Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2020 Manuel Sand
Coverdesign, Satz, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7504-7888-6
Ohne Vorwarnung begann der Angriff. Unzählige Orks fielen plötzlich in das alte Kloster ein. Niemand konnte ahnen, dass die Grünhäutigen je eine Bibliothek überfallen würden. Elysium war auf ganz Tulernia bekannt für seine Sammlung uralter Schriften und Bücher, manche sollten sogar älter sein als das erste Königreich der Elfen. Viele Gelehrte und wissensdurstige Abenteurer hatten diese Hallen bereits besucht, doch niemals zuvor hatte es einen direkten Angriff gegeben. Die Mönche waren keine Krieger und unbewaffnet. Ohne auf starken Widerstand zu treffen, kämpften sich die blutrünstigen Orks durch die Räume und schlachteten jeden gnadenlos ab, der ihnen in die Quere kam.
Einige Mönche, der Meister der Bibliothek unter ihnen, hatten sich in einem kleinen Raum verbarrikadiert. Doch mit roher Gewalt zerlegten die Eindringlinge die Tür und stürmten auch in diese letzte Zuflucht. Dann hielten sie plötzlich inne. Ein sehr großer Ork stampfte durch die Reihen der Krieger, bis er direkt vor den Mönchen stand.
Der Anführer sprach den Meister an: »Du da! Wo ist euer Allerheiligstes?« Er beherrschte die allgemeine Sprache Tulernias überraschend gut, was für einen Ork ungewöhnlich war.
Der Alte erwiderte zornig: »Eher sterbe ich, als dass ich euch unsere größten Geheimnisse ausliefere!«
Ohne ein Wort zu sagen, packte der Riese den aufmüpfigen Mönch am Kragen und hob ihn mühelos hoch. »Tötet die anderen!«, befahl der Ork und ließ den Bibliothekar zusehen, wie seine Brüder schmerzhaft hingerichtet wurden. Dann drückte er seinen Hals so fest zu, dass der Greis fast zu ersticken drohte. »Ich frage dich ein letztes Mal: Wo ist es?«
»Im Hauptsaal … hinter dem Wandteppich …«, keuchte der Meister. Dann wurde er einfach fallen gelassen. Noch bevor er wieder zu Kräften kam, stach der Ork mit seinem Säbel zu.
»Mögen die Götter dich verbrennen, du Monster!« Dies waren die letzten Worte des Altehrwürdigen gewesen. Doch der orkische Feldherr grinste nur und rief seiner Meute zu: »Ihr wisst, wonach ich suche! Tötet alle und brennt anschließend das Gemäuer nieder!«
Während die Krieger fortstürmten, stieß ein Bogenschütze den Häuptling an und deutete durch ein Fenster: »Sieh mal, dort unten! Anscheinend will da wohl ein Feigling fliehen. Ich erledige das.«
Der Schütze legte an, doch der Hüne hielt ihn zurück: »Lass ihn leben, Krumb! Soll er doch der Welt erzählen, was er gesehen hat. Ha, besser könnte es gar nicht laufen! Komm jetzt, wir haben noch viel zu erledigen!«
*
Einige Wochen später wurde Valik in die Ratshalle der Elfen gerufen. Valik war ein Wulveraner, ein Mischwesen, halb Elf und halb Fuchs. Wie die Elfen war er von hoher Statur und ging aufrecht auf seinen Hinterpfoten. Sein Fell, der Schwanz und der fuchsartige Kopf samt Ohren unterschieden ihn jedoch deutlich von den hiesigen Elfen. Vor zehn Jahren hatte er in den gütigen Herzwäldern der Elfen ein neues Zuhause gefunden. Inzwischen war aus ihm ein beeindruckender Waldläufer geworden und er hatte hier viele Freunde gewonnen. Bei den Sitzungen des Rates waren für gewöhnlich nur die Auserwählten anwesend, äußerst selten wurden Angehörige anderer Völker hinzugezogen. Dies machte es nur noch rätselhafter, dass man ihn gerufen hatte.
Als Valik vor dem Rat stand, verbeugte er sich und fragte zaghaft: »Ihr habt mich rufen lassen. Wie kann ich Euch dienen?«
Der alte Elfenkönig Elvir erhob sich und antwortete: »Valik, du hast dich in der Vergangenheit mehrfach als zuverlässiger und treuer Freund der Elfen erwiesen. Außerdem gehörst du mittlerweile zu unseren besten Kundschaftern. Wir haben dich zu uns gebeten, weil wir deine Hilfe in einer dringenden Angelegenheit benötigen.«
Valik stutzte. »Ich fühle mich geehrt, dass Ihr so großes Vertrauen in mich setzt. Aber was könnte wohl ein Wulveraner für Euch tun, was nicht von einem Elfen unter Umständen besser erledigt werden könnte?«
Da mischte sich Galadriel, die rechte Hand des Königs, ein: »Wir Elfen mögen zwar gut in Wäldern und grünen Gegenden klarkommen, aber karges Ödland oder gar Gebirge gehören nicht zu unseren Stärken. Ihr Wulveraner hingegen seid in nahezu jedem Landstrich zu Hause und deutlich einfallsreicher in schwierigen Situationen.«
Elvir ergriff nun wieder das Wort: »Der Auftrag, den wir dir geben, könnte wichtiger sein, als wir im Moment erahnen können. Sicher hast du gehört, dass die Orks vor einiger Zeit Elysium überfallen haben.«
»Gewiss. Doch warum sollten Orks Interesse an Büchern haben?«, fragte der Wulveraner.
»Eben diese Frage haben wir uns auch gestellt. Es gab einen Überlebenden, und was er berichtete, wirft nur noch mehr Fragen auf. Anscheinend hatten die Orks an besonders alten Dokumenten Interesse. Doch haben diese für sie keinen Nutzen. Die Orks geben ihr Wissen mündlich weiter. Außerdem sind die gestohlenen Handschriften in einer uralten Runensprache verfasst, die selbst die Mönche noch nicht vollständig übersetzen konnten. Kurz gesagt, die Orks haben die Schriften bestimmt nicht für sich selbst gestohlen. Jemand muss sie beauftragt haben. Wir bezweifeln, dass dieser Unbekannte Gutes im Sinn hat.«
Nach einer kurzen Pause sprach der Elfenkönig weiter: »Wir haben Artherion, einen unserer besten Waldläufer, ausgesandt, um mehr über diese Sache in Erfahrung zu bringen. Anfangs hat er uns regelmäßig Nachrichten zukommen lassen. Doch seit über einem Monat haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wir fürchten um sein Leben. Zudem hat uns sein letzter Brief sehr beunruhigt.«
Galadriel ergriff das Wort: »Er berichtete, dass die Antwort im Orkland zu finden sein könnte. Er glaubte sogar, dass eine viel größere Bedrohung dort ihren Anfang nehmen könnte. Leider hat er keine Details in seinem Brief erwähnt, aus Sorge, dass er in die falschen Hände fallen könnte.«
Jetzt sprach Selena, die oberste Heilerin, weiter: »Über die Orks haben wir ebenfalls beunruhigende Gerüchte gehört. Angeblich sollen mehrere kleinere Gruppen das Orkland verlassen haben und plündernd durch die Umgebung ziehen. Es hat in der Vergangenheit zwar immer wieder einzelne Streuner gegeben, aber dieses Verhalten ist schon seltsam.«
»Und meine Aufgabe soll nun sein?«, fragte Valik neugierig.
