Audorn ist völlig außer sich: Edos Taaffeit-Formel wurde gestohlen. Während Edda sich bemüht, ihren Onkel Carl vor dem Zorn ihres Großvaters zu schützen, versuchen sie und René, dem Dieb auf die Schliche zu kommen.
Zu allem Überfluss wird Edda auch noch von ganz anderen Zwischenfällen abgelenkt. Warum quartiert sich ein ehemaliger Verehrer ihrer Mutter ausgerechnet im Bromedornhaus ein? Was hat es mit dem trächtigen Pferd auf sich, das im Wald in einer Hütte versteckt gehalten wird?
Und welche Verbindung haben all diese Rätsel mit der verregneten Pferderennbahn von Zimis, auf der es zu einer wilden Jagd im Wettlauf gegen die Zeit kommt?
Als Edda schließlich in ihrem Übermut einen verhängnisvollen Fehler begeht, bringt sie nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch den Menschen, den sie am meisten liebt …
Alexandra Haber (geb. Schmidt) wurde 1990 geboren und studierte Geisteswissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Sauerland. Neben ihrer beliebten Debütreihe Die Betonys ist auch ihr Nachkriegsdrama Flanders Fluch im Buchhandel erhältlich.
Weiterhin erschienen:
Ira – Zorn des Taaffeits (Die Betonys, Bd. I)
Gula – Gierige Flammen (Die Betonys, Bd. II)
Superbia – Erbe des Hochmuts (Die Betonys, Bd. III)
Luxuria – Verhängnisvolles Begehren (Die Betonys, Bd. IV)
Flanders Fluch
Banale Liebesgeschichten
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2020 Alexandra Haber
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-7838-1
Für unser Baby
Ein vorwinterlicher Wind zieht über den Steinlinder Stausee hinweg. Seine fröstelnden Finger hinterlassen zornige kleine Wellen auf seiner Oberfläche, die nur noch ein paar Wasservögel anzieht. Was im Sommer zum Baden und Angeln einlädt, ist jetzt kalt und abweisend.
Sie liebt diesen Anblick.
Er passt zu ihrer Stimmung. Melancholisch-schön und bittersüß spiegelt der See ihr Innenleben wider als wären sie eins. Sie kann nicht schwimmen. Würde sie jemals freiwillig aus dieser Welt scheiden wollen, würde sie sich dem See anvertrauen.
Aber solche Gedanken sollte sie nicht haben.
Im Bromedornhaus wartet das Zeugnis ihrer Liebe auf sie, das sie gleich abholen werden. Und der Mann, der ihren zarten Herzmuskel in Händen hält, steht dort am Kiesstrand, schaut gedankenverloren auf die sich leise kräuselnden Wellen und zieht an seiner Zigarette. Diese grässliche Angewohnheit! Je härter er arbeitet, desto mehr raucht er dabei.
Der Wind spielt mit seinem dunklen Zottelhaar, bläht sich im Mantel und rötet seine Finger und Wangen.
Sie lehnt am Auto und möchte zu ihm gehen. Aber das Bild ist zu schön. Wäre sie ein Maler, würde sie ihn genauso malen wollen. In letzter Zeit ist er häufig schweigsam und in sich gekehrt. Seitdem er seinen wertvollen Stein hergestellt hat, scheint er an nichts anderes mehr denken zu können.
Ob das mit diesem vermögenden Finanzier zu tun hat, den ihr Schwager vor einigen Monaten herangezogen hat? Seitdem ist ihr Liebster ruhelos und misstrauisch. Er misstraut der ganzen Welt.
Doch bei ihr ist das anders. Unter ihren Fingern wird er weich und milde, seine blauen Gletscheraugen saugen sie in sich auf und wenngleich sie eine Frau ist, die ihre Freiheit immer ausgekostet hat, so lässt sie sich von diesem Mann bereitwillig einverleiben. Er besitzt sie, ohne sie zu zwingen. Diese merkwürdige Anziehungskraft, die von ihm ausgeht, scheint einmalig zu sein. Von wem hat er das nur? Seine Mutter, diese gute Seele, war warmherzig und ehrlich; so wie er. Aber da ist noch etwas anderes in seinen Augen, das sie fasziniert und gleichzeitig schaudern lässt. Eine unsichtbare Fessel. Sie hat vormals noch andere Bewerber gehabt als ihn, doch niemand hat sie jemals zähmen können. Das kann nur er allein.
Endlich rührt sich seine dunkle Gestalt und er kehrt dem See den Rücken zu. Als er bei ihr ankommt, sieht er zuerst durch sie hindurch; als sehe er etwas ganz anderes vor sich.
Schließlich traut sie sich, ihre Hand an seine Wange zu legen, damit er aufwacht.
Das tut er.
Sein Blick findet sie und die bis eben beängstigend harten Augen werden sanft und liebevoll, fressen sie zärtlich mit Haut und Haaren und sein Mund findet ihren.
»Du bist in letzter Zeit so finster«, flüstert sie besorgt.
»Was bekümmert dich?«
Er seufzt und reibt sich das unrasierte Kinn. »Düstere Gedanken bloß. Mach dir keine Sorgen; sie gehen vorüber.«
»Ist es euer Sponsor? Seit mein Schwager ihn dir vorgestellt hat, bist du so verändert.«
»Dein Schwager ist ein argloses Kaninchen«, stößt er unvermittelt scharf hervor. Entschuldigend sieht er sie an. »Er meint es ja nicht so, ich weiß. Aber er überlegt einfach vorher nie, was sein Handeln für Folgen haben könnte. Wenn es nach ihm ginge, würde er diesem snobistischen Fuchs gleich unsere ganze Arbeit offenlegen. Manchmal frage ich mich wirklich, ob Geheimnisse bei ihm sicher sind.«
»Er hat was?!«, donnert es durch jeden Raum des wuchtigen Herrenhauses aus Gründerzeit, sodass die sonst so dickfellige Frau Mewes augenblicklich das Weite sucht, noch bevor sie die Türschwelle des Hauses überschritten hat.
Edda sieht sie vom Fenster aus flüchten und seufzt; sie würde sich ihr gern anschließen und weit wegfahren.
Kurz überlegt sie, ob sie dem Drang nachgeben soll.
Das geht nicht.
Aber das alles war ja abzusehen. Es nützt nichts, Edda muss da jetzt durch und den Tobsuchtsanfall des alten Herrn über sich ergehen lassen. Er wird ja wohl irgendwann vorbei sein.
Sie hat es auf sich genommen, Audorn über den unliebsamen Vorfall zu unterrichten, um ein wenig dessen Wut abzumildern, bevor Carl die geballte Ladung abbekommt.
Natürlich könnte Edda sich sagen, dass Carl ganz allein an seinem Schlamassel Schuld ist; das ist er ja auch.
Aber wenn Audorn und Carl ohne Puffer wie zwei Kometen aufeinanderprallen, soll Astrid nicht zu den Kollateralschäden zählen müssen.
Audorn ist aus seinem Sessel aufgesprungen, in dem er bis eben noch ätzend gut gelaunt gesessen und Edda mit seinem typisch selbstzufriedenen Blick bedacht hat.
»Spuck es schon aus, Kindchen«, hat er sie gönnerhaft ermuntert, als Edda nicht so recht wusste, wie sie anfangen sollte. »Wie schlimm kann es schon sein? Nur raus damit.«
Also gut.
Dann mal raus damit.
Wie schlimm kann es schon sein …
Somit hat Edda zu erzählen begonnen.
Schon nach wenigen Worten entgleisten dem alten Mann die Gesichtszüge und er hat sich vor Edda aufgebaut, als habe sie selbst das Verbrechen begangen.
Ohne auch nur einen Millimeter vor ihm zurückzuweichen, bleibt Edda neben dem großen antiken Globus stehen, der beinahe größer ist als sie selbst. Das Echo schwebt noch im Raum.
»Sag mir, dass du dir gerade einen Scherz erlaubst!«, bellt Audorn aufgebracht. »Sag es mir lieber schnell!«
»Ich glaube, Papa, dieses Spiel mit dem Feuer geht nicht einmal unsere Edda freiwillig ein«, kommt es vom Schreibtisch, an dem René lehnt, der seine Brille putzt. Edda hat ihn um Flankenschutz gebeten und er ist gekommen.
»Es ist mir tatsächlich ernst«, nickt Edda bekräftigend und verschränkt die Arme vor der Brust. »Die Formel ist verschwunden und wir wissen nicht, wohin.«
Wie ein jagendes Tier rauscht der alte Mann in seinem Arbeitszimmer auf und ab und fegt mit einer einzigen Armbewegung sämtliche Makulatur von seinem Schreibtisch.
»Ich bringe ihn eigenhändig um!«, faucht er wutentbrannt.
Edda seufzt. Mit so etwas hat sie gerechnet.
Sie tauscht einen Blick mit René, der entspannt seine Brille zurechtrückt und ihr zur Hilfe kommt.
»Natürlich, Papa. Aber zuerst sollten wir überlegen, was wir jetzt tun können«, sagt er so beherrscht und geduldig, dass Edda anerkennend die Unterlippe vorschiebt. Seine
Stimme ist wie erwärmtes Harz und Edda schaudert wohlig, wobei sie hofft, dass er das nicht merkt.
»Was wir tun können? Ich schneide ihm beide Ohren ab, das tue ich!«, ereifert sich sein Vater und Edda fürchtet, dass sie langsam wieder etwas sagen muss.
»Weißt du, ich habe ja einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte«, wagt sie sich vor. »Er ist der Einzige, der in Frage kommt, denn Carl hat ihn laufend …«
»Und genau das hätte er gefälligst unterlassen sollen!«, wütet Audorn und fuchtelt mit seinem Stock in der Luft herum. »Ich habe ihm gesagt, er soll sein vorlautes Maul halten!«
»So kommen wir nicht weiter«, knirscht Edda durch die Zähne hindurch und fummelt sich eine Zigarette aus der Schachtel, die sie sich eilig zwischen die Lippen schiebt.
Sie tritt ans Fenster, um es zu öffnen und sehnsüchtig die frische Nachmittagsbrise einzuatmen. Die Tage werden langsam kürzer, die Abende bringen erste Frische mit sich. Der August neigt sich dem Ende zu.
»Vielleicht hast du ja eine Ahnung, was der Dieb damit vorhaben könnte, wenn er selbst keine wissenschaftliche Begabung hat, die ihn die Struktur der Formel verstehen lässt.«
»Verkaufen, was denn sonst?«, bellt Audorn und sieht sie an, als stünde ein dummes Kind vor ihm.
Gereizt bläst sich Edda eine lilafarbene Haarsträhne aus der Stirn und überlegt, wie sie die Konversation in seichtere Gewässer kanalisieren könnte.
»Ich mache ihn zur Schnecke!«, donnert Audorn weiter, der sich inzwischen in Rage gebrüllt hat. »Carl wird seine Dusseligkeit noch verfluchen, wenn ich mit ihm fertig bin! Ich mache ihn und die ganze Hütte dem Erdboden gleich!«
Jetzt wird Edda heiß und sie macht einen Satz auf ihn zu. »Bitte beruhige dich …«
»Ich will mich nicht beruhigen!«, fährt Audorn zu ihr herum und die gelben Adleraugen lodern rot. Drohend hebt er den Zeigefinger. »Du weißt am besten, welche Opfer diese Formel gefordert hat, Edda Betony! Wer, wenn nicht du?«
Sie funkeln einander kampfbereit an und Edda reißt sich mühsam zusammen, um nicht ihrerseits laut zu werden und nur noch mehr Schaden anzurichten. So viel hat sie in der Vergangenheit zumindest schon lernen dürfen.
»Ich weiß doch, ich weiß«, knurrt sie. »Und genau deswegen möchte ich doch nur …«
Ihr Großvater schneidet ihr das Wort ab: »Dann weißt du auch, dass ich in dieser Angelegenheit kein Pardon kenne. Dass er es auch nur wagen kann, sie elendig zu verbummeln … Er musste ganz genau wissen, was ihn bei solch einer Fahrlässigkeit erwartet. Ich werde ihm dort wehtun, wo es ihn am meisten schmerzt!«
Wieso tut er das nur? Bereitet es ihm solche Freude, sie zu quälen? Wenngleich Eddas Brust sich bereits schneller hebt und senkt, reicht ein kurzer Blickkontakt mit René, der nur leicht den Kopf schüttelt. Sie reißt sich zusammen.
»Bitte, Großvater«, wagt Edda einen weiteren Versuch, diesmal nicht mehr ganz so beherzt. Sie merkt, dass Audorns unberechenbarer Jähzorn unangenehme Folgen haben wird, wenn sie ihn jetzt nicht beschwichtigen kann. Nicht auszudenken, von welchem Schmerz er hier spricht und Edda will es lieber nicht erfahren!
»Bitte tu jetzt nichts, was du später bereuen …«
»Nein, nein! Er ist derjenige, der hier etwas bereuen wird«, lacht Audorn drohend.
»Hör auf damit!«, ruft Edda nun ungehalten. »Wieso hörst du mir nicht wenigstens erstmal zu? Bitte …«
»Hör auf zu betteln, sonst verliere ich die Geduld! Das zieht bei mir nicht und du weißt das!«
Genießt er das eigentlich gerade?
Unglücklich und in Sorge um Astrid und ihre Cousins fasst Edda nach der Hand ihres Großvaters.
»Tu meiner Familie nichts zuleide!« Wie sie es hasst, den Bittsteller zu spielen! »Meiner Tante wegen, bitte!
Sie kann doch nichts dafür und ist dir gegenüber immer willens gewesen. Zählt das überhaupt nicht?«
Audorn entzieht ihr seine Hand und blafft: »Dein Tantchen hätte dem sauberen Gatten schon in ganz anderen Angelegenheiten einen Maulkorb verpassen müssen. Wenn sie dazu nicht in der Lage ist, ist das für sie nur umso bedauerlicher.«
»Meinst du nicht, dass wir jetzt endlich einmal sachlich überlegen sollten …«, beginnt René gelassen, aber sein Vater kläfft dazwischen: »Nein, das meine ich nicht!
Fängst du jetzt auch noch an? Ich weiß schon, was ich zu tun habe.«
Mit feurigen Augen erwidert Edda Audorns wutentbrannten Blick und fügt mit so viel Gefügigkeit wie sie ertragen kann hinzu: »Wenn ich dich doch bitte, Großvater. Um meinetwillen, bitte!«
Einen derartigen Kniefall hat sie vor ihm noch nie gemacht; vor niemandem! Und es würgt sie bereits!
Das weiß Audorn auch ganz genau und exakt dieser Aspekt scheint zu ziehen. Im Wettstreit mit seinem Zorn und seiner Eitelkeit schaut er Edda vernichtend an, aber kurz huscht ein genüsslicher Ausdruck über sein Gesicht und unter seinem Bart zeichnet sich ein kaum sichtbares Grinsen ab.
In jungen Jahren muss er ein Urvieh gewesen sein, so viel steht fest!
Mühsam hat Edda ihre gefügige Maske aufrechterhalten wollen, doch ihr Gefieder sträubt sich inzwischen derart bis zum Himmel, dass der alte Mann es gar nicht übersehen kann.
Süßlich schürzt Audorn die Lippen und nimmt Eddas Kinn in seine große Hand.
»Mein kleines Taubenäuglein,«, knurrt er jovial. »du machst dich mit deiner beispielhaften Treue viel zu verletzlich, weißt du das?«
Das angriffslustige Zucken ihrer Lefzen kann Edda nicht mehr unterdrücken.
»Darin ähnelt ihr zwei euch ziemlich.« Der Alte deutet mit dem Kinn auf seinen Sohn, der mit seinem schattigen Lächeln völlig ruhig bleibt. »Und ich schätze diese Eigenschaft sehr an euch, daher will ich mal kein Unmensch sein.«
Ein letztes Mal schnaubt Audorn wütend durch die Nüstern, tippt Edda mit dem Finger auf die kleine Himmelfahrtsnase und fängt sich endlich ein wenig.
»Erzähle mir alles über diesen mysteriösen Kerl, was du weißt, Edda«, sagt er nun und hebt drohend den Zeigefinger. »Lass bloß kein Detail aus!«
»Ich glaube, Papa,«, schiebt sich René vor und legt seinem Vater beschwichtigend die Hand auf den Arm. »das versucht sie die ganze Zeit. Vielleicht solltest du sie endlich einmal reden lassen.«
Grimmig nickt der Alte und lässt sich wieder in seinen Sessel sinken.
Er macht eine auffordernde Handbewegung.
Also beginnt Edda zu erzählen: »Du erinnerst dich an Edos diesjährigen Todestag, Großvater …«
An Edos und Elinors Todestagen, die kaum zwei Monate auseinander liegen, geht es Edda immer schlecht. Sie möchte am liebsten das Bett nicht verlassen und ihre Trauer überschlafen. Das tut sie natürlich nicht.
Sie tritt gewohnheitsmäßig ihren Arbeitstag an und weiß aus Erfahrung, dass er ihr erfolgreich dabei helfen wird, ihren Kummer auszublenden. Zumindest bis zur Mittagspause.
Mit ihrer jungen Auszubildenden Fenna geht Edda in ihr Lieblingsbistro, das direkt um die Ecke des Fotostudios liegt, in dem sie arbeiten, und nagt lustlos an ihrer Pizza. Auf Nachfrage erfährt Fenna, was Edda drückt; sie hat Verständnis dafür und versucht, Edda aufzuheitern.
Als die gutgemeinten Versuche scheitern, sagt sie schließlich: »Du hast doch jetzt deinen Großvater wiedergefunden. Willst du vielleicht heute einmal mit ihm gemeinsam hinfahren? Zum Grab, meine ich.«
Betreten schaut Edda sie an und drückt ihr nur deshalb ihre Pizza nicht ins Gesicht, weil Fenna es nicht besser wissen kann. Sie meint es ja gut.
»Nein, das kann ich nicht«, erklärt Edda lau. »Ich möchte ihn heute lieber gar nicht sehen.«
Kurz schweigen sie, dann fügt Fenna arglos hinzu: »Weißt du, Edda, ich vermute mal, dass er diesen Tag auch nicht sonderlich mag.«
Da kann sie recht haben …
»Das will ich hoffen«, knurrt Edda und ignoriert Fennas entrüsteten Gesichtsausdruck. »Das verleiht dem Ganzen zumindest ein bisschen Würde.«
Mit dieser Aussage ist Fenna überfordert. Verhalten knabbert sie ihre Salami unter der Käseschicht hervor und murmelt: »Manchmal werde ich wirklich nicht schlau aus dir …«
Nach Feierabend stattet Edda zunächst dem Tätowierer ihres Vertrauens einen Besuch ab, um ihren Termin wahrzunehmen. Sie hat ihn nicht zufällig auf diesen Tag legen lassen. Die Nadel bohrt sich durch ihre Haut und alter wie auch neuer Schmerz vermischen sich zähflüssig miteinander.
Schließlich zieht es Edda dorthin, wo ihre Wunden seit jeher verbunden wurden: nach Steinlind zu ihrem Elternhaus. Daher schwingt sie sich in ihren grünen Geländewagen und rast über die Landstraße, als sei sie auf der Flucht.
Irgendwie stimmt das ja auch.
Vor ihrer Trauer flieht sie schon ihr Leben lang.
Obgleich sie damals erst fünf Jahre alt war, so kann sie sich an den Tag von vor so vielen Jahren noch gut erinnern.
Wie könnte sie auch Elinors Zusammenbruch vergessen?
Als Edda ihre Mutter kreischend zu Boden gehen sah, wusste sie direkt, dass etwas ganz Furchtbares geschehen sein musste; denn Erwachsene weinen doch nie! Edda hoffte damals sehr, dass ihr Vater bald kommen und ihre Mutter trösten würde, so wie er es immer getan hatte. Niemand konnte so gut trösten wie Papa.
Aber Papa kam nicht.
Nie mehr.
Edda dreht das Radio auf volle Lautstärke und gönnt ihrem Trommelfell eine Ladung Heavy Metal. An ihrer Seite fließt die Landschaft vorbei, die von Tannen bewaldeten Hügel verschmelzen zu grünen Flutwellen und heben sich düster gegen die weißen Wolkenberge ab. Edda liebt diesen Anblick.
Als sie den Steinlinder Stausee passiert, hält sie kurz an und spaziert eine Zigarettenlänge am Ufer entlang. Weich kräuseln sich die Wellen unter der schattigen Nachmittagsbrise und spiegeln die Wolken wider. Mit düsteren Augen betrachtet Edda die schlummernde Taaffeit, die nahezu unschuldig im Hafen vor sich hindümpelt. Unwillkürlich massiert Edda die lange, dünne Narbe in ihrer Handinnenfläche.
Ob ihr Großvater gerade genauso bekümmert ist wie sie selbst? Dazu hat der alte Herr auch allen Grund, jawohl! Edda saugt ihre Zigarette leer und schnippt sie in einen nahestehenden Aschenbecher. Wenngleich Audorn sich besonders in der letzten Zeit spürbare Mühe gibt, netter zu ihr zu sein, wissen sie doch beide, dass es für ein ganzes Leben immer etwas geben wird, das zwischen ihnen steht. Ob sie sich jemals wie seine Enkeltochter wird fühlen können? Bisher will es ihr nicht so recht gelingen. Vermutlich geht es ihm genauso. Edda glaubt nicht, dass er wirklich viel für sie übrighat. Wenn es hart auf hart käme, könnte er bestimmt genauso gut wieder auf sie verzichten, wie die letzten dreißig Jahre zuvor. Doch bis jetzt hält er sie so eisern umklammert, als wolle er sie nie wieder loslassen …
Sie steigt zurück in den Wagen und fährt die kurze Strecke bis zum Bromedornhaus durch. Beruhigend ragen die beiden vertrauten Schornsteine schon in einiger Entfernung auf und die Stahlriemen um Eddas Herz lockern sich ein wenig. Der getreue Geländewagen rumpelt durch ein Schlagloch.
»Heinrich, der Wagen bricht«, murmelt Edda und schaut unwillkürlich auf ihre Tätowierungen am linken inneren Handgelenk. Das Datum des schauderhaften Tages, an dem ihre Mutter starb, und der lebensbejahende Phönix. In seinen Flügel hat Edda erst kürzlich etwas einarbeiten lassen, das heute vervollständigt wurde. Sie weiß nicht, was ihr Kind geworden wäre, wenn sie es geschafft hätte, es zur Welt zu bringen. Also hat Edda sich für zwei Kinderfüße entschieden.
Als sie den Wagen vor dem kleinen Mäuerchen des Bromedornhauses zum Stehen bringt, weiß sie schon, dass man sie erwartet. Jedes Jahr an diesem Tag kommt Edda nach Hause und niemand ist ihr dann näher als ihre Familie.
Es duftet nach Kaffee und altem Holz und das Gefühl des Heimkehrens erfrischt Edda ein wenig, als sie durch die Haustür tritt.
»Bin da«, grölt Edda durch den Korridor, hängt ihren Anorak an die Garderobe und trampelt in die Küche. In der Erwartung, gewohnheitsmäßig nur ihre Tante vorzufinden, hat sich bereits ein wohliges Lachen auf Eddas Gesicht ausgebreitet; dieses vertrocknet augenblicklich. Nicht etwa wegen Orla, die auf der Anrichte hockt und Paprikastreifen schnabuliert, sondern vielmehr, da Edda eine weitere Person am Küchentisch sitzend vorfindet, die dort definitiv nicht hingehört.
Die Person schlürft aus einem großen Kaffeepott und sieht Edda mit einem wenig überraschten Lächeln an. Astrid steht an der Anrichte, blickt über die Schulter, als sie Edda hereinkommen hört und trocknet sich die nassen Hände an einem Spültuch ab.
»Grüß dich, Engelchen.« Astrid küsst Edda mütterlich. »Das ist Arno Schierling«, erklärt sie artig und deutet auf den hochgewachsenen grauhaarigen Mann am Küchentisch, der sich nun zur Begrüßung erhebt.
»Ein sehr alter … Freund der Familie. Er hat über einige Tage unser Gästezimmer gemietet.«