Meine Mutter glaubt, dass es zwei Sorten von Menschen gibt: die, die gerne im Mittelpunkt stehen, und die, die so schüchtern sind, dass sie lieber gar nicht beachtet werden wollen. Sie glaubt, ich gehöre zur zweiten Sorte, findet aber, ich sollte zur ersten gehören.
Was sie nie verstehen wird: Es gibt auch Menschen, die für manches gerne im Mittelpunkt stehen und für anderes nicht. Wie zum Beispiel, beachtet zu werden, weil man hervorragend Klavier spielt, aber nicht, weil man allergisch auf Erdnüsse ist. Oder weil man neue Schuhe trägt, aber nicht, weil man einen Akzent hat. Oder weil man als einzige Schülerin auf der Kennedy Highschool die bestmögliche Note im Leistungskurs Humangeografie erhalten hat, aber nicht, weil man die einzige Schülerin auf der Kennedy Highschool ist, die einen Busen hat, der größer als ihr Kopf ist.
»Na, komm schon, Greer. Vielleicht freundet ihr euch ja an.«
Meine Antwort ist ein genervtes Blinzeln.
»Es ist schön, wenn man jemandem dabei hilft, sich einzuleben. Eine Möglichkeit, etwas zurückzugeben.«
Ich blinzele noch schneller, weil sie so tut, als würde ich das freiwillig machen.
»Eine halbe Stunde. Vierzig Minuten. Höchstens.«
Moms halbe Stunden dauern nie höchstens vierzig Minuten. Moms halbe Stunden können Stunden dauern. Besonders wenn sie ein Publikum hat.
Wir sind wegen eines ihrer Kunden hier. Mom arbeitet für die Firma Relocation Specialists und berät Menschen beim Wohnortswechsel. Große Unternehmen engagieren sie dafür, dass sie zugezogenen Mitarbeitern hilft, sich in der neuen Gegend einzuleben. Sie führt sie durch die Nachbarschaft, organisiert Schulbesuche und empfiehlt Kinderärzte, Handwerker oder Waxing Studios.
Sie liebt ihren Job. Er befriedigt ihren ständigen Drang, sich zu allem zu äußern, und rechtfertigt den exzessiven Luxus-SUV mit Babyrobben-Fell-Leder-Ausstattung, den sie geleast hat.
Manchmal, so wie jetzt, hat sie einen Kunden mit einem Kind in meinem Alter. Dann schleift sie mich zu dem Termin mit, als wäre ich ihre Junior-Partnerin. Alle Fragen zum Leben als Teenager in einer Vorstadt in Illinois soll ich ihnen dann beantworten. Sie haben aber nie Fragen.
Es ist immer dasselbe. Es ist sogar immer dasselbe Starbucks. Ich sitze neben Mom und versuche besonders freundlich auszusehen. Die oder der Neue starrt unterm Tisch auf ihr oder sein Handy. So weiß ich, dass sie – egal, wo sie auch herkommen – Freunde haben, die cooler sind als ich. Ist der Kunde eine Mutter, stellt sie mir die Art von Fragen, von denen sie meint, dass ihr schmollendes Kind sie stellen sollte. Wenn es nicht gerade schmollen würde. Sobald ich anfange zu antworten, unterbricht mich meine Mutter, um so zu antworten, wie ich ihrer Meinung nach antworten sollte. Für alle ist das total unangenehm, nur für Mom nicht. Kathryn Walsh ist nie etwas unangenehm.
Ob man es glaubt oder nicht: Meistens nutzt es mir rein gar nichts, ein sanftmütiger, leistungsstarker und überhaupt sehr umgänglicher Teenager zu sein. Besonders nicht bei meiner Mutter. Wenn ich mehr mit ihr streiten würde, so wie Maggie mit ihrer Mutter, oder wenn ich mich peinlich aufführen würde, so wie Tyler, dann würde sie mich nicht zu solchen Sachen zwingen. Dann wäre das zu anstrengend. Aber Kathryn Walsh strengt mich mehr an, als ich sie anstrenge, und hier bin ich also. Sie ist einfach so. Ich bin einfach nicht so.