Der König sprach sehr ernst: »Deine Aufgabe ist es, Artherions Spuren zu folgen, ihn zu finden und wieder zurückzubringen. Reise zur Stadt Sulmans Heim! Dort findest du den Gnom Schmendrik. Soweit wir wissen, war er der Letzte, der mit Artherion Kontakt hatte.«
»Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Ich werde Euch nicht enttäuschen.«
Valik wandte sich zum Gehen, als ihm Elvir noch zurief: »Sollte Artherion gefallen sein, kannst nur du seine Aufgabe beenden. Mögen die Götter mit dir sein, Valik.«
»Mögen sie über uns alle wachen!«, erwiderte er.
Kaum hatte Valik den Raum verlassen, wandte sich Galadriel flüsternd an den König: »Warum habt Ihr ihm nicht von Eurer Vision erzählt?«
»Es war nicht die rechte Zeit. Außerdem soll er seine Wahl selbst treffen«, antwortete der König ruhig.
Valik vergeudete keine Zeit. Er packte ein paar Vorräte ein und machte sich, mit Kurzschwert und Bogen bewaffnet, gleich am nächsten Tag auf den Weg. Auf der Straße begegneten ihm mehrere Wegelagerer, doch der Wulveraner wich ihnen geschickt aus.
Bald stand er vor den Toren von Sulmans Heim, einer ruhigen Gnomstadt. Hier war alles aus Kristallen erbaut, selbst die gigantische Stadtmauer, die im Sonnenlicht funkelte. Valik wusste, dass es sich dabei um ganz besondere Kristalle handelte, nämlich Kyra. Sie waren nahezu unzerstörbar, und es war ein fast unmögliches Unterfangen, sie abzubauen, geschweige denn, sie zu verarbeiten. Nur die Gnome und die Zwerge waren dazu in der Lage, aber beide Völker hüteten das Geheimnis gut. Valik fragte sich, wie es die kleinen Leute wohl geschafft hatten, diese Giganten von den seltenen Minen hierherzubringen. Diese rundlichen Gesellen waren eher gemütlicher Natur, schwere körperliche Arbeit traute man ihnen gar nicht zu. Doch Valik war schließlich wegen etwas anderem hier.
Sein erster Besuch galt der hiesigen Taverne. Kaum hatte der Waldläufer die Schwelle überschritten, verstummten alle Gespräche und die Musik schlagartig. Unter den argwöhnischen Blicken der Gnome ging Valik vor zur Theke und wandte sich an den Wirt.
»Ich grüße Euch, guter Gnom. Könnt Ihr mir wohl mit einer Auskunft weiterhelfen?«
Der Wirt musterte Valik von oben bis unten und antwortete: »Eure Art ist hier nicht willkommen! Ihr solltet besser wieder gehen.«
»So sagt mir doch bitte, wo ich Schmendrik finden kann, und ich verlasse Eure Schänke sofort wieder.«
»Schmendrik, ja? Ich denke nicht, dass er gut auf Euch zu sprechen ist. Er ist ein alter Veteran aus dem Krieg«, erwiderte der Gnom.
»Das lasst nur meine Sorge sein. Wo kann ich ihn finden?«
»Eure Sorgen nehmt Ihr am besten gleich wieder mit. Wir leben hier in Frieden, und das soll auch so bleiben. Schmendrik wohnt auf dem Hügel östlich von hier. Ihr könnt das Haus nicht verfehlen, denn es ist das einzige dort.«
Trotz des unfreundlichen Empfangs verabschiedete sich der Wulveraner höflich. Als er schon an der Türschwelle war, rief einer der Gäste: »Ja, hau bloß ab! Niemand wird dich vermissen!«
Valik war eine derartige Feindsinnigkeit bereits gewohnt. Der Krieg damals war schrecklich gewesen und kaum jemand begriff die Handlungen der Wulveraner während dieser chaotischen Zeit.
Er folgte der Straße, die im Sonnenlicht bunt funkelte und ihm wie ein Teppich aus unzähligen geschliffenen Edelsteinen erschien. Schließlich erreichte er das smaragdfarbene Haus Schmendriks. Valik klopfte an und nach kurzer Zeit waren schlurfende Schritte zu hören. Es öffnete sich ein kleiner Spalt in der Tür, und als der Hausherr Valik erblickte, fragte er leicht gereizt: »Was will einer wie du hier?«
»Mein Name ist Valik und ich möchte mit Euch sprechen. Ich bin im Auftrag Elvirs hier.«
»Der Elfenkönig war einst mein Waffenbruder gewesen. Wenn er für dich bürgt, rede ich mit dir.«
Nach diesen Worten öffnete der alte, faltige Gnom die Tür und bat Valik herein.
Die Wohnung war spartanisch eingerichtet und wirkte auch ziemlich chaotisch. Eine Gnomenrüstung in der Ecke war auf Hochglanz poliert und zeugte von der militärischen Vergangenheit des Hausherrn. Im Gegensatz zu seinem Rüstzeug hatte Schmendrik seine beste Zeit wohl hinter sich. Mit Mühe schlurfte er zu einem Sessel und ließ sich erschöpft fallen.
Nach einer kurzen Verschnaufpause fragte der Gnom ungeduldig: »Also, warum hat Elvir dich geschickt?«
»Ich suche Artherion. Er wird vermisst, und soweit ich weiß, war er zuletzt bei Euch gewesen.«
»Ach ja, der Elf. Er hatte Feuer in den Augen. Ich wünschte, ich hätte damals in meiner Einheit mehr Männer wie ihn gehabt. Dann würde mein Sohn vielleicht noch leben …«, sagte der Alte bitter.
»Ihr habt Euren Sohn verloren? Das tut mir leid«, versuchte Valik die gereizte Stimmung zu beruhigen.
Doch der Alte sprach deutlich erregt weiter: »Lassen wir das Thema besser. Artherion kam zu mir, um mehr über das Orkland zu erfahren. In meiner Jugend war ich ein tollkühner Tunichtgut, und eine meiner Reisen führte mich genau dorthin. Besonders interessiert war der Knabe aber an dem Turm, den ich dort gesehen hatte.«
»Ein Turm im Orkland?«, fragte Valik verwundert.
»Ja, an der nördlichsten Grenze der Steppe. Da hat wohl mal ein Zauberer gelebt. Ich nehme an, du willst jetzt auch dorthin? Dann müsstest du das gesamte Ödland einmal durchqueren … Obwohl ich dir wohl kaum eine Träne nachweinen würde, will ich dich zumindest warnen: Du wirst zweifellos mehr brauchen als einen Bogen und ein Schwert, um das zu überleben.«
»Macht Euch um mich keine Sorgen, ich kann auf mich aufpassen. Habt Ihr vielleicht damals eine Karte angefertigt?«
»Natürlich, aber die habe ich bereits deinem vermissten Freund mitgegeben. Du kannst den Turm allerdings nicht verfehlen. Durchquere die Steppe einmal vom Süden nach Norden, dann wirst du ihn schon sehen. Wenn das jetzt alles war, würde ich mich gerne etwas hinlegen. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste …«
»Gewiss doch. Habt Dank für Eure Hilfe. Ich komme schon allein klar.«
Mit diesen Worten verabschiedete sich der Wulveraner von dem alten Veteranen und verließ das Haus.
Wieder an der frischen Luft, dachte Valik laut nach: »Der schnellste Weg zum Orkland führt durch den Felsholzwald. Na dann …«
Obwohl es schon dämmerte, wanderte Valik noch lange in Richtung Norden. Ein Lager in der Wildnis erschien ihm sicherer als ein Zimmer in einer Stadt, wo man Wulveraner nicht gerne sah …
Valik war im legendären Felsholzwald angekommen. Seinen Namen verdankte der Wald dem nahezu unverwüstlichen Holz seiner Bäume. Früher wurden aus diesem Holz die besten Waffen des Landes gefertigt, doch seitdem sich die Kobolde dort eingenistet hatten, war der Abbau zum Erliegen gekommen. Ein Verlust, den selbst die Elfen bedauerten. Die meisten sahen in den kleinen Kobolden nichts weiter als eine Plage, Ungeziefer gar nicht unähnlich. Sie vermehrten sich rasend schnell. Und auch wenn sie den meisten anderen Völkern körperlich unterlegen waren, so waren sie ebenso verschlagen wie hinterlistig. Das machte aus den Rotpelzen eine Gefahr, die Valik nicht unterschätzte. Unzählige Abenteurer waren den kleinen Tricksern schon zum Opfer gefallen. Des Weiteren galten sie als sehr blutrünstig. Valik schritt, mit dem Bogen in der Hand, sehr aufmerksam und vorsichtig voran. Seine Nerven waren bis aufs Äußerste gespannt. Er nahm jedes Geräusch mit Argwohn wahr und rechnete mit allem, obwohl es völlig ruhig schien … zu ruhig.
Dann bemerkte er einen strengen Geruch in der Luft. Er hätte die Kobolde eigentlich nicht für so dumm gehalten, aber sie schlichen sich wohl mit dem Wind an. Jetzt entdeckte er ein schelmisches Augenpaar in den Büschen. Doch bevor er reagieren konnte, schnappte die Falle zu. Die kleine Schlinge zwischen den Zweigen war dem sonst so aufmerksamen Kundschafter entgangen, und nun hing er kopfüber an einem Baum, seine Waffen lagen am Boden verstreut.
Die kleinen Kobolde sprangen aus ihren Verstecken hervor und kläfften vergnügt: »Wir haben ihn! Wir haben den Fuchs gefangen!«
»Ihr miesen Feiglinge! Kämpft, wenn ihr euch traut!«, keifte Valik wütend. Doch das zeigte keine Wirkung.
Sie trugen Valik, gut verschnürt, durch das Unterholz bis zu ihrem Lager. Ohne zu zögern, warfen sie ihn wie einen Sack Kartoffeln vor dem größten Zelt auf den Boden. Ein sehr stattlicher Kobold trat heraus und begutachtete, was ihm die anderen mitgebracht hatten. Der üppige Federschmuck, den er trug, zeigte unmissverständlich seinen Stand in diesem Haufen an: Er war der Häuptling.
»Ai, was haben wir denn hier? Was ist das da?«, fragte er höhnisch.
Valik versuchte sich mühsam aufzurichten. Doch bevor er etwas sagen konnte, sprach der Kobold weiter: »Hör zu, Fuchs, du bist jetzt unser Gefangener. Was hast du hier zu suchen? Warum bist du gekommen?«
»Ich bin nur auf der Durchreise. Mit euch habe ich nichts zu schaffen. Lasst mich frei! Ich habe euch nichts getan«, antwortete Valik wütend.
Davon unbeeindruckt erwiderte der Häuptling: »Deine Reise ist hier zu Ende. Vielleicht zahlt man ja für dich Lösegeld? Oder wir essen dich einfach.«
»Niemand wird euch Lösegeld zahlen und ich habe auch nichts!«
»Na dann … du willst unser Land durchqueren und nichts als Gegenleistung geben? Das ist jetzt unser Land. Niemand kommt hier ohne unsere Erlaubnis durch – und ohne Wegzoll erst recht nicht. Also, du hast die Wahl: Entweder gewähren wir dir die Ehre, von uns gefressen zu werden, oder du erweist uns einen Dienst. Du entscheidest.«
Der Wulveraner hatte wenig Lust, seinen Entführern zu helfen, doch wusste er keine bessere Möglichkeit. »Was wollt ihr von mir?«
Der Häuptling holte tief Luft und begann zu erzählen: »Es heißt, dein Volk wäre klug … Also höre! Wir leben hier schon viele Jahre, doch nicht allein. Eine Gruppe von Irrwichten wohnt ebenfalls hier, und bisher hatten wir Frieden. Aber nun haben diese Teufel uns bestohlen. Sie stahlen unsere heiligste Reliquie, den Kopf des ersten Kobolds. Ich habe schon viele Kämpfer meines Volkes in die Höhle der Irrwichte gesandt, aber keiner von ihnen kam lebend wieder heraus. Wir Kobolde sind nicht schlau genug für ihre Zaubertricks, aber du wirst gehen … und du holst uns den Kopf zurück!«
Valik wurde mulmig zumute. Irrwichte besaßen unvergleichliche Fähigkeiten in der Illusionsmagie. Selbst Erzmagier kamen nicht an sie heran. Den Wulveraner wunderte es wenig, dass die Kobolde ihnen nicht gewachsen waren. »Wenn ich euren Schatz zurückbringe, lasst ihr mich meine Reise unbehelligt fortsetzen. Das ist mein Angebot, nehmt es an oder seht selbst zu, wie ihr euer Relikt zurückbekommt.«
Der Häuptling lächelte und gab seinen Männern ein Zeichen. Während sie Valiks Fesseln lösten, antwortete der König: »So soll es sein! Zwei meiner Männer bringen dich zur Höhle. Deine Waffen behalten wir als Pfand. Du kannst sie dort eh nicht brauchen. Bring uns den Kopf zurück und du bist frei.«
Zähneknirschend begleitete Valik die beiden Kobolde. Nur ein Narr würde behaupten, dass er im Angesicht einer solchen Gefahr keine Furcht verspürte.
Schließlich erreichten die drei eine Lichtung, auf der ein seltsamer quadratischer Busch stand. Sowohl seine Form als auch seine Größe verrieten, dass er wohl kaum natürlichen Ursprungs war. Als Valik den Busch betrachtete, fuhr das Blätterwerk auseinander und gab einen mannshohen Spalt frei. Valik beugte sich vor und sah hinein. Es schien ein Eingang zu sein, der in die Tiefe führte, doch Valik konnte nichts als Dunkelheit erkennen. Ein kurzer Blick zu seinen Gefährten bestätigte seine Vermutung, dass sie hier auf ihn warten würden.
»Also gut, Irrwichte, raus mit euren Tricks! Gebt euer Bestes, denn nun komme ich!«, rief der Fuchs und trat todesmutig in den Spalt …
Im nächsten Moment befand er sich in einem großen Tal, in dessen Mitte ein riesiges, mit Zähnen bestücktes Loch klaffte. Der Schlund war so groß, dass er kaum in diesen Busch gepasst hätte.
»Ist das alles, was ihr könnt? Da müsst ihr euch schon etwas Besseres einfallen lassen«, spottete Valik und sprang furchtlos durch den Schlund in die Tiefe.
Nun stand er in einem langen Korridor. Von dem Maul war nichts mehr zu sehen, aber am Ende des Ganges konnte er eine Tür erkennen. Valik lief leichten Schrittes vorwärts. Doch anstatt sich der Tür zu nähern, entfernte er sich von ihr. Mit jedem Schritt schien der Gang vor ihm wegzufließen. Selbst als Valik rannte, konnte er sein Ziel nicht erreichen. Plötzlich blieb er stehen und schmunzelte. Dann machte er kehrt und lief nun rückwärts. Der Korridor floss immer noch vor ihm her, aber auf diese Weise kam die Tür näher. Schließlich griff Valik siegessicher nach dem Türgriff und spottete: »Ist das etwa alles? Das war leichter als gedacht.«
Doch da musste der Fuchs erkennen, dass die Tür nur eine Illusion war. Im Hintergrund konnte er gehässiges Kichern hören.
»Sehr komisch …« Der Wulveraner grinste. Er hatte bereits einen verräterischen Luftzug gespürt und wusste nun, dass eine Seitenwand des Korridors nur ein Trugbild war. Lässig schritt der Herausforderer hindurch.
Jetzt stand Valik in einem Treppenhaus, dessen Stufen in alle Richtungen führten, sogar senkrecht in die Höhe. Stellenweise waren die Treppen ineinander verknotet. Wenigstens den Ausgang konnte Valik deutlich erkennen, denn hoch oben erhob sich ein riesiges Tor.
»Da braucht es schon mehr, um mich aufzuhalten«, gab Valik zum Besten. Er lief zuerst die Treppe nach unten, dann kreisförmig um eine Säule herum wieder hinauf, um als Nächstes kopfüber an der Decke entlangzugehen – und das alles nur, um wieder am Anfang herauszukommen. Die einzige Regelmäßigkeit hier war das ständige Kichern und Gackern der Irrwichte.
Der Wulveraner stellte sich einen Moment lang vor, wie sie alle zusammensaßen, Essen teilten und den Dummkopf beobachteten, der es wagte, zu ihnen zu kommen. Der Wulveraner versuchte viele Wege und markierte sogar die bereits erkundeten, aber er kam immer wieder am Anfang heraus. Er probierte es noch einmal und befand sich nun direkt über dem Tor. Fast schon siegessicher sprang Valik hinunter. Aber dann musste er feststellen, dass die Schwerkraft hier nicht nur in eine Richtung wirkte. Wie hätte er sonst auch an der Decke laufen können? Er wurde wie ein Kirschkern durch den Raum geschossen, kreuz und quer, bis er schließlich äußerst unsanft auf dem Allerwertesten landete.
Wenigstens die Irrwichte amüsierten sich königlich und Valik überlegte schon, ob er nicht für seine Vorstellung Eintritt verlangen sollte. Doch jetzt hatte er eine Idee und nutzte sein neues Wissen gezielt aus. Er blickte sich aufmerksam im Raum um, lief dann ein paar Schritte und blieb an einer günstigen Stelle stehen. Mit ganzer Kraft sprang er nach oben … und wurde wieder von unsichtbaren Kräften durch den Raum geschleudert. Aber diesmal endete seine Irrfahrt direkt vor dem Tor. Das Gelächter der Irrwichte war jetzt deutlich leiser geworden.
»Ha, seht ihr? Mich werdet ihr nicht so schnell los!«, rief er seinem ungewollten Publikum zu.
Auf dem Tor stand in großen geschwungenen Buchstaben: »Wohin willst du?« Ohne groß darüber nachzudenken, drückte Valik die Klinke nach unten. Zu spät erkannte er seinen Fehler, unter ihm öffnete sich eine Falltür.
Nach einem recht kurzen Sturz saß Valik auf einer gebogenen Plattform, die sich hoch in den Wolken drehte. Ungläubig stand er auf und blickte in die Tiefe. Unter ihm erstreckte sich das Festland, und es ging wirklich sehr weit hinab. Wäre er nicht auf der Plattform gelandet, hätte der Wulveraner den Sturz nicht überlebt. Er hatte unfassbares Glück gehabt, denn die Plattform bewegte sich stets im Kreis. Über dieser Plattform waren noch etliche andere, die sich präzise wie ein Uhrwerk ineinander drehten. Außerdem hatten sie unterschiedliche Entfernungen zueinander. Ganz oben konnte Valik ein leuchtendes Tor erkennen. Offensichtlich der Ausgang. Natürlich waren die Plattformen zu weit voneinander entfernt, als dass er einfach hätte hinauflaufen können. Valik dachte kurz darüber nach, wie viele hier wohl schon abgestürzt waren. Dann aber fasste er sich ein Herz und sprang bei der nächsten Gelegenheit eine Plattform höher. Beim zweiten Sprung wäre der Abenteurer fast zwischen zwei Plattformen zermalmt worden, doch er hielt sich wacker und nahm Ebene für Ebene in Angriff.
Zweifellos starrten die Irrwichte auch jetzt gebannt auf ihren ungebetenen Gast und warteten nur darauf, dass ein Fehltritt sein Ende besiegeln würde. Doch sie hatten wohl noch nie von der Wendigkeit der Wulveraner gehört. Auf der letzten Ebene angekommen, setzte Valik zu einem geradezu selbstmörderischen Sprung an und gelangte schließlich zum Tor. Mit sichtbarer Schadenfreude im Gesicht trat er durch das Portal in den nächsten Raum.
Jetzt stand der Waldläufer in einem großen, kreisrunden Spiegelsaal. Das Gelächter schien den kleinen Biestern im Halse stecken geblieben zu sein, denn stattdessen hörte Valik hektisches Geflüster. Plötzlich sah er in allen Spiegeln Irrwichte, die aber zehnmal so groß schienen als üblich. Normalerweise reichten sie einem normalen Mann gerade mal bis zu den Knien. Dann wanderten sie aufeinander zu und verschmolzen im größten Spiegel zu einem riesigen Irrwicht … und dieser trat nun aus dem Spiegel heraus. Wie seine kleineren Verwandten hatte er ein dichtes graues Fell, bei dem kaum mehr als seine goldgelben Augen hindurchschimmerten.
»Deine Reise endet hier, Fuchs!«, dröhnte der Hüne, und Valik verfluchte die Tatsache, dass er seine Waffen nicht dabei hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte der Irrwicht auf den Wulveraner los, wie ein wild gewordener Stier. Doch Valik huschte zwischen seinen Beinen hindurch.
»Hey, Winzling! Bleib stehen!«, schimpfte der Riese.
»Wozu? Damit du mich leichter töten kannst? Fang mich doch, du Tollpatsch!«, spottete der Fuchs.
Jetzt setzte der Irrwicht zu einem Sprung an und versuchte, Valik zu ergreifen, doch dieser rollte sich zur Seite. Das Spiel wiederholte der Wulveraner so lange, bis sein Angreifer unvorsichtig wurde. Beim nächsten Frontalangriff wich Valik elegant aus und stellte ihm ein Bein. Der Riese verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Nase, nicht jedoch, ohne mit seinem Schädel einen der Spiegel zu zerdeppern. Im selben Moment, als der Spiegel zerbrach, zersplitterte auch einer seiner Arme. Valik verstand sofort, und bevor sich sein Gegner wieder aufrappeln konnte, zerbrach er einen Spiegel nach dem anderen. Mit dem letzten Spiegel zerfiel auch der riesige Irrwicht zu Staub … Und was kam hinter dem Spiegel zum Vorschein? Unzählige Irrwichte! Sie rannten sofort panisch auseinander, aber Valik hatte sich eines der kleinen grauen Viecher geschnappt und hielt es hoch.
»Gnade, bitte! Es war doch alles nur Spaß«, wimmerte der Wicht.
»So! Und jetzt keine Spielchen mehr! Wo ist der Kopf, den ihr den Kobolden gestohlen habt?«, fragte Valik ernst.
»Er ist in der Kiste da drüben.« Der Irrwicht zeigte auf eine alte Holztruhe. »Nimm ihn, aber lass mich gehen.«
»Nicht so schnell!«, zischte der Wulveraner und ging mit dem Irrwicht in der Hand zu der Truhe. Vorsichtig hob er den Deckel an und spähte hinein. Darin lag der Schädel eines Kobolds. Ein modriger Geruch stieg in Valiks Nase. Er nahm den stinkenden Knochen heraus und ließ dann den Irrwicht laufen.
Kaum war der Trickser außer Reichweite, begann die ganze Umgebung zu verschwimmen. Valik befand sich jetzt wieder auf der Waldlichtung. Die beiden Kobolde, die im Gras warteten, freuten sich wie kleine Kinder, dass der Fremde wieder da war … mit der Reliquie! Valik brauchte noch einen Moment, um zu erkennen, dass er wirklich in der Realität angekommen war. Er fühlte sich, als hätten ihm irgendwelche Kräuter die Sinne vernebelt. Kaum zu glauben, dass das alles nur eine Illusion gewesen war. Die Irrwichte waren wahrliche Meister der Täuschung. Letztlich lächelte der Fuchs aber wieder und unterbrach die Freudentänze seiner Begleiter: »Ja, ich habe den Schädel. Jetzt lasst uns wieder zurückgehen.«
Als die drei das Lager erreichten, wurden sie bereits ungeduldig erwartet. Der Häuptling konnte endlich die geliebte Reliquie wieder in Empfang nehmen und verkündete zu Tränen gerührt: »Das ist ein wundervoller Tag! Du hast uns unseren größten Schatz zurückgebracht. Vom heutigen Tage an sollst du ein Freund unseres Volkes und stets willkommen sein. Wir werden dir zu Ehren ein großes Fest abhalten.«
»Das ist sehr freundlich, Eure Hoheit, und ich fühle mich geschmeichelt, aber ich muss nun meine Reise fortsetzen. Ich habe noch einen langen Weg vor mir.«
»So soll es sein. Aber niemand soll sagen, dass wir undankbar seien. Solltest du einmal unsere Hilfe brauchen, kannst du auf uns zählen.« Auf ein Zeichen hin bekam Valik seine Waffen zurück. Dann wandte sich der König noch einmal an ihn: »Wir werden dir Proviant für die Reise einpacken und meine Leute begleiten dich bis zur Grenze unseres Waldes.«
So sollte es auch geschehen. Valik wurde von einem guten Dutzend Kobolde durch den Felsholzwald geführt. Schließlich erreichte die Gruppe die Grenze zum gefürchteten Orkland.
»Weiter gehen wir nicht, aber wir wünschen dir alles Glück der Welt auf deiner Reise«, verabschiedete sich einer der Begleiter.
»Ich danke euch für euer sicheres Geleit. Macht euch um mich keine Sorgen, ich war schon immer ein Überlebenskünstler.«
So trennten sie sich wieder, aber Valik konnte nicht verbergen, dass ihm diese kleinen Wesen inzwischen beinahe ans Herz gewachsen waren. Die Kobolde wollten auch nur in Frieden leben, trotz ihres schlechten Rufes. Und das konnte der Wulveraner wohl besser verstehen als jeder andere …
Valik lief schon seit Tagen durch das karge Ödland, ohne auch nur einem Ork zu begegnen. Er wunderte sich, denn früher konnte man selbst an der Grenze kaum einen Tag unbehelligt reisen. Als Valik über die orkischen Clans nachdachte, stellte er einige Gemeinsamkeiten mit den Wulveranern fest. Auch diese lebten in kleineren Stämmen, und sie reisten viel, wenn auch nicht unbedingt ihren Beutetieren hinterher. Dazu waren die Orks jedoch gezwungen. Hier im Ödland überlebten eben nur die stärksten Völker, und das zeigte sich auch in der Kultur der Orks deutlich. Ihr Leben hier war hart und unbarmherzig, sodass praktisch jeder Ork schon im Kindesalter lernen musste, für sein Überleben zu kämpfen. Daher waren Gewalt und Brutalität ebenso fester Bestandteil der orkischen Kultur wie ihr Glaube. Jeder Ork war stets dazu bereit, in den Krieg zu ziehen, wenn seine Götter Interesse an bestimmten Landstrichen hegten, und er würde auch sein Leben bedingungslos opfern, wenn es für die »gute« Sache wäre. Darin unterschieden sich die Orks nicht von anderen Völkern Tulernias.
Nach Tagen des Marsches entdeckte Valik das erste Orklager. Es waren typischerweise Zelte aus Tierleder. Mit gezogenen Waffen schlich er sich hinter eines der größeren Zelte. Es war ungewöhnlich still. Das Lager schien verlassen zu sein. Etliche tote Orks lagen am Boden, was zunächst nicht weiter verwunderlich war. Es gab öfter Kriege unter den Stämmen, bei denen auch mal ein ganzer Clan ausgelöscht wurde. Doch als Valik näher heranschlich, sah er, dass die Leichen regelrecht in Stücke gerissen und teilweise ausgeweidet worden waren.
Doch das war noch nicht alles. Als Valik seine Wanderung fortsetzte, sah er vereinzelt wilde Tiere tot am Boden liegen. Was war hier nur geschehen?
Am siebten Tag fand Valik endlich eine Spur von Leben. In der Ferne entdeckte er einen Ork, der vor einem seiner gefallenen Brüder kniete. Zuerst dachte Valik, er würde ihm die letzte Ehre erweisen. Doch als der Ork sich umdrehte, fuhr Valik der Schrecken in die Glieder. Der Ork nagte an dem abgetrennten Arm seines Artgenossen und stieß gierig seine Zähne in das Fleisch. Nun war sich Valik nicht mehr sicher, ob er wirklich einen Ork vor sich hatte, denn so etwas hatte er noch nicht gesehen. Die Kreatur glich zwar einem Ork, aber ihre Haut wies an etlichen Stellen seltsame Auswüchse auf und ihre Gestalt schien völlig deformiert zu sein. Valik sah nun, dass dieses grauenerregende Ding stark aus sämtlichen Körperöffnungen blutete, selbst aus den Augen. Im nächsten Moment warf es den Arm weg und stürzte sich wie im Blutrausch auf den Wulveraner. Valik verzog jedoch keine Miene, sondern nahm sich in aller Ruhe einen Pfeil, legte an und schoss ab. Gleich der erste Schuss war ein Volltreffer, das Geschöpf rührte sich nicht mehr.
Vorsichtig untersuchte Valik dieses Monster genauer, wollte aber auch nicht zu nah herangehen. Es schien tatsächlich mal ein Ork gewesen zu sein. Was konnte ihn nur dermaßen verunstaltet haben? Schwarze Magie? Der Zorn der Götter?
Der Wulveraner wollte gerne glauben, dass dieser Unglückliche ein Einzelfall gewesen sei, aber er stieß noch öfter auf solche mutierten Wesen, während er tiefer in das Land eindrang. Er entdeckte auch weitere Lager, die alle das gleiche Bild der Zerstörung boten. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Am nächsten Tag hörte Valik plötzlich orkische Hilferufe. Er hatte damals im Krieg das eine oder andere Wort der Orks aufgeschnappt und wusste, dass hier jemand in Gefahr war. Valik schaute sich um, woher die Schreie kamen. Mit gezogenen Waffen ging er vorwärts, denn er musste damit rechnen, dass er angegriffen werden würde. Vor einem Schlammloch blieb er schließlich stehen.
Ein scheinbar gesunder Ork war bis zur Brust im Schlamm versunken und konnte sich nicht selbst befreien. Als er Valik sah, verstummte er zunächst, nicht wissend, was nun geschehen würde. Doch dieser Wulveraner war ihm nicht feindlich gesinnt, sondern holte ein Seil aus seiner Tasche und warf es dem Hilflosen zu. Erst zögerte der Ork, aber dann klammerte er sich mit aller Kraft daran, während ihn der Waldläufer langsam herauszog. Nun standen sich beide gegenüber.
Schließlich begann der Ork etwas zurückhaltend zu sprechen: »Brok danbrak ondi?«
Valik schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ich verstehe eure Sprache nur sehr schlecht, aber ich bin kein Feind.«
Der Ork verstand scheinbar und versuchte sich nun in der allgemeinen Sprache Tulernias: »Ich sprechen nur schlecht. Warum du mich retten?«
Valik lächelte und antwortete: »Warum sollte ich dir nicht helfen? Du hast nichts getan, weswegen ich dich hassen sollte. Außerdem ist das kein Tod für einen Ork … Kannst du mir vielleicht verraten, warum ihr Elysium überfallen habt?«
Der Ork blickte Valik ungläubig an: »Ein Raubzug? Von uns? Wohl kaum! Wir haben eigene Probleme genug. Mein Stamm schon seit langer Zeit keinen Überfall gemacht … und andere Stämme auch keine Zeit dafür gehabt …«
»Bist du dir da so sicher? Es gibt einen Zeugen, der von orkischen Kriegern gesprochen hat. Der Überfall ist etwa drei Monate her.«
»Vor drei Monden auf keinen Fall. Da war Orkland bereits fast leer. Viele geflohen oder tot … oder Schlimmeres.«
»Was meinst du damit? Was stimmt nicht bei euch?«, hakte der Wulveraner nach.
»Da sein schlimme Seuche. Sie vor etwa fünf Monden gekommen. Alle Orkstämme fast vernichtet …«
Valik erinnerte sich an die mutierten Kreaturen, denen er bereits begegnet war. Waren sie an dieser Seuche erkrankt, von der der Ork sprach? Die ganze Angelegenheit wurde immer seltsamer.
»Weißt du, woher diese Seuche kam?«
Der Ork blickte ziemlich beschämt, holte tief Luft und erzählte: »Das Schuld von mein Freund Garzlok. Garzlok, ich und andere waren unterwegs zu plündern. Da wir finden alten Turm, wo Zauberer lebte vor langer Zeit. Garzlok meinte, dort viele Schätze sein. Also wir rein … aber kein Schatz. Wir uns aufteilen. Garzlok ganz oben, ich nur ein paar Stufen hoch. Dann, plötzlich, Knall … und alle Türen an Treppen waren zu. Wir gefangen! Ich dachte, vielleicht Zauberer noch leben und nun böse. Ich durchs Fenster raus … Ich es geschafft, aber viele andere nicht. Dann Garzlok auch runterspringen, aber er krank! Griff uns an, tötete viele … und wer verletzt wurde, krank. Inzwischen Seuche im ganzen Land.«
»Du sagst, diese Krankheit kam ursprünglich aus dem Turm? Weißt du, was Garzlok da oben gemacht hat?«
»Nein, aber ich ihn nie so gesehen. Er war wie Monster, dumm und tödlich …«
»Hör zu, ich muss zu diesem Turm gelangen. Kannst du mich dort hinführen?«
Der Ork schüttelte vehement den Kopf.
Also musste Valik deutlicher werden: »Schließlich habe ich dein Leben gerettet. Du hast nun eine Schuld zu begleichen.« Seine Kenntnisse über den orkischen Ehrenkodex kamen dem Abenteurer zugute.
Obwohl der Ork immer noch zögerte, meinte er schließlich: »Gut, ich dich bringen zu Turm. Aber dann du allein sein. Komm … wenn wir gehen gleich, wir in zwei Tagen da sein.«
Während der Wulveraner seinem Führer durch die Ödnis folgte, kamen ihm langsam ernste Bedenken. Was steckte hinter den Geschehnissen im Turm, die selbst die furchtlosen Orks erschaudern ließen? Was könnte diese Seuche wohl ausgelöst haben? Eine gewöhnliche Krankheit war es definitiv nicht. Zu sich selbst sprach Valik leise: »Der Überlebende des Überfalls hat Orks gesehen. Aber was, wenn die Orks tatsächlich unschuldig sind? Es gibt viele Möglichkeiten, das Äußere zu verändern. Magie, Tränke oder gar die … Nein, das sind nur Spekulationen. Ich muss mich auf die tatsächlichen Spuren konzentrieren.«
*
Auch andernorts sollten Ereignisse ins Rollen gebracht werden, deren Ausmaße nicht im Traum erahnt werden konnten. Auf der Erde war heute Freitag und für Emily der letzte Schultag vor den Sommerferien. Emily war zwölf Jahre jung und ein sehr lebhaftes Kind mit kurzem rotem Haar und grünen Augen. Sie hatte den ganzen Nachmittag auf dem Spielplatz verbracht. Wie sonst auch, lief sie eine Abkürzung durch einige Seitengassen nach Hause.
Während sie nichts ahnend den Weg entlangschlenderte, überkam sie plötzlich ein sonderbares Gefühl. Sie blieb benommen stehen und starrte ungläubig auf das Schauspiel, das sich ihr bot. Es schien so, als würde die Gasse regelrecht verschwimmen, kreisrunde Wellen stiegen in die Luft und verzerrten die gesamte Ebene. Dann öffnete sich ein kleiner Spalt in der Luft, der rasch größer wurde und schließlich einen Korridor bildete. Die Wirklichkeit schien wie von einem Vorhang zur Seite geschoben und Emily blickte in ein sonderbares, unwirkliches Tal. Obwohl alles wie in Schatten gehüllt schien, konnte man so klar sehen wie in einer sternenklaren Vollmondnacht. Nicht dass es hier viel zu entdecken gegeben hätte. Es handelte sich um eine karge Steppe. Vereinzelt gab es halb vertrocknete Pflanzen, die Emily jedoch noch nie gesehen hatte. Dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann. Der Fremde rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her, direkt auf das Kind zu, ohne es scheinbar wahrzunehmen. Emily wollte gerade ausweichen, als der Mann unmittelbar vor ihr zusammenbrach, genau an der Grenze zwischen der Gasse und dieser »Landschaft«. Ohne groß darüber nachzudenken, ging Emily auf ihn zu und beugte sich über den Unbekannten. Erst jetzt erkannte sie, dass er schwer verwundet war.
Erschrocken stammelte sie: »Warten Sie … ich hole Hilfe …«
Doch der Fremde griff nach ihrer Hand, zog sie zu sich und legte etwas hinein. »Nein, für mich kommt jede Hilfe zu spät. Nimm du ihn und …« Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er kurz inne, bevor er mit letzter Kraft keuchte: »Sie darf ihn niemals bekommen!«
Wie gelähmt saß Emily da und hielt die Hand des toten Fremden. Sie rührte sich selbst dann nicht, als der Mann und die unwirkliche Landschaft sich vor ihren Augen in Luft auflösten.
Jetzt war Emily wieder allein in der bekannten Gasse. Blinzelnd versuchte sie, das eben Erlebte zu verstehen. Dort, wo eben noch der Fremde gelegen hatte, lag nun ein kleiner Ring aus Holz, der mit schönen Verzierungen versehen war. Langsam öffnete das Mädchen ihre Hand und wunderte sich über das, was sie darin sah: ein kleiner schwarzer Kristall, der von silbernen Adern durchzogen war. »Was ist das für ein Ding?«, fragte sie sich. Was es auch immer mit diesem Stein auf sich hatte, war er wirklich ein Leben wert? Und wer sollte ihn nicht bekommen?
Schließlich stand Emily auf und steckte sowohl den Ring als auch den Kristall ein. Auf dem Heimweg dachte sie noch lange über das soeben Erlebte nach. Sie überlegte kurz, ob sie ihrer Mutter davon erzählen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Sie würde das sowieso nicht glauben.
Auch abends im Bett war Emily ganz in Gedanken versunken und betrachtete den schwarzen Stein auf ihrem Nachttisch. Ihr kamen langsam Zweifel, ob es klug gewesen war, den Kristall und den Ring mitzunehmen. Irgendjemand hatte diesen Mann gejagt, scheinbar nur wegen dieses schwarzen Gesteins. Aber warum? Irgendwann übermannte Emily die Müdigkeit und sie schlief ein.
Im Traum kamen ihr wieder Bilder des heute Erlebten in den Sinn. Seltsamerweise erkannte sie nun aber mehr Details. Die ganze Szene wirkte jetzt noch unfassbarer. Das Tal war zwar in Dunkelheit gehüllt, aber der Himmel schillerte wie ein kunterbuntes Mosaik. Auch der Mann wirkte befremdlich. Seine Kleidung ähnelte einer Mischung aus Blättern und Baumrinde und er hatte spitze Ohren. Hatte er wirklich solche Ohren gehabt oder war das ein Produkt ihrer Fantasie? Aus irgendeinem Grund fühlte Emily sich plötzlich sehr unsicher, fast schon ängstlich, und im nächsten Moment schlug sie die Augen auf.
Noch halb verschlafen sah sie sich um und erschrak. Direkt vor ihrem Bett stand eine merkwürdige Kreatur. Sie war annähernd menschlich gebaut, glich aber mehr einem Tier – oder besser: mehreren auf einmal. Das Gesicht ähnelte einem Igel, die Zähne eher einem Piranha. Statt Haare auf dem Kopf hatte sie lange, grauweiß gestreifte Stacheln, die nach hinten gerichtet waren. Die Augen hatten eine grünliche Färbung und vertikale Pupillen. Statt Beine hatte sie haarige Hufe, wie eine Ziege. Erst beim genaueren Hinsehen erkannte Emily, dass diese Erscheinung durchsichtig war, fast wie ein Geist. Außerdem schien sich die Kreatur zu fürchten. Sie stand leicht gebückt und ihre Klauen hielt sie eng an den Körper gedrückt.
Aber dann sprach das Wesen keineswegs ängstlich: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Emily. Ich werde dir nichts tun.«
»Wer bist du und woher kennst du meinen Namen?« Das Mädchen war jetzt hellwach.
»Du kannst mich Skuz nennen und ich weiß eine ganze Menge … Ich bin hier, weil du mich brauchst.«
»Warum sollte ich dich brauchen? Ich kenne dich doch nicht einmal.« Etwas verwundert war Emily schon … Sie träumte zwar oft von allerlei fantastischen Kreaturen, aber eine solche wie dieser Skuz war bis jetzt nicht darunter gewesen. Mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis wartete sie auf die Antwort.
Skuz lächelte. »Du hast heute etwas erlebt, was du dir nicht erklären kannst, und du hast etwas an dich genommen, was jemand anderem gehörte …«
Erschrocken blickte Emily zu dem Kristall auf ihrem Nachttisch: »Oh nein! Du bist wegen des Steins gekommen, habe ich recht? Nimm ihn doch einfach. Ich will keinen Ärger haben.«
»Nein, der Stein gehört jetzt dir. Niemand kann ihn dir nehmen, solange du lebst.« Skuz machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Dieser kleine Kristall birgt eine unglaubliche Macht in sich. Viele begehren ihn, auch wenn nur die wenigsten wissen, dass er tatsächlich existiert. Man nennt ihn den Traumstein.«
»Was für eine Macht?«, fragte Emily.
»Eine Macht jenseits aller Vorstellungskraft. Aber du wirst sie noch nicht in vollem Umfang nutzen können. Der Kristall muss sich erst an dich gewöhnen.«
»Er muss sich an MICH gewöhnen?«, fragte Emily verwirrt.
»Ja, er wird seine Kräfte erst nach und nach entfalten … aber das ist jetzt nebensächlich. Viel wichtiger ist, dass du mit diesem Stein auch eine wichtige Aufgabe übernommen hast. Es wird nun dein Schicksal sein, sie zu erfüllen.«
»Stopp! Warte mal einen Moment. Was soll das heißen? Was denn für eine Aufgabe? Und ich habe ihn doch gar nicht genommen, er wurde mir gegeben«, widersprach Emily.
»Es ist gleichgültig, wie du in seinen Besitz gelangt bist. Er ist zu dir gekommen und nichts kann euch voneinander trennen. Nun hast du eine Mission zu erfüllen, und dein Leben wird nicht mehr so sein, wie es war.«
»Das hört sich so an, als müsste ich hier weg. Das geht nicht. Was soll ich denn meiner Mama erzählen? Du musst dir einen anderen suchen«, protestierte das Kind.
Skuz begann allmählich zu verblassen, rief ihr aber noch zu: »Du kannst deinem Schicksal nicht entgehen! Das wirst du schon sehr bald merken …«
Dann war Emily wieder allein. Erschöpft schlief sie ein.
Am nächsten Morgen deutete nichts darauf hin, dass gestern etwas Außergewöhnliches geschehen war. Wenn nur nicht dieser schwarze Kristall neben Emilys Bett und jener Holzring in der Schublade gelegen hätte … Halb im Schlaf zog sich das Mädchen an und schlurfte in die Küche, wo ihre Mutter bereits mit dem Frühstück wartete.
Da Emily ein Morgenmuffel war, fiel es ihrer Mutter nicht auf, dass sie heute nachdenklicher als sonst war. Ihre Gedanken kreisten um die vergangene Nacht. War dieser Skuz wirklich bei ihr gewesen, oder hatte sie das nur geträumt?
»Hast du heute schon etwas vor?«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie in die Wirklichkeit zurückholte.
»Ja, ich werde in die Galerie gehen. Da ist eine Ausstellung mit Bildern, die Kinder gemalt haben«, antwortete Emily.
»Hast du denn noch genug Geld?«, fragte ihre Mutter fürsorglich.
»Ja, klar …«
»Na, dann wünsche ich dir viel Spaß dabei.«
Emily lebte zusammen mit ihrer Mutter in einer kleinen Mietwohnung mitten in der Stadt. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Alles, was Emily wusste, war, dass ihre Eltern sich noch vor ihrer Geburt getrennt hatten.
Emily kam gegen Mittag in der Galerie an. Sie lief durch die Hallen und staunte, was andere Kinder in ihrem Alter, oder sogar noch jüngere, alles malen konnten. Ein Bild weckte ihre besondere Aufmerksamkeit. Es zeigte einen fantastischen Strand, Vögel wiegten sich über dem Meer und die Wolken am blauen Himmel schienen silbrig zu schimmern. Das Mädchen fing an zu träumen, wie es wohl wäre, jetzt dort zu sein … Plötzlich weckte sie eine Bewegung aus ihrem Tagtraum. Verrückt! Sie hätte schwören können, dass eben einer dieser Vögel hinter den Bilderrahmen geflogen war … Dann hörte sie leises Rauschen … und im nächsten Augenblick erwachte das Bild vor ihren Augen zum Leben! Die Gezeiten ließen das Meer tanzen und Emily konnte sogar eine salzige Meeresbrise in ihrem Gesicht spüren. Selbst die Bäume wiegten sich leicht im Wind. Emily erschrak so sehr, dass sie rückwärts auf eine Besucherbank stolperte. Doch jetzt war das Bild wieder erstarrt und bewegte sich nicht mehr. Nur die verschobenen Wolken verrieten das kurze Eigenleben des Bildes.
Während Emily noch immer rätselte, griff sie fast instinktiv in ihre Hosentasche. Zu ihrem Erstaunen befand sich dort der schwarze Kristall. Den hatte sie doch auf ihrem Nachttisch liegen lassen! »Das gibt es doch gar nicht!«, entfuhr es dem überraschten Mädchen laut. Da die übrigen Besucher bereits herübersahen, floh sie auf die Besuchertoilette.
Dort angekommen, starrte sie den Stein in ihrer Hand misstrauisch an. Wie war der in ihre Hose gekommen? Hatte er vielleicht etwas mit dem Bild zu tun? Sie erinnerte sich an die Worte ihres nächtlichen Besuchers, dass dieser Kristall Macht besitze, die langsam erwachen würde. Dass sie und der Kristall nun untrennbar miteinander verbunden seien … Auch sein Gerede von einer wichtigen Aufgabe kam ihr in den Sinn.
»Das reicht jetzt!« Mit diesen Worten warf sie den Stein in den Mülleimer und verließ die Galerie.
Doch bereits als sie sich in den Bus setzte, fühlte sie etwas Hartes in ihrer Hosentasche. Ängstlich griff sie hinein – und erneut hielt sie den Traumstein in der Hand. Nur mit Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken. Gleich an der nächsten Station stieg sie aus und lief zu einer Brücke, unter der ein Fluss gemächlich dahinfloss. Mit Schwung schleuderte sie den schwarzen Stein hinab ins Wasser. Es platschte und sie sah sogar noch, wie der Kristall im Wasser trieb. Erleichtert machte sie sich auf den Heimweg.
Zu Hause angekommen, zog sie sich die Jacke aus, und plötzlich purzelte der Kristall auf den Boden.