Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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© Anja Fröhlich, Köln 2020

Alle Rechte vorbehalten.

www.anja-froehlich.de

Originalausgabe: arsEdition, München 2018

Textlektorat: Kerstin Kipker

ISBN: 978-3750-48-920-2

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Für Einer und Be in Liebe

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Die Frau, die meine Mutter für mich aussucht, ist mindestens hundert. Sie hat hellrosa Lippenstift an die Stelle gemalt, wo früher mal ihr Mund gewesen sein muss. Jetzt ist da nur noch eine Faltenlandschaft. Es sieht ein kleines bisschen so aus, als hätte jemand eine Baumrinde angemalt.

Auch um die Augen sind die Runzeln eingefärbt worden. Und zwar in Hellblau. Mittendrin klimpern ein paar Wimpern, die so dicht und lang sind wie die meiner alten Schlafpuppe Prinzessin Knallerbse.

»Die nehmen wir«, raunt Mama mir zu und zieht mich an die Dame heran.

Mir ist ein bisschen mulmig zumute. Ich frage mich, warum meine Mutter die einzig wirklich seltsame Person auf dem ganzen Bahnsteig für mich aussucht. Wahrscheinlich, weil sie ein bisschen mollig ist. Mama hat schon im Auto gesagt, dass man sich im Zweifelsfall immer an die Molligen halten soll. Sie meint nämlich, mollige Menschen wären im Durchschnitt gutartiger als dünne. Das hat sie in einer Zeitschrift gelesen. Mama behauptet allen Ernstes, Mollige wären viel zu gemütlich, um gemein zu sein.

Mama selbst ist übrigens kein bisschen mollig. Denn in einer anderen Zeitschrift hat sie gelesen, dass dünne Frauen doppelt so schnell einen Mann fürs Leben finden wie dicke Frauen. Ihr aktueller Mann fürs Leben heißt Manfred und ist eigentlich ganz in Ordnung. Manni hat Mama jedenfalls in die Karibik eingeladen. Und die beiden hätten mich sogar mitgenommen, wenn ich nicht schon mit Papa verabredet gewesen wäre. Die Sommerferien verbringe ich nämlich immer mit ihm. Papa wäre daher bestimmt todtraurig, wenn ich unsere schönste Zeit des Jahres absagen würde, um sie dann mit einem fremden Manni zu verbringen. Karibik hin oder her.

Ich finde es okay, statt in die Karibik zu Papa zu fahren. Weil das Leben mit Papa ein echtes Lieblingsleben von mir ist. Papa hat übrigens nach der Trennung von Mama keine neue Frau fürs Leben mehr gesucht. Und darum habe ich ihn in den Ferien immer ganz für mich allein.

Wenn Papa und ich uns wiedersehen, versuchen wir immer, im Schweinsgalopp alles nachzuholen, was wir in den Wochen davor miteinander verpasst haben. Wir frühstücken dreimal hintereinander oder bleiben einfach im Kinosaal sitzen, bis der Film ein zweites Mal läuft.

»Entschuldigen Sie?«, fragt Mama die mollige alte Dame. »Fahren Sie zufällig nach Köln?«

Die Frau klappt ihre Prinzessin-Knallerbsen-Wimpernganz nach oben und mustert uns.

»Ja, warum?«, fragt sie misstrauisch. Ihre Stimme ist tief und rau, fast wie eine Männerstimme. Und einen Moment lang frage ich mich, ob hinter ihrer Schminke und unter ihrem Blumengewand vielleicht ein Mann versteckt ist. Mama scheint sich das nicht zu fragen. Denn sie redet einfach weiter. Und einem Mann hätte sie mich auf keinen Fall anvertrauen wollen. Männer sind nämlich in jedem Fall gefährlicher als Frauen – egal, ob dick oder dünn. Das findet Mama jedenfalls.

»Wissen Sie, meine Tochter fährt ganz alleine von Berlin nach Köln zu ihrem Vater, in ihre alte Heimat sozusagen. Obwohl sie ja eigentlich nur die Kindergartenzeit dort verbracht hat. Nach der Scheidung sind wir beide dann in die Hauptstadt gezogen.«

Ich stupse Mama mit dem Ellbogen in die Seite.

»Äh, wie auch immer«, erklärt sie weiter. »Ich bin jedenfalls schon im Flieger, wenn sie ankommt, verstehen Sie?«

Da nickt die alte Dame, die auch ein Mann sein könnte, und ihre welligen rosa Mundränder fächern sich zu einem netten Lächeln auf.

Mama fühlt sich auch gleich angespornt, und sie redet umso lauter weiter.

»Na ja, so ein junges Mädchen ganz alleine im Zug, das ist natürlich gefährlich! Würden Sie ein Auge auf sie werfen? Das Kind kann mich ja noch nicht mal telefonisch erreichen, wenn etwas passiert. Wie gesagt, ich bin dann schon mit meinem MANN auf dem Weg in die KARIBIK.«

Mama redet vor Aufregung so laut, dass der gesamte Bahnsteig mithören kann. Sollte sich also ein Kidnapper unter den Leuten befinden, dann ist er spätestens jetzt auf mich aufmerksam geworden.

»Aber ja doch, mein Schätzchen«, sagt die Dame und zwinkert mir zu. »Wir gucken mal, ob neben mir noch ein Platz frei ist. Und sonst schaffen wir Platz!«

Da kommt auch schon der Zug. Mama trägt meiner neuen Begleitung ihre beiden lilafarbenen Koffer bis zu ihrem Sitz am Fenster. Ich selbst habe Gott sei Dank nichts zu schleppen. Mein Gepäck ist schon nach Köln zu Papa geschickt worden.

Tatsächlich ist der Platz neben Miss Knallerbse senior noch frei. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich von meiner Mutter sanft auf den Sitz schieben zu lassen und das nasenbetäubende Parfüm der Dame einzuatmen.

Dann wird es auch schon Zeit für den Abschied. Ich werde mit Küssen und letzten Ratschlägenübersät, und dann fängt Mama sogar an, ein bisschen zu weinen. Das hat mir gerade noch gefehlt! Schließlich ist es nicht meine Schuld, dass ich zwei Leben führe und zwischen Mama und Papa hin- und herpendeln muss wie ein Pingpongball. Kurz bevor der Zug sich in Bewegung setzt, reißt Mama sich los. Auf dem Bahnsteig sehe ich sie mit beiden Armen winken – so als wäre sie eine Schiffbrüchige und ich ein Passagierdampfer, der einfach an ihr vorbeizieht.

Und dann bin ich plötzlich allein in dieser seltsam fremden Welt, die zwischen Mama und Papa liegt. Am liebsten hätte ich eine Zeitmaschine, auch wenn ich die Zeit nur um vier Stunden vorstellen würde. Denn ich hasse Abschiede. Und auch wenn ich mich auf Papa freue, bin ich trotzdem traurig, dass Mama weg ist. Keine Ahnung, wer Scheidungen erfunden hat. Es muss ein Vollidiot gewesen sein.

»Möchtest du ein paar Veilchenbonbons?«, fragt die alte Dame und kramt in ihrer Handtasche. Ich schüttele den Kopf, und sie schiebt sich selber ein paar lila Pastillen in den rosa Mund. Weil ich ein bisschen Angst vor einer Unterhaltung habe, setze ich meinen Kopfhörer auf und schließe die Augen.

»Hallo Lieblingsmensch«, singt Namika mir ins Ohr. Den Song habe ich im letzten Sommer mit Papa immer gehört. Doch in der Dunkelheit hinter meinen Augenlidern wirkt er irgendwie nicht.

Nach einer Weile blinzele ich heimlich zur Seite, um zu schauen, ob die alte Dame mich im Blick hat. Doch statt auf mich aufzupassen, ist sie einfach eingeschlafen! Ich stelle die Musik ab und betrachte sie etwas genauer. Der Knittermund steht offen, und man kann ihre goldenen Backenzähne in der Sonne glänzen sehen. Sie schnarcht ein kleines bisschen.

Das wäre die Gelegenheit, mich davonzustehlen. Aber was ist, wenn sie aufwacht und Alarm schlägt? Weil sie glaubt, sie hätte einen Kinderklau verpennt.

Also bleibe ich ganz ruhig sitzen, damit sie ja weiterschläft.

Als wir am Bahnhof Zoo halten, schnarcht meine Begleiterin immer noch leise vor sich hin. Auf dem Bahnsteig beobachte ich ein paar Leute, die sich verabschieden. Mir fällt ein Junge auf, dessen Vater ihm die blonden Haare durchwuschelt, als handele es sich um einen Wühltisch im Schlussverkauf. Dann ballt der Mann die Wuschel-Hand zu einer Faust, und der Junge boxt kraftlos dagegen.

Als der Zug wieder anfährt, steht der Typ mit der zerwühlten Frisur plötzlich in meinem Abteil. Ohne den Vater. Seine knallblauen Augen scannen alle noch freien Plätze, und er kommt samt seiner riesigen Sporttasche zielsicher auf mich zu. Die beiden Sitze auf der anderen Seite des Gangs sind noch frei.

»Hi«, sagt der Wuschel und versucht, sich die Haare wieder glatt zu streichen. Er wirft seine mit Aufklebern zugepflasterte Tasche auf den Platz am Fenster und setzt sich an den Gang – nur eine Armlänge von mir entfernt. Einen kurzen Moment begegnen sich unsere Augen, und ich bekomme sofort eine leichte Gänsehaut,so durchdringend ist sein Blick.

»Deine Uroma? «, fragt er und deutet auf meine Begleiterin. Ich schüttele den Kopf. » Pssst!«

Der Junge grinst, schmeißt seine Tasche auf den Boden und setzt sich auf den Fensterplatz. Dann winkt er mich zu sich. Vielleicht ist er ja auch zu einem verloren gegangenen Elternteil unterwegs. Ein Leidensgenosse zwischen den Welten! Ich rücke zu ihm herüber.

»Ich bin Jamie und du?«

»Isabell, äh, Easy«, antworte ich. »Isabell nennt mich eigentlich kein Mensch. Außer meiner Mathelehrerin vielleicht. Die findet mich nicht besonders easy.«

Jamie grinst.

»Fährst du auch nach Köln?«, will er wissen.

Ich nicke. Und innerlich jubele ich sogar ein bisschen. Dabei kann ich im normalen Leben nicht besonders viel mit Jungs anfangen. Jedenfalls hasse ich solche, die einem die Mütze vom Kopf reißen und das auch noch witzig finden. Oder die sich gegenseitig mit dem Nachnamen ansprechen und dann noch so ein komisches »ey« vorschieben und ein »Alter« anhängen. »Ey Müller, Alter!«

Aber hier, in dieser traurigen Zwischenwelt zwischen Mama und Papa bin ich froh, dass ein Mensch in meinem Alter dasselbe Ziel hat wie ich und in den nächsten vier Stunden neben mir sitzt.

Tatsächlich ist Jamie auf dem Weg zu seiner Mutter und seinem kleinen Bruder Jimmi, der nach der Trennung der Eltern bei seiner Mama in Köln bleiben wollte.

Während er selbst es irgendwie cooler bei seinem Vater in Berlin findet. Das erzählt er mir schon nach wenigen Minuten.

»Bei meinem Vater ist alles freestyle, verstehst du.«

Ich schüttele den Kopf.

»Der sagt immer: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Und irgendwie hat er recht. Jedenfalls geht er mir nicht mit Ratschlägen auf die Nerven. Ratschläge sind auch Schläge, kennst du den Spruch?«

Ich schüttele wieder den Kopf, aber Jamie redet einfach weiter.

»Meine Mutter ist genau das Gegenteil. Bei ihr wird alles durchkontrolliert. Selbst wenn ich nicht bei ihr bin, will sie wissen, ob ich genug Schlaf oder genug Vitamine bekomme.«

Jamie verzieht das Gesicht, als wären Schlaf oder Vitamine irgendwie eklig.

»Stell dir vor, sie hat sogar schon mal versucht, den Inhalt des Kühlschranks mit einer Kühlschrank-App zu überwachen. Dazu hat sie eine Art Spionagekamera angebracht.«

»Und?«

»Mein Vater hat einfach die Glühbirne rausgedreht. Weil es da sowieso nichts zu sehen gibt. Wer Hunger hat, bestellt was. Er sagt immer: Warum Einzelteile kaufen und sie dann mühsam zusammenfrickeln, wenn es das alles auch schon fertig gibt. Man kauft das Auto ja auch lieber am Stück. Oder bekommt ein fertiges Regal geliefert, statt an der Ikea-Anleitung zu verzweifeln.«

Jamie wird immer aufgeregter beim Anpreisen seines praktischen Lebens. Doch dann macht er plötzlich eine kleine Pause und starrt aus dem Fenster.

Ich überlege, ob ich mich für so viel Ehrlichkeit mit ein paar Geschichten aus meinem Leben bedanken sollte. Aber er scheint zu sehr in seinem eigenen Film zu sein.

»Außerdem bin ich altmodisch«, murmelt er plötzlich in Richtung Scheibe. »Ich halte immer zu den Opfern.«

»Wie meinst du das denn jetzt?«

Er dreht sich um, und seine Augen leuchten viel weniger als bei der Freestyle-Schwärmerei von vorhin.

»Na ja, meine Mutter hat uns verlassen. Und mein Vater wollte das nicht. Am wenigsten wollte er, dass sie jetzt einen neuen Typen hat. Mit dem will sie sogar zusammenziehen, und in den Ferien machen wir jetzt so eine Art Probewohnen mit dem.«

Puh, das ist ganz schön viel privates Zeug, was dieser Jamie mir da anvertraut. Dabei kennt er mich doch gar nicht! Vielleicht ist es ja leichter, ehrlich zu sein, wenn man sich schon bald nie wieder sehen wird.

»Hat dein Vater sich auch schon mal neu verknallt?«,will er jetzt auch noch wissen.

Ich schüttele den Kopf. »Gott sei Dank nicht. Ich sehe ihn ja nicht so oft. Aber wenn, dann ...« Ich erspare ihm lieber mal die Einzelheiten. Sicher will er nicht hören, dass ich meinen Papa die ganzen Ferien nur für mich habe. »Wie ist denn der Freund deiner Mutter so?«, frage ich schnell.

Jamie verzieht das Gesicht, als hätte ich nach dessen Fußpilz oder Raucherlunge gefragt.

»Ein Vollhonk natürlich, wie soll er schon sein? Die ganze Zeit starrt er meine Mutter mit diesen Glupschern an, so als wäre sie ein Unterhosenmodel.«

»Ist sie denn eins? Oder läuft sie in Unterhose durch die Wohnung?«

»Nein, natürlich nicht!« Jamie rauft sich die eben glatt gestrichenen Haare, sodass sie aussehen wie eine Wiese nach dem Gewitter. »Sie läuft nicht so rum, und sie sieht auch nicht so aus, als sollte sie so rumlaufen.«

Keine Ahnung, was er damit meint. Vielleicht ist sie ja unförmig. Aber warum sollte dieser neue Typ sie dann so anglotzen?

»Mein Bruder und ich sind voll lästig für den«, erklärt er weiter. »Aber das kann der Honk natürlich nicht zugeben. Weil wir halt an Mama dranhängen wie zwei Geschwüre oder so was. Es gibt sie einfach nicht ohne diese beiden blöden Anhängsel.«

Wow, das sind mal drastische Worte! Wie kann man sich selber nur Geschwür nennen? Ich hätte viel zu viel Angst, so grässliche Dinge über mich selbst zu denken. Angeblich sind Gedanken doch der Ursprung von allem. Nicht, dass sie immer gleich Realität werden müssen. Aber ich habe mal gehört, dass es Bereiche im Gehirn gibt, die zwischen Ausgedachtem und Echtem nicht so genau unterscheiden können. Darum läuft einem schon die Spucke im Mund zusammen, wenn man nur an Schokoladenkuchen mit Karamellfüllung denkt. Ich will gar nicht wissen, was so ein Geschwürgedanke alles auslösen kann.

»Das mit dem Verliebtsein lässt bestimmt irgendwann nach«, versuche ich Jamie aufzuheitern.

Mir fällt Mamas schwärmerischer Blick ein, den sie immer draufhat, wenn ein neuer Mann fürs Leben eingetroffen ist. Aber der Gedanke, dass sie ihn sich dabei in Unterhose vorstellt, ist mir nie gekommen. Das wäre auch einfach zu eklig.

»Hat der Honk vielleicht auch irgendwelche guten Seiten?«, frage ich Jamie.

Ich habe kaum das G von gut ausgesprochen, da schüttelt er auch schon den Kopf.

»Komm schon, jeder hat gute Seiten. Gab’s da nichts, womit er versucht hat, dich zu bestechen? Oder wenigstens milde zu stimmen? Irgend so ein Ding unter Männern? Fußballkarten oder ein blutiges Steak?«

»Doch, genau mit solchen Sachen hat er’s versucht. Aber hey, das sagt doch schon alles über den! Ich meine, sind wir hier bei den Neandertalern? Außerdem bin ich Vegetarier und kann kein Blut sehen.«

Wir schweigen eine Weile, und Jamie schreibt ein paar Nachrichten auf seinem Handy. Vielleicht schwört er seine Mutter ja schon mal auf seine schlechte Laune ein.

Als er fertig ist, sieht er mich wieder mit diesen durchdringend blauen Augen an. »Schön, dass bei dir und deinem Vater alles so glattläuft«, sagt er und zieht die Augenbrauen verächtlich hoch. Ich bekomme beinahe ein schlechtes Gewissen.

Nein, alles ist natürlich auch nicht in Ordnung, höre ich mich sagen. Da ist eine Sache, die mein Vater niemals erfahren darf. Sonst ist es echt aus mit der Freundschaft.

Jamie setzt sich ein bisschen aufrechter und schaut mich erwartungsvoll an.

Wieso habe ich bloß damit angefangen?

»Ich habe diese Pflanze verloren, die er mir mal geschenkt hat.« Jamie schaut mich so ungerührt an, wie es mit seinen Funkelaugen eben möglich ist. »Wie kann man denn eine Pflanze verlieren? Bist du mit ihr im Park Gassi gegangen und hast vergessen, sie anzuleinen?«

»Nein! Viel schlimmer! Ich habe sie mutwillig verloren. Und verloren ist auch gar nicht der richtige Ausdruck.«

Ich erzähle Jamie tatsächlich von dieser unsterblichen und unverwüstlichen Wüsten-Pflanze, die Papa mir feierlich überreicht hat, als Mama und ich nach Berlin gezogen sind. Ich wollte nicht weg von ihm, und ich fand es mies, dass er uns einfach gehen ließ und nicht um mich kämpfte oder einfach mitkam. Und ich wollte zu diesem Anlass auch kein Geschenk bekommen, das mich immer an diesen schrecklichen Moment erinnert. Und dann kam er mit dieser braunen struppigen Knolle, die er angeblich von seinem Vater bekommen hat, und der wieder von seinem und so weiter. Der erste von diesen Vätern hat sie mal aus einer Wüste mitgebracht, zu einer Zeit, als es noch gar keinen Wüsten-Tourismus gab. Es war also lebensgefährlich, diese Pflanze zu besorgen. Und von da an haben alle Nachfahren des mutigen Wüstenforschers die Pflanze in Ehren gehalten. Und immer wenn einer von ihnen mal verzweifelt war oder in einer echt blöden Lage, dann hat er dieses krumpelige Knäuel ins Wasser gelegt und beobachtet, wie es plötzlich grün wird und anfängt zu leben. Denn in Wirklichkeit ist es eine Art Farn, der mal kurz aufblüht, wenn es in der Wüste alle paar Jahre regnet. Danach schrumpelt er sofort wieder zusammen, und man kann Fußball mit ihm spielen. Das Ding war irgendwie so was wie die berühmte goldene Uhr, die man seinem Sohn vererbt, wenn man den Krieg überlebt hat.

Jamie hat während meiner ganzen Erzählung die Nase so komisch gekräuselt. Vielleicht hat er sie ja auch gerümpft. Jedenfalls sind seine Sommersprossen jetzt ganz durcheinander.

»Diese Pflanze kenne ich«, sagt er schließlich. »Das ist die Rose von Jericho. Die kann man auf jedem Weihnachtsmarkt kaufen.«

»Ja, jetzt schon. Ich habe auch eine neue gekauft, nachdem ich die von meinem Vater, wie soll ich sagen ...«

Und dann gestehe ich ihm auch noch, dass ich in einem Wutanfall mit der Nagelschere die armen kleinen Ästchen von dem Reisig-Ball abgeschnitten habe. Erst nur ein paar. Doch am Ende lag das Erbstück meiner Urahnen – das wertvolle Symbol für Hoffnung – wie ein massakriertes Häufchen Elendvor mir. Das hat mich natürlich nicht wirklich glücklich gemacht. Aber immerhin hatte Papa ja auch etwas Schlimmes getan. Und jetzt waren wir ein kleines bisschen quitt.

Jamie nickt. Er scheint diesen absurden Gedankengang tatsächlich zu verstehen.

»Und wann wirst du es ihm sagen?«, fragt er.

»Nie natürlich. Ich habe eine neue Pflanze, die haargenau aussieht wie die alte.«

»Und wirst du die auch an dein Kind weitergeben und behaupten ...«

»Ey, auf wessen Seite stehst du denn eigentlich?«, unterbreche ich ihn sofort. Die Geschichte mit der Pflanze hat mich total aufgewühlt.

»Ist ja schon gut«, erwidert Jamie mit einem letzten Naserümpfen. Kurz darauf behauptet er, mal dringend irgendwohin zu müssen.

Ich sehe ihm nach, wie er mit der zu weiten Jeans und diesem wippenden Gang in Richtung Bordtoilette zieht. Dann schaue ich auf den leeren Sitz neben mirund entdecke sofort diese schwarze kleine Ecke, die aus der Ritze zwischen Sitzfläche und Rückenlehne ragt.

Prinzessin Knallerbse hat immer noch die Augendeckelmit den langen, dichten Wimpern runtergeklappt. Also befreie ich unbeobachtet das schwarze Etwas aus der Sitzfalle. Es ist ein altes, zerkratztes Handy, das auf Vibrationsalarm gestellt ist und dessen Display 29 entgangene Anrufe von einem gewissen Schwachkopf aufzeigt.

Wahrscheinlich versucht der Besitzer sein verlorenes Handy anzurufen, in der Hoffnung, dass jemand drangeht. Fragt sich nur, warum er sich dafür ausgerechnet das Handy eines Typen ausleiht, den er selbst als Schwachkopf einprogrammiert hat.

Kaum habe ich mir diese Frage gestellt, beginnt das alte Telefon auch schon in meiner Hand zu zittern und zu beben, als hätte es eine Panikattacke.

Anruf Nummer 30 trifftein. Ich drücke auf Annehmen und höre, was Schwachkopf oder wer auch immer dran ist so zu sagen hat. Doch statt dass er mich mit erleichterter Stimme fragt, wer ich bin und wo ich sein Handy gefunden habe, höre ich nur lautes Gebrüll.

»Da bist du ja endlich, du Wurst. Glaubst wohl, du könntest abhauen. Aber ich weiß, wo du steckst. Und wenn du bis ans Ende der Welt reist. Ich finde dich. Da kannst du einen drauf lassen.«

Okay, anscheinend habe ich tatsächlich einen Schwachkopf am Ohr. Kurz überlege ich, ob ich versuchen soll, den Fall aufzuklären. Oder ob ich mich gar in Gefahr befinde. Aber selbst wenn dieser Typ das Steinzeit-Handy orten kann, wird er es wohl kaum auf mich abgesehen haben. Ich könnte es einfach wieder zurück in die Ritze schieben, und dann kann er so lange anrufen, bis der Akku sich leer gezittert hat. Doch dazu kommt es gar nicht mehr. Gerade als ich dem aufgebrachten Schwachkopf mit einem Klick auf den roten Hörer das Wort abschneide, steht Jamie plötzlich wieder neben mir und reißt mir das Handy aus der Hand. Er sieht ganz blass aus und lässt es panisch in seiner Hosentasche verschwinden.

»Wieso hast du mein Handy?«, zischt er mich an.

»Oh, ich wusste nicht, dass es deins ist. Du hattest doch eben noch ein anderes.«

Ich stehe auf, damit er sich wieder ans Fenster setzen kann.

Bei dem Trubel wacht auch Prinzessin Knallerbe auf, die sofort in ihre Rolle als Anstandsdame zurückfindet und mich zu sich heranwinkt.

»Hat dieser junge Mann dich belästigt?«, will sie wissen. Ich schüttele den Kopf.

Statt wieder zum Fenster durchzurutschen, lässt Jamie sich auf den Platz am Gang fallen, setzt seinen Kopfhörer auf und starrt vor sich hin. Ich bin also gezwungen, meinen alten Platz neben Prinzessin Knallerbse einzunehmen.

Ich setze mir auch wieder den Kopfhörer auf. Jetzt habe ich links und rechts jemanden neben mir, der mir nicht geheuer ist.

Zwischendurch kommt eine Nachricht von Papa.

Easy-Peasy, jetzt konnten wir gar nicht mehr in Ruhe telefonieren, bevor du losgefahren bist. Dabei habe ich eine ziemlich fette Überraschung für Dich. Stell Dich schon mal drauf ein!

Was denn?, will ich natürlich wissen. Aber Papa meint, die Sache wäre zu groß für eine kleine Nachricht.

Den Rest der Reise kann ich an nichts anderes mehr denken als an die Mega-Überraschung. Vielleicht ist es ja ein Tier. Ein Hund! Aber ich will mich lieber mal nicht zu früh freuen. Außerdem hasst Papa Tiere in der Wohnung. Er ist ja schon allergisch gegen Menschenhaare. Das könnte man jedenfalls meinen, wenn er sie mit der Pinzette aus dem Abfluss der Badewanne zieht und dabei einen grimmigen Vortrag über Verstopfung hält.

Lange bevor wir am Kölner Hauptbahnhof angekommen sind, verabschiedet sich Jamie mit einem genuschelten »Man sieht sich« und stellt sich schon mal an die Waggontür. Ich wechsele einen Blick mit der Hundertjährigen, die eine ihrer aufgemalten Augenbrauen hochzieht.

»Jungs müssen immer Erster sein«, sagt sie. »Ein merkwürdiger Drang. Aber lassen wir ihnen ihr Glück.«

Beim Aussteigen ist Jamie dann auch gleich verschwunden. Auch gut. Ich werde wohl nie erfahren, warum er zwei Handys hatte. Und wer dieser Schwachkopf war. Geht mich auch nichts an.

Trotz meiner Hilfe braucht die hundertjährige Knallerbse ziemlich lange, bis sie ihre Sachen sortiert und aus der Bahn befördert hat. Zwischendurch erzählt sie mir noch in aller Ruhe von dem kleinen Katzencafé, das ihr gehört. Sie schreibt sogar mit ihrem Kajalstift die Adresse des Cafés auf ihre Fahrkarte und überreicht sie mir. Ich schaue mich nach Papa um, doch ich kann ihn nirgendwo entdecken. Es sind einfach zu viele Menschen auf dem Bahnsteig, und der Zug ist so lang, dass man das Ende nicht sehen kann.