Deswegen gehe ich mit ihr mit, um den desinteressierten Nachwuchs von Menschen zu treffen, die grausam/wichtig genug sind, mit ihrer Familie während der Schulzeit umzuziehen.
Deswegen helfe ich meinem Bruder Tyler bei den Mathehausaufgaben, obwohl er die Antworten online finden könnte.
Deswegen bin ich jedes Jahr brav beim Wiedersehenstreffen mit Leuten aus Moms Geburtsvorbereitungskurs dabei, das immer im Mai in genau diesem Etablissement stattfindet.
Diese Filiale von Starbucks befindet sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes. Ich folge Mom nach drinnen.
Der Nachwuchs, den ich kennenlernen soll, ist genau wie ich in der zehnten Klasse an der Kennedy. Das ist ja schon mal was. Meine einzige Gemeinsamkeit mit den anderen Kindern bei den Treffen von Natürliche Entbindung und sanfte Geburt ist die Hebamme. Jackson Oates, wer immer er ist, wird das hier bestimmt genauso peinlich finden wie ich. Dann haben wir das auch schon mal gemeinsam.
Nachdem Mom Mrs Oates zur Begrüßung umarmt hat, stellen sie mir Jackson vor. Wie ein schmollender Schwachkopf sieht er jedenfalls nicht aus. Er macht eigentlich sogar einen nicht schmollenden, nicht schwachköpfigen Eindruck. Hellbraune Haare, dunkelbraune Augen und ein breites Lächeln, als wir uns begrüßen. Er streckt die Hand aus, um meine zu schütteln, als wäre die Familie aus den Fünfzigerjahren hierhergezogen. Ich habe jedoch gelernt, höflich zu sein, also drücke ich ihm fest die Hand. Das scheint ihm zu gefallen.
»Oh, wie gut! Deine Eltern haben dir wohl auch beigebracht, wie wichtig es ist, sich ordentlich die Hand zu geben.« Das sagt er in väterlichem Ton, mit einem kurzen Blick auf seine Mutter, die die Augen verdreht. »Ich habe dabei immer das Gefühl, einen deutschen Geschäftsabschluss zu tätigen«, ergänzt er mit normaler Stimme. Seine Hand ist warm. Nicht schwitzig. Nur warm, wie sich das für einen lebendigen Menschen gehört. Und ich habe den starken Verdacht, dass es bei denen, die immer unterm Tisch mit ihrem Handy spielen, nicht so ist.
»Wir treffen häufig neue Menschen«, sagt seine Mutter zur Entschuldigung.
»Ich werde zwanzig Apfelkuchen und einen BMW kaufen«, sagt er halb auf Deutsch, halb auf Englisch, und wider besseres Wissen bin ich bezaubert.
Das ist gar nicht so peinlich, wie ich dachte.
Das ist auf ganz andere Art peinlich.
Mom klärt schnell, was alle haben wollen, bestellt für uns (sie ist einfach so, einfach so) und zahlt. Da sie mich im Prinzip als ihre Assistentin betrachtet, sagt sie zu den anderen: »Wir suchen uns einen Tisch. Greer wartet auf die Getränke.« Mom und Mrs Oates steuern Moms Lieblings-Vierertisch an, direkt neben dem Ausgang. Jackson bleibt jedoch an meiner Seite und sieht dem Barista dabei zu, wie er die Milch schäumt.
Eigentlich ist das der Teil, wo der unbekannte Trottel sich neben seine Mutter setzt und so tut, als hätte ich persönlich dafür gesorgt, dass er hier sein muss. Doch Jackson steht neben mir, wartet auf die Getränke, als gehörten wir zusammen. Ich sehe wohl verwirrt aus. Er sagt: »Du hast nur zwei Hände?« Wie eine Idiotin schaue ich auf meine Hände, als müsste ich die Anzahl überprüfen.
»Ach so, ja, natürlich.«
»Hey, danke, dass du mitgekommen bist. Du würdest bestimmt lieber was anderes machen.«
Das dachte ich zuerst auch, aber das hier ist plötzlich doch interessanter, als mir die Fußnägel zu schneiden. »Kein Problem«, stottere ich. Eine Minute lang stehen wir schweigend nebeneinander und ich frage mich, ob ich in dieser Konstellation jetzt der gesprächsunfähige Trottel bin. Ich ergänze: »Dir ist schon klar, dass das hier der absolute Geheimtipp ist. Hier gehen die Einheimischen am liebsten hin, wenn sie untertauchen wollen.«
Er grinst ein wenig. »Starbucks?«
»Oh, dann hast du davon gehört?«
»Kathryn? Dein Kaffee ist fertig.«
Wir nehmen die Getränke von der Theke mit. Ich stelle den Caffè Latte für Mrs Oates und Moms Oh-das-klingt-irgendwie-französisch-das-nehme-ich auf dem Tisch ab. Dort haben sie schon den Informations-Ordner von Relocation Specialists ausgebreitet. Mom sammelt darin all ihre Profi-Tipps zu »dieser ganz besonders familienfreundlichen Gemeinschaft, nur fünfundvierzig Minuten von der Stadtmitte Chicagos entfernt«. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch diese Starbucks-Filiale im Ordner aufgeführt ist (der sich wiederum oft in diesem Starbucks befindet, das damit so etwas wie ein umgesiedeltes Wurmloch ist).
Jackson geht mit meinem Kakao und seinem Chai einfach weiter. »Die beiden Sessel sind frei. Passt dir das?«, sagt er über die Schulter.
Äh, ja?
Ich lasse Mom, Mrs Oates und den Ordner am Tisch zurück. Jackson und ich plumpsen in die Ledersessel voller Kaffeeflecken, die neben einem unangezündeten Kamin stehen. Jackson sieht aus wie jemand, der jeden Tag fremde Mädchen bei Starbucks trifft. Ich versuche auch so auszusehen.
Und er hat Fragen – gute Fragen. Statt mit »Was gibt es für Leistungskurse?« anzufangen (denn das steht auf der Website) oder mit »Kann man auch Punkte sammeln, wenn man Memes macht?« (er gehört ja schließlich nicht zu den Freunden meines Bruders aus der siebten Klasse), fragt er ganz direkt: »Ist das die Sorte Schule, wo ständiges Kommen und Gehen herrscht oder wo es seit der zweiten Klasse keinen neuen Schüler mehr gab?«
»Ich weiß nicht genau, wie viele es jedes Jahr sind«, sage ich. Er beugt sich über die Armlehne zu mir herüber, als wäre ich die Hüterin wichtiger navigatorischer Hinweise. Was ich ja irgendwie auch bin. Ich versuche mich zu erinnern, wie viele neue Schüler letztes Jahr in meinen Kursen waren, frage mich, inwieweit ich sie als repräsentativ betrachten kann, leite eine Gesamtmenge daraus ab und dann wird mir klar, dass er keine Statistiken will. Seine Frage ist ganz anderer Art. Es ist eine richtige Frage. Er möchte wissen, was auf ihn zukommt, und er will das von mir wissen. Es ist Oktober, wir sind mitten im ersten Halbjahr – nicht gerade die beste Zeit, um in einer neuen Schule anzufangen. Alle haben schon längst festgelegt, wo sie sitzen und mit wem sie sich abgeben wollen.
»Oh. Du willst wissen, ob du untergehen oder auf Anhieb berühmt sein wirst.« Er nickt. »Ich weiß es nicht. Ich war noch nie die Neue …«
»Noch nie?!«
»Nein. Als wir umgezogen sind, konnten wir auf derselben Schule bleiben.«
»Erstaunlich.«
Ich halte eine Sekunde lang inne, bleibe an dem »erstaunlich« hängen. Er sagt nicht, dass ich erstaunlich bin. Immobilität ist erstaunlich. So wie bizarre Mutationen in der Natur erstaunlich sind. Aber aus irgendeinem Grund fühlt sich dieses »Erstaunlich« aus seinem Mund nett an. Ich schüttele es ab.
»Ja«, sage ich. »Die Tatsache, dass ich nie die Grenzen meiner Postleitzahl verlassen habe, gehört zu meinen größten Errungenschaften. Es sind nicht so viele neue Schüler, aber da es drei Mittelschulen gibt und nur eine Highschool, kenne ich ganz viele Leute auch nicht.« Er nickt, als hätte er auf diese Antwort gehofft. »Ich glaube nicht, dass man als neuer Schüler besonders auffällt. Außer man will auffallen.«
»Was ist mit der Mittagspause? Wenn ich mich nicht an jemanden dranhänge, finde ich dann überhaupt einen Platz?«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jackson an seinem ersten Schultag nicht mindestens vierzig neue Freunde findet. Schließlich ist er charmant und super nett, aber ganz offensichtlich war er schon oft der Neue und ich nicht, insofern täusche ich mich vielleicht. »Das Beste ist bestimmt, sich nach der vierten Stunde an jemanden dranzuhängen, außer sie sind alle furchtbar. Für alle Fälle kannst du aber Folgendes machen: Vor dem großen Fenster in der Schulmensa ist eine lange Theke, von der aus man auf den Sportplatz gucken kann. Wenn man noch Hausaufgaben machen muss oder sein Handy aufladen will, setzt man sich da hin. Wenn man dort sitzt, sieht man nicht wie ein Loser aus. Alle werden nur denken, dass man Gedichte voller Wehmut schreibt oder so.« Was ich eigentlich hätte sagen sollen, ist: »Sei kein Idiot, du sitzt einfach neben mir!«, aber immerhin kann ich mir zugutehalten, dass ich ihn auf die Theke hingewiesen habe.
»Das klingt gut. Ich wollte als Nächstes fragen, wo ich Gedichte voller Wehmut schreiben kann.«
»Oh Mann. Tut mir ja leid, aber letztes Jahr haben sie die Gedichte-voller-Wehmut-AG gestrichen. Etatkürzungen.«
»Dann können wir ja gleich wieder zurück nach Cleveland ziehen.«
Ich weiß, dass er es nicht ernst meint. Aber dadurch wird mir noch einmal klar, dass das alles neu für ihn ist – gut, Starbucks natürlich nicht und nach Auskunft meiner Mutter auch Umziehen an sich nicht. Aber die Kennedy Highschool ist neu und sein Haus ist neu und alle Leute sind neu für ihn. Ich bin neu für ihn.
»Wie ist Cleveland denn so?«
»Wie überall sonst, denke ich.« Er zuckt mit den Schultern. »Wir haben nur ein paar Jahre da gewohnt.« Irgendetwas an ihm hat sich verändert, ein winziges bisschen. Er ist immer noch nett. Immer noch charmant. Aber auch ein winziges bisschen … traurig vielleicht. »Meine kleine Schwester wollte nicht umziehen. Wirklich überhaupt nicht umziehen.«
»Mochte sie Cleveland so sehr?«
»Nicht besonders. Aber sie hasst Umziehen.«
»Und du?«
»Ich bin daran gewöhnt«, sagt er mit einem Achselzucken. »Und Starbucks gibt es ja überall.«
»Was? NEIN! Aber das hier ist wenigstens das echte, stimmt’s?« Und schon sind wir wieder da, wo wir angefangen haben. Für einen kurzen Moment konnte ich einen kleinen Riss in seiner Selbstsicherheit aufblitzen sehen. Glaube ich jedenfalls. Das macht mich neugierig. Noch neugieriger. Ich wünschte, wir wären woanders. Ich wünschte, ich könnte ihm etwas zeigen, was er nicht schon tausendmal gesehen hat.
Wir holen unsere Stundenpläne raus, um sie zu vergleichen. Zum größten Teil belegen wir die gleichen Kurse, aber zu anderen Zeiten. Außerdem hat er Deutsch und ich Spanisch als Fremdsprache und er ist im Schnelllernerkurs Mathe 1 und ich in Mathe 2. Ich starre in meinen Becher, damit er nicht sieht, wie enttäuscht ich bin.
»Du bist wohl ziemlich gut in Mathe«, sagt er.
Ich trinke und pruste gleichzeitig. Nicht, weil ich eine Mathe-Göttin bin oder so. So gut, dass ich zu diesen Schülern gehöre, die schon Mathekurse an der Uni nehmen müssen, weil sie in der Schule unterfordert sind, bin ich nicht. Letztes Jahr hat Mom einem Kunden meine Dienste als Mathe-Nachhilfelehrerin angeboten. Sie hatten ein Kind in der Mittelschule, das Mathe liebte, aber einen kleinen »Schubs« brauchte. Sie würde mich nur zu gerne im Ordner unter akademischen Ressourcen aufführen – oder wenigstens als Babysitter oder so was, damit ich mal aus dem Haus komme. Es stellte sich heraus, dass das Nachhilfekind so eine Art Genie war und zweimal die Woche nach Chicago an die Uni fuhr, um Ergodentheorie zu studieren. Ich weiß noch nicht einmal, was das ist. Ich stehe nur an der Spitze der ganz normal schlauen Schüler.
Gut in Mathe zu sein – in jedem Fach, eigentlich –, macht so ziemlich meine gesamte Identität aus. Es ist komisch, sich mit jemandem zu unterhalten, der das nicht weiß.
In der Schule wissen die anderen über mich, dass ich gute Noten bekomme; dass ich Maggie Cleavers stillere, umgänglichere Freundin bin und dass ich Klamotten trage, die sogar für einen ausgewachsenen Bären dreimal zu groß wären. Das war’s. Ich mache keinen Sport, keinen Ärger, spiele nicht Theater. Ich bin nicht die Sorte Mädchen, mit dem man ausgehen will. Ich bin nur das kluge Mädchen. Das kluge Mädchen, das immer die Arme vor der Brust verschränkt.
Aber Jackson weiß das nicht. Er weiß nur, dass meine Mom versucht hat, meinen Kakao mit fettarmer Milch zu bestellen. Aus Jacksons Sicht könnte ich alles sein. Das kluge Mädchen plus. Für den neuen Schüler bin auch ich neu. Irgendwie macht es Spaß, sich vorzustellen, mal ganz anders sein zu können, auch wenn er mich sofort durchschauen wird, sobald er in der Schule ist.
»Wir haben also nicht einen einzigen Kurs gemeinsam? Komisch, denn ich bin davon ausgegangen, dass du mich am Montag als zertifizierte Relocation-Spezialistin zu Anfang jeder Stunde vorstellen wirst. Nicht gut …«, ergänzt er mit seiner deutschen Geschäftsmann-Stimme.
Er sitzt in diesem klumpigen, abgewetzten Sessel, in dem vor ihm Tausende andere Menschen gesessen haben, der aber aussieht, als wäre er nur für ihn gemacht; als hätten alle, die es sich in dem Sessel bequem gemacht haben, hier nur geschlafen, sich gestreckt und gelümmelt, damit er sich Jackson anpasst. Ein Knie liegt halb auf der Lehne, sein Kopf ist in die Hände gestützt – er sieht aus, als wäre jede Faser seines Körpers vollkommen entspannt. Als würde er dort hingehören. Als würde er überall hingehören, egal, wo er auch hingeht.
Er ist klug und lustig und scheint sich einfach wohl in seiner Haut zu fühlen, was ich für mich nicht behaupten kann. Ich habe mich geirrt, als ich dachte, unsere einzige Gemeinsamkeit wäre, dass er das hier genauso peinlich finden wird wie ich. Damit war ich wohl allein.
Und aus irgendeinem Grund führt das dazu, dass ich mich öffne. Bis eben saß ich mit angezogenen Knien auf meinem Sessel, beide Hände um meