die Situation ihrer Freundin zu zeigen: „Also, das ist ja echt Mist mit deinem Hörsturz. Da sollen doch irgendwelche Vitamine helfen, oder?“

„Ja, Vitamin B …“

„B wie Beziehungen“, alberte Anja wieder los. „Sorry Ina, das findest du wahrscheinlich gerade gar nicht so witzig. Mir ist schon klar, bei Stresskrankheiten hilft nur Ruhe, Ruhe, Ruhe! Richtig?“

„Ganz genau. Und da kommst jetzt du ins Spiel, Anja.“

„Hä? Ich und Ruhe? Wo siehst du denn da einen Zusammenhang?“, amüsierte sich Anja. „Aber im Ernst, nun sag schon, wie ich dir helfen kann.“

Sie war froh, dass ihre Freundin endlich wieder etwas Konkretes ansprach.

„Du hast doch da dieses Haus in irgend so einem Brandenburger Kaff …“

„Bienensee! Ja, klar!“

„Bienensee?“, fragte Ina skeptisch. „Na ja, immer noch besser als Mückendorf.“

„Stimmt. Mücken sind da allerdings auch nicht gerade vom Aussterben bedroht. Willst du übers Wochenende raus? Kannste gerne, ich hab allerdings leider keine Zeit. Am Samstag drehen wir in Köln diesen Show-Piloten mit Maike für RTL. Da kann ich meine Künstlerin ja nicht alleine hingehen lassen. Tut mir leid.“

„Ach super! Äh, ja, schade, dass du keine Zeit hast … Aber ich würde tatsächlich gerne dein Häuschen eine Zeit lang mieten, wenn das möglich wäre.“

„Mieten? Quatsch! Das steht doch sowieso leer. Ich bin froh, wenn da mal einer nach dem Rechten sieht. Was heißt denn ‚eine Zeit lang’?“

„Das weiß ich noch nicht so genau … Vielleicht ein paar Wochen?“

„Oh … Ach, warum nicht? Mach das ruhig. Und falls ich zwischendurch doch mal Zeit habe, komme ich dich einfach besuchen. Es gibt ein zweites Schlafzimmer. Kein Problem. Wann willste denn da raus?“

„Na ja, möglichst bald. Vielleicht heute schon?“

„Hui, noch immer das alte Tempo. Flott, flott, die Ina. Von mir aus gerne. Ich maile dir gleich mal Adresse und Wegbeschreibung. Bienensee ist so rund 80 Kilometer südlich von Berlin. Einfach immer die A 13 runter und dann über die Dörfer. Findste schon.“

„Super, Anja! Du bist echt spitze! Vielen Dank. Und wie komme ich an den Schlüssel?“

„Bauer Herbert hat einen Ersatzschlüssel, den kannste haben.“

„Bauer Herbert?“

„Ja, dein neuer Nachbar. Nicht sonderlich gesprächig, aber hilfsbereit. Der ist eigentlich immer auf seinem Hof. Oder seine Frau Elsa. Ich versuch mal, ihn anzurufen, damit er Bescheid weiß, dass du kommst.“

„Toll, danke, Anja.“

„Och, da nich für, Süße. Ich freu mich, wenn ich dir auch mal einen Gefallen tun kann. Ohne dich hätte ich damals diesen Job nicht gekriegt. Apropos: Ich muss langsam mal Schluss machen. Die olle Ziege kriegt schon wieder hektische Flecken am Hals, wenn ich hier so lange privat telefoniere“, lästerte Anja.

„Oh, ich erinnere mich, was das bedeutet – baldiger Wutausbruch. Da hat sich ja in dem Laden nicht viel geändert seit damals …“

„Nee, die Chefin ist immer noch eine Katastrophe, aber meine Künstler sind Zucker, deshalb halte ich durch. Ach Mensch, nun haben wir gar nicht über deinen Job und deinen Boss gesprochen. Alles soweit in Ordnung?“

„Doch, doch … Ach, das beschnacken wir, wenn du mich in Bienensee besuchen kommst, okay?“

„Versprochen! Also, Süße, Bussi! Viel Spaß auf dem Lande“, zwitscherte Anja.

„Ach, sag mal, gibt’s da eigentlich WLAN?“, fragte Ina noch schnell. „Oder wenigstens Festnetz?“

Ihre Freundin lachte amüsiert auf.

„Nein, Schätzchen. Das ist doch nur ein Ferienhaus. Aber du bist doch sicher mit USB-Stick und Smartphone ausgerüstet?“

„Ja, stimmt …“

„Also dann, mach’s gut!“

„Ja, du auch. Und noch mal danke!“

„Demnächst links abbiegen.“

Die auf volle Lautstärke eingestellte Stimme der Navi-Lady schickte sie nach dem Verlassen der Autobahn jetzt schon seit einer dreiviertel Stunde über von großen Kastanien, Pappeln und Eichen gesäumte Alleen, durch endlose, von blühendem Klatschmohn rotgesprenkelte Weizenfelder, durch schattige Kiefern- und Buchenwälder und über kopfsteingepflasterte Holperwege. Sie brauste in ihrem offenen Mini Cabrio durch ein typisches, brandenburgisches Straßendorf nach dem anderen.

Ina hatte inzwischen völlig die Orientierung verloren und hoffte in jedem Ort mit gleichförmigen, öden, graupelverputzten Häusern, vor denen Männer in buntgemusterten Ballonseiden-Jogginghosen und Feinripp-Unterhemden stoisch an ihren Zäunen lehnten und ihr nachgafften, dass es sich nicht um Bienensee handeln möge. Sie kam sich vor wie auf einer Pauschalreise, im Charterbus vom Flughafen zum Hotel, wo man bei jedem weiteren scheußlichen Betonkasten hofft, dass man selbst noch nicht aussteigen muss, um hier die schönsten Tage des Jahres verbringen zu müssen.

Nur noch fünf Kilometer bis zum Ziel, zeigte das Navi an. Ina wurde immer nervöser und verlangsamte automatisch das Tempo. Sie wollte den Moment der Wahrheit lieber noch etwas hinauszögern. Ein paar lang gezogene Kurven noch, dann würde sie endlich da sein: Akazienallee 13 in Bienensee. Sie stellte sich unter der Adresse ein schmuckes, weißes Herrenhaus mit Säulen, Türmchen und Erker vor. Soweit die Fantasie.

Plötzlich wurde die Asphaltstraße wieder von Kopfsteinpflaster abgelöst und eine hübsche kleine Ziegelsteinkirche tauchte auf, daneben das gelbe Schild: „Bienensee“.

„In hundertfünfzig Metern rechts in die Birkenstraße abbiegen, dann sofort links in den Wiesenweg“, forderte Frau Navi. Neugierig betrachtete Ina die schmucken, sanierten alten Häuser, die die Hauptstraße des Ortes säumten. Einige hatten sogar Stuck, Erker und eins sogar Säulen. Ina atmete erleichtert durch. Auf der linken Seite tauchte ein Gasthof auf, der allerdings dringend mal eine Renovierung vertragen hätte. „Zum Roten Adler“ – ein abgeblättertes Holzschild hing etwas schief über den Treppenstufen am Eingang. Das Tagesangebot verkündete eine schwarze Klapptafel, auf der mit weißer Kreide stand: „Heute Soljanka und Schweineschnitzel“. Damit traf die örtliche Gastronomie nicht wirklich Inas Geschmack. Sie blinkte rechts. An der Ecke entdeckte sie eine Bäckerei, die auf einem großen Schild vor dem Eingang „Eierschecken“, „Bienenstich mit Puddingkrem“ und „Räuberbrot“ anpries. Auch ein „Mini-Markt“ befand sich offensichtlich in dem kleinen Laden. Na ja, zumindest verhungern müsste sie hier nicht.

Als sie in den kleinen Wiesenweg einbog, meldete sich Frau Navi wieder: „In fünfzig Metern rechts abbiegen, in die Akazienallee. Dann haben Sie Ihr Ziel erreicht. Das Ziel liegt links.“

Gespannt hielt Ina nach der angekündigten „Allee“ Ausschau. Alles was sie sah, war ein unbefestigter Sandweg mit zwei tief ausgefahrenen Spurrillen und wild wucherndem Unkraut dazwischen. Doch neben dem blauroten Sackgassensymbol verkündete das Straßenschild unmissverständlich und großspurig „Akazienallee“. Also bog sie vorsichtig auf den Pfad ein und holperte im Schatten schlanker, zartblättriger Akazienbäume langsam über Baumwurzeln und durch tiefe Sandkuhlen leicht bergan. Ihr schwarzer Mini hatte Mühe, sich durch das hohe Gras in der Mitte der Piste zu kämpfen.

Anstelle stattlicher Herrenhäuser reihten sich auf beiden Seiten des schmalen Wegs niedrige Häuschen auf mehr oder weniger verwilderten, riesigen Grundstücken aneinander. Hinter den Akazien erhoben sich jede Menge imposante Kiefern, Birken, Haselnussbäume und Eichen aus dem brandenburgischen Sand. Die meisten Holzhütten waren verwittert, hatten eingeschlagene Fensterscheiben und standen augenscheinlich seit Langem leer. An den verrosteten Zäunen suchte Ina vergeblich nach Hausnummern. Sie hatte das Gefühl, in einen verwunschenen Wald zu fahren, der vor Jahrzehnten in einen Dornröschenschlaf gefallen war.

Am Ende des Pfads, auf der rechten Seite, entdeckte sie zwischen den Bäumen die Umrisse eines großen Bauernhofs. Das musste der von Bauer Herbert und seiner Frau Elsa sein. Wie hießen die beiden eigentlich mit Nachnamen?

Ganz in Gedanken holperte Ina im Schneckentempo weiter, als ihr plötzlich unvermittelt das Vorderteil eines großen, grünen Traktors den Weg versperrte. Sie erschrak, stieg auf die Bremse und würgte dabei den Wagen ab. Ohne das eigene Motorengeräusch hörte sie mit dem rechten, gesunden Ohr das laute Tuckern des alten Zweitakters und eine Stimme, die empört brüllte:

„Ei verbibbsch! Wo kommt’n de Babbe plötzlich her?“

Den dazugehörigen Menschen konnte Ina zwischen all dem hohen, grünen Gestrüpp am Wegesrand allerdings nicht ausmachen. Sie zog die Handbremse an, stieg aus und trat mit einer entschuldigenden Geste an den Traktor heran. Von seinem erhöhten Sitz aus starrte sie ein älterer Mann in verwaschener blauer Arbeitskleidung, mit einem breitkrempigen, speckigen braunen Lederhut an.

„Sorry!“, rief sie, um den Lärm des Traktors zu übertönen.

„Hä?“

„Tut mir leid!“

„Hm“, brummte er und nickte bedächtig.

„Äh, sind Sie vielleicht zufällig Bauer Herbert? Verzeihung, aber Ihren Nachnamen weiß ich leider nicht. Meine Freundin Anja sagte, sie wollte Sie anrufen, um Bescheid zu sagen, dass ich komme …“

„Hm“, war alles, was Ina als Antwort bekam.

„Also, ich bin Ina Frinks aus Berlin. Und wer sind Sie?“, versuchte sie es noch einmal.

„Herbert.“

„Oh, super! Da hab ich ja Glück, dass ich Sie getroffen habe, bevor Sie aufs Feld oder wo man hier sonst so mit dem Traktor hinfährt, gefahren sind“, plapperte sie eifrig weiter.

„Hm.“

Langsam ging Ina seine Einsilbigkeit auf die Nerven, doch sie riss sich zusammen und fragte betont langsam:

„Können Sie mir bitte den Schlüssel zum Haus von Anja Meyerdirks geben?“

„Hm, hm.“

Das interpretierte Ina als eindeutiges „Ja“ und echten Fortschritt in der Konversation mit ihrem künftigen Nachbarn. Tatsächlich schien jetzt Bewegung in den Mann zu kommen. Ohne ein weiteres Wort legte der Bauer den Rückwärtsgang ein und tuckerte zurück. Ina ging ihm durch die breite Toreinfahrt auf den Hof nach. Als er schließlich von seinem Bock abstieg und wortlos im Haus verschwand, blieb sie unschlüssig auf dem Hof stehen und sah sich um.

Ein paar Hühner und Enten pickten im hohen Gras, das zwischen dem Kopfsteinpflaster wuchs. In einem eingezäunten Areal suhlten sich fünf sehr große Schweine genüsslich im Matsch. Aus der oberen Hälfte des hölzernen Stalltors reckte ein stattlicher Haflinger seinen Kopf, schüttelte die lange blonde Mähne und wieherte. Ina war auf Anhieb begeistert von der Bilderbuchidylle.

Als sie sich wieder zu dem imposanten dunkelroten Ziegelsteingebäude umdrehte, sah sie Bauer Herbert, begleitet von einem großen Bernhardiner, aus dem Haus kommen. Der riesige Hund trottete schwerfällig und schwanzwedelnd neben seinem Herrchen her – bis er die fremde Frau erblickte. Mit einem lauten Kläffen nahm er Anlauf. Ina machte einen unsicheren Schritt zurück, blieb dann aber steif stehen, um dem Unausweichlichen ins Auge zu blicken. Das riesige Tier kam mit offenem Maul, in großen Sprüngen direkt auf sie zu gerannt. Die lange, rosafarbene Zunge schwang hin und her.

„Nä! Herkules! Do Misdgärl! Platz, do Dussldier!“, brüllte Bauer Herbert, doch da war es schon zu spät.

Kurz vor ihr stellte sich der ausgewachsene Bernhardiner auf seine kräftigen Hinterbeine und landete mit den Vorderpfoten auf Inas Schultern. Vergeblich versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten, doch der schwere Hund drückte sie einfach nieder. Wie in Zeitlupe, die sabbernden Lefzen von Herkules direkt vor ihrem Gesicht, knickten Inas Beine weg, und sie ging mit einem erschrockenen Aufschrei in die Knie. Der Hund federte mehr oder weniger elegant auf allen vieren ab und stand dann wieder auf Augenhöhe vor ihr. Wuff! Verwirrt blickte Ina in seine freundlichen, braunen Augen und bekam im selben Moment die voluminöse raue Bernhardinerzunge einmal quer durchs Gesicht gezogen.

„Bäh!“

„D’r maach disch“, stellte Bauer Herbert sachlich fest und zog ohne Hektik den schwanzwedelnden Herkules am Halsband von Ina weg. Sie wischte sich den sämigen Sabber von der Wange, warf ihre langen braunen Locken zurück und rappelte sich wieder auf.

„Ja, ein netter Hund“, sagte sie höflich, während sie halbherzig an den Grasflecken auf ihrer Designerjeans rieb.

„Mach’ d’r nämisch nisch bei je’em.“

„Aha … Ja, sehr nett.“

Als sie vorsichtig Herkules’ riesigen Kopf tätschelte, versuchte der gleich wieder, sie am Arm zu lecken. Doch Ina hatte erst mal genug von Hundesabber und zog ihre Hand weg.

„Tja, also … Haben Sie den Schlüssel gefunden?“

„Hm.“

Bauer Herbert hatte seinen normalen Sprachrhythmus wiedergefunden und hielt ihr einen Keystring in grellem Pink hin, an dem ein einzelner Schlüssel baumelte. Das Bändchen passte ganz eindeutig zu Anja. Ina nahm es erleichtert entgegen.

„Vielen Dank. Und wo ist jetzt die Nummer 13?“

„Hä?“

„Das Haus von Anja Meyerdirks.“

„De Datsche do driiben.“

Der Bauer deutete mit einer unbestimmten Handbewegung Richtung Torausfahrt. Als er Inas fragenden Blick sah, bedeutete er ihr mit einer knappen Kopfbewegung, ihm zu folgen und führte sie zurück zu ihrem Wagen. Daneben blieb er stehen.

„Und wo finde ich jetzt das Haus?“, fragte Ina unsicher.

„No, do!“, erwiderte er irritiert und deutete auf das verwilderte Grundstück direkt neben ihrem Auto. Entgeistert suchte Ina zwischen all dem wuchernden Grün nach einem Eingang. Schließlich entdeckte sie das moderne Schloss in dem alten, windschiefen Holztor. Sie steckte den Schlüssel hinein und stellte erleichtert fest, dass er sich ganz leicht drehen ließ.

Dann blickte sie sich nach Bauer Herbert um, doch der erklomm schon wieder seinen Trecker. Sie rief ihm nach: „Vielen Dank noch mal!“

„Hm. De Babbe muss wech“, brummte er, ohne sie anzusehen.

„Die was? Babbe? Sorry, aber ich verstehe nicht.“ Hilflos sah sie ihn an.

„No, de Rennbabbe do.“

Er deutete auf ihren kleinen Flitzer, und endlich kapierte Ina. „Ach so! Rennpappe! Trabbi auf Sächsisch. Verstehe! Aber das ist ein Mini.“

„Hm.“

So oder so, sie musste den schmalen Weg frei machen. Also stemmte sie sich kräftig gegen das Tor, drückte so zügig wie möglich beide Flügel der Einfahrt auf und gleichzeitig das hohe Unkraut nieder, setzte sich wieder in ihren Wagen und steuerte ihn auf das Grundstück. Hinter ihr rumpelte der grüne Traktor die Akazienallee hinunter.

Als sie den Motor ausschaltete, herrschte völlige Stille. Jedenfalls, soweit sie das beurteilen konnte. Abgesehen von dem nervigen Pfeifen in ihrem linken Ohr. Das Tuckern des Traktors war jedenfalls nicht mehr zu hören. Ina sah sich neugierig um. Hinter dem Gestrüpp an der Einfahrt erstreckte sich das große Grundstück mit meterhohen Büschen, einige davon mit kleinen, weißen Blüten übersät. Sie stand mitten auf einer Wiese mit Gräsern und bunten Wildblumen, die ihr bis zur Wade reichten. Riesige, knorrige Kiefern spendeten mit ihren ausladenden Ästen Schatten. Ina atmete tief ein und genoss den Duft nach Wald und Natur.

Ihr war nach der Schufterei am Gartentor warm geworden und so zog sie den schwarzen Blazer aus, warf ihn auf den Fahrersitz und machte sich auf Entdeckungstour. Hinter mannshohen Rhododendronsträuchern erblickte sie ein spitzes Hausdach. Neugierig umrundete sie die Büsche und stand vor einem schnuckeligen kleinen Holzhaus. Die ochsenblutroten Fensterläden waren geschlossen. Sie betrat die große, halb überdachte Terrasse. Die Haustür schien neu zu sein, und auch in dieses Schloss passte der Schlüssel. Mit einem leisen Seufzen öffnete sich die Holztür, sie war wohl schon länger nicht mehr bewegt worden. Drinnen herrschte Dämmerlicht, also lief Ina erst mal ums Haus und öffnete alle Fensterläden.

Die warme Frühsommersonne beschien die geschmackvolle Einrichtung, eine Mischung aus modernen Ikea-Möbeln und ländlichem Gerümpel, das sich harmonisch in das helle Ambiente einpasste. Die kleine, offene Küche hatte sogar einen Geschirrspüler. Im Wohnzimmer standen ein neuer LCD-Fernseher mit DVD-Player sowie eine Musikanlage mit iPod-Anschluss und CD-Player. Ina dankte im Stillen Anjas Sinn fürs Praktische. Neben der Wegbeschreibung, die sie ihr gemailt hatte, hatte sie auch genau beschrieben, wo sich der Sicherungskasten befand, in dem sich der Strom fürs Haus und für die Wasserpumpe aktivieren ließ. Im größeren der beiden Schlafzimmer wurde Ina fündig, legte den Schalter um, und augenblicklich erklang eine wahre Kakophonie – Fernseher und Radio hatten gleichzeitig angefangen, in voller Lautstärke zu lärmen.

Sie stürmte zurück ins Wohnzimmer, griff nach den Fernbedienungen und schaltete alles wieder aus. Ruhe! Sie brauchte Ruhe!

Nachdem sie ihre beiden Koffer ausgepackt und die aus Berlin mitgebrachten Vorräte in den Kühlschrank geräumt hatte, sah sie sich auf dem Grundstück um. Beim Entladen des Wagens hatte sie noch ein zweites, kleineres Häuschen weiter hinten im Garten entdeckt. Mit dem Schlüssel in der Hand stand sie nun unschlüssig vor den zwei nebeneinanderliegenden Türen. Ob das hier ein Gästehaus war? Sie entschied sich für die linke Holztür und befand sich in einem dunklen Schuppen ohne Fenster. Nachdem sie das Licht eingeschaltet hatte, staunte sie nicht schlecht. Sie hatte das Gefühl, in einer Miniversion eines sehr gut sortierten Baumarkts mit angeschlossenem Gartencenter zu stehen. Vom Rasenmäher über zwei Fahrräder, jede Menge Werkzeug, Schaufeln, Rechen, Spaten, Schraubstock bis zur Bohr- und Schleifmaschine war alles da. Die Funktionsweise der meisten Geräte war Ina zwar ein Rätsel, doch der Anblick war beeindruckend, zumal der ansehnliche Fuhrpark nigelnagelneu glänzte. Anja schien in einem Rollkauf alles angeschafft zu haben, was man als Haus- und Gartenbesitzerin jemals gebrauchen könnte. Nur benutzt hatte sie scheinbar bisher nichts davon.

Ina machte das Licht wieder aus und schloss die Tür. Auch sie gedachte nicht, sich hier als Gärtnerin oder Handwerkerin zu versuchen. In Berlin bewohnte sie eine Etagenwohnung und hatte schon Mühe, ihre Balkonpflanzen einigermaßen regelmäßig zu gießen. In ihrer Wohnung standen eine anspruchslose und dennoch halbvertrocknete Yuccapalme und ab und zu ein frischer Strauß Schnittblumen. Und wenn es etwas zu reparieren gab, informierte sie die Hausverwaltung oder rief selbst einen passenden Handwerker an. Zum Selbermachen fehlten ihr Zeit, Lust und das nötige Knowhow.

Neugierig, was sich wohl hinter der zweiten Tür verbergen mochte, schloss sie auf und strahlte. Eine Sauna! Ja, das war schon eher nach Inas Geschmack. Im privaten Wellness-Tempel zu schwitzen, das war ganz ihr Ding. Die Holzsauna war zwar bescheiden, gerade groß genug für zwei Personen, hatte aber einen kleinen, mit Saunasteinen gefüllten Elektroofen und machte einen gemütlichen Eindruck, auch wenn sie schon etwas älter und sicher von den Vorbesitzern, noch zu DDR-Zeiten, eingebaut worden war.

Ina fand neben der massiven Holztür einen dicken schwarzen Schalter, an dem schlicht „AN“ und „AUS“ stand. Eine Temperaturregelung suchte sie vergebens, aber drinnen hing ja ein Thermometer neben einer kleinen Sanduhr. Vorsichtig drehte sie den Knauf und schon sprang die Sauna an. Wie lange es wohl dauerte, bis sie die richtige Temperatur hatte? Ina beschloss, in einer halben Stunde wieder nachzugucken, wie sich die Dinge entwickelten, und in der Zwischenzeit zum Bäcker zu fahren, um sich mit den paar noch fehlenden Dingen einzudecken.

„Schönen guten Tag“, grüßte sie höflich, als sie den Laden an der Ecke zur Hauptstraße betrat. Doch hinter dem Tresen stand niemand. Ina sah sich um. In einem offenen Nebenraum, links von der Bäckertheke, erstreckte sich tatsächlich die Miniausgabe eines Supermarktes. An zwei Wänden und in der Mitte war auf Regalen alles aufgereiht, was das Herz des Bienenseers zu begehren schien.

Ein buntes Sammelsurium aus Konserven, Gläsern, Tütensuppen, Marmeladen, Flaschen, Shampoos, Seifen, Wasch- und Putzmitteln, Schreibblöcken, Grillkohle, Geschirr, Gläsern, Anglerzubehör und etlichen anderen Dingen stand dicht an dicht gedrängt. An der Stirnseite waren Milch, Joghurt, Käse, Wurst, Eier und andere frische, aber durch die Bank in Plastik verpackte Lebensmittel in einem Kühlregal untergebracht. Sie griff sich einen der drei bereitgestellten blauen Plastikeinkaufskörbe und packte ein, was sie in den kommenden Tagen brauchen würde – fünf Packungen Spaghetti, zwei Gläser Pesto und vier Gläser fertige Tomatensauce mit Ricotta-Käse und Basilikum.

Ina war keine große Köchin, sondern ging lieber essen oder bereitete sich irgendwelche einfachen, schnellen Gerichte zu. Die Mikrowelle war in der vollausgestatteten Berliner Küche ihre wichtigste Verbündete. Den Backofen mit Umluft, Grill und jeglichem erdenklichen Schnickschnack dagegen, hatte sie in all den Jahren praktisch nur zum Aufbacken von Pizzen benutzt.

Doch in dem Ferienhäuschen schien es in der winzigen Küche keine praktische Mikrowelle zu geben. Also waren Spaghetti die perfekte Lösung. Ein Stückchen frischen Parmesan zur Verfeinerung hatte sie aus Berlin mitgebracht.

Sie nahm noch ein Glas Himbeergelee, Geschirrspültabs, Butter und Eier. Von allem gab’s nur eine Sorte, also fiel die Auswahl leicht. Skeptisch betrachtete sie den Eierkarton in ihrem Einkaufskorb. Statt „Bio“ oder „Freiland“ stand auf der Verpackung ganz klein „Käfighaltung“. Das war ganz und gar nicht nach Inas Geschmack, also stellte sie die Schachtel zurück. Lieber gar keine Eier als welche aus Massentierhaltung.

Da sie laut Arzt keinen Kaffee trinken durfte, suchte sie nach Tee. Davon gab es immerhin drei verschiedene Sorten: Hagebutte, Kamille und „Ostfriesenmischung“ – alle als Beuteltee. Mangels Alternative landete ein Päckchen schwarzer Tee im Korb.

„Na, finden Se denn allet?“, sprach eine weibliche Stimme direkt hinter ihr sie an.

Erschrocken, da sie nicht gehört hatte, dass noch jemand im Laden war, drehte Ina sich um und stammelte: „Oh, äh, danke, ja …“

Die kleine, blonde, rundliche Frau in einer weißen Kittelschürze musterte sie neugierig. „Sie sind wohl aus Berlin, wa?“

„Äh, ja, wieso?“

„Na, weil Se nich reajiert ham, als ick Se jegrüßt hab.“ Die Frau mit der peppigen Igelfrisur war Mitte dreißig und sah sie streng an.

Ina rechtfertigte sich sofort: „Sorry, aber ich hör grad nicht so gut, und als ich reinkam, war niemand da. Da dachte ich, ich könnte schon mal alles zusammensuchen, was ich so brauche. Ist doch Selbstbedienung, oder?“

„Ja, klar. Wie soll dit denn sonst jehn? Ick war noch inner Backstube. Zum Zahlen komm’ Se denn rüber, wa?“

Ina nickte und drehte sich wieder zum Kühlregal um, nahm noch einen Liter Milch und ging zur Kasse.

Die Verkäuferin betrachtete jeden Artikel eingehend, während sie die Preise nacheinander eintippte.

„Na, Nudeln möjen Se wohl jerne …“, murmelte sie und stutzte bei den Tabs für den Geschirrspüler. „Die koofen Se aber nich für Berlin, wa?“ Fragend sah sie Ina an.

„Nein, die sind für hier“, antwortete die knapp.

„Hier?“, hakte die Frau neugierig nach. „Sind Se zu Besuch? Bei wem denn?“

„Ich wohne im Haus einer Freundin.“

„Ach? Wer isn dit?“

Die wollte es scheinbar ganz genau wissen. Ina musste schmunzeln, als sie überlegte, dass die Frau eine gute Reporterin abgeben würde, und antwortete: „Anja Meyerdirks.“

„Kenn’sch nich.“

„Die lebt in Berlin und hat vor ein paar Monaten ein Grundstück hier in der Akazienallee gekauft“, ergänzte Ina geduldig.

„Ach, denn is dit diese Flotte, die bei Herbert jejenüber dit alte Haus von den Voglers jekooft hat. Denn weeß ick!“, freute sie sich. „Zu Anfang war die ja öfters da, hat allet schick und neu jemacht. Alle Achtung! Aber jetze war Se schon ewig nich mehr hier. So, so, und jetze sind Sie also da. Bleiben Se länger? Oder nur übers Wochenende?“, schwatzte die Verkäuferin in ihrem breiten Brandenburgisch weiter.

„Ja, länger. Aber ich weiß noch nicht genau, wie lange.“

„Fein, fein. Beutel?“ Die Frau sah Ina fragend an.

„Äh, Beutel?“

„Ham Se’n Beutel bei oder brauchen Se ne Tüte? Kost’ aber zehn Cent extra.“

„Ach so, danke, geben Sie mir bitte eine Tüte.“

„Und Brot?“

„Nein danke, ich hab Toast aus Berlin mitgebracht“, lehnte Ina das Angebot ab.

„Toast …!“, stieß die Bäckersfrau verächtlich hervor. „Dit is doch keen Brot! Hier, probieren Se mal ein Stückchen von unser’m Räuberbrot. Is jrade im Anjebot.“

Sie hielt Ina einen Teller mit kleinen Probierhappen entgegen. Gehorsam steckte die sich einen Brocken in den Mund. Es schmeckte frisch und würzig, so ganz anders, als das, was sie aus dem Supermarkt-Backshop in Berlin kannte.

„Na? Lecker, wa?“

„Ja, tatsächlich. Das ist echt lecker. Na gut, dann geben Sie mir doch ein halbes Räuberbrot. Geschnitten, bitte.“

„Mach ick. Aber schneiden müssen Se dit schon selba. Wir ham dafür keene Maschine. Am Stück bleibt’s ooch länger frisch.“

Damit reichte sie Ina das Brot, kassierte und rief ihr beim Rausgehen nach: „Bis morgen früh! Unsere Schrippen sind ooch lecker, werden Se sehn!“

„Alles klar, bis morgen. Wiedersehen.“

Bevor sie alles ins Haus brachte, sah Ina nach, welche Fortschritte die Sauna machte. Das Thermometer zeigte nach einer guten halben Stunde erst vierzig Grad an. Ihre Wohlfühltemperatur lag allerdings bei achtzig bis neunzig Grad.

Also kümmerte sie sich erst mal um ihre Einkäufe und schmierte sich eine Scheibe Räuberbrot mit Butter. Es schmeckte köstlich. Wenn’s hart auf hart käme, könnte sie sich davon eine Weile ernähren. Dann stöpselte sie ihren iPod in die Anlage und machte es sich mit einem Glas Wasser auf dem breiten blauen Sofa am Fenster gemütlich. Sie steckte den USB-Stick für die Internetverbindung in den Laptop und wartete.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie endlich die gewünschte Verbindung und konnte die Anhänge ihrer Mails checken. Es hatte sich einiges angesammelt in der Zwischenzeit. Zumeist Einladungen zu Pressekonferenzen, Events, Galas und Pressemitteilungen zu neuen Fernsehsendungen, Kinofilmen und Neuveröffentlichungen der Plattenfirmen. Mit gewohnter Routine sortierte Ina alles nach „Wichtig“, „zur Not“ und „Schrott“.

Sie würde später entscheiden, woraus sich eventuell eine Geschichte für ihre Kolumne oder eine große Story mit Interview für die nächste Ausgabe der V.I.P. machen ließe.

Dann klickte sie die Internetseite ihres Magazins an, um sich über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Welt der Reichen, Schönen und Berühmten zu informieren. Bei der schwachen Internetverbindung dauerte es minutenlang, bis sich die Startseite endlich aufgebaut hatte. Nachdem sie das Wichtigste überflogen hatte, klickte sie die Onlineversion ihrer V.I.P.-Kolumne an. Zuerst baute sich der Text auf und schließlich darüber das Foto der Chefreporterin …

Ina erstarrte. Direkt neben ihrem Konterfei grinste sie auf einem zweiten Bild die Redaktionsassistentin Frauke Harms an. Über ihrer Kolumne!

Ina schnappte nach Luft und hatte schon das iPhone in der Hand. Sie wählte die Nummer von Klaus Berger. Nach dreimaligem Klingeln säuselte er persönlich in den Hörer: „Hey, Ina, das ist ja eine Überraschung. Wie geht’s dir? Erholst du dich gut zu Hause?“

„Was hast du dir dabei gedacht?“, fauchte sie ihn an.

„Was meinst du?“, fragte er unschuldig zurück.

„Ich war gerade auf unserer Homepage …“

„Äh, ja …?“, stotterte er, nichts Gutes ahnend.

„Was hast du dir dabei gedacht, das Foto von dieser kleinen Intrigantin über meine Kolumne zu setzen? Das ist meine Kolumne!“, schrie sie fast ins Telefon.

„Aber Ina, ich weiß gar nicht, worum es geht. Was für ein Foto? Mit dem Onlineauftritt hab ich doch praktisch nichts zu tun. Das verantwortet doch der Müller. Der gestaltet den Kram eigenständig. Soll ich ihn mal fragen, was da los ist?“

„Allerdings! Und zwar sofort! Das Foto muss da verschwinden – auf der Stelle! Sonst kriegt er richtig Ärger, der Müller. Sag ihm das! Ich bin auf hundertachtzig!“

„Nun beruhige dich doch. Stress ist Gift für dich. Hast du mir selbst gesagt. Bitte entspann dich. Ich kümmere mich gleich darum und melde mich dann wieder, okay?“

„Ich warte drauf!“ Damit legte sie auf und starrte wütend das Foto von Frauke Harms an.

Beim Überfliegen des ihr wohlbekannten Textes stutzte sie. Ganz am Ende waren ein paar Zeilen eingefügt worden. Über eine angebliche neue Affäre von George Clooney mit einem Model. Das musste Frauke aus irgendeiner Agenturmeldung zusammengeschrieben und ohne Absprache mit ihr einfach in die Kolumne eingefügt haben.

Ina kochte vor Wut.

Das Pfeifen in ihrem linken Ohr wurde stärker. Zumindest hatte sie den Eindruck. Sie ärgerte sich über Klaus, den Verlag und am meisten über sich selbst, dass sie überhaupt einen Hörsturz bekommen hatte. Dann versuchte sie, sich wieder etwas zu beruhigen. In ihrem eigenen Interesse.

Sie öffnete routinemäßig ihren Facebook-Account und überflog die Statusmeldungen ihrer Kontakte. Die meisten der fast achthundertsechzig Personen, die hier großspurig „Freunde“ hießen, kannte sie gar nicht. Und da deren tägliches Allerlei sie auch herzlich wenig interessierte, hatte sie bei vielen von ihnen einfach „Beiträge verbergen“ eingestellt. Statt diese Langweiler unhöflich zu löschen, erfüllten sie ihren Zweck – jeder in Facebook konnte anhand der schieren Menge ihrer Kontakte erkennen, dass Ina Frinks scheinbar sehr wichtig war, bei so vielen „Freunden“ …

Dass die meisten ihrer Belanglosigkeiten gar nicht auf Inas Pinnwand auftauchten, konnte ja niemand außer ihr sehen. Wenn sie sich allerdings vorstellte, dass auch sie selbst bei einigen der Kontakte, die sie für wichtig hielt, „verborgen“ war, fand sie das weniger witzig. Dennoch wusste Ina die Anonymität des Internets zu schätzen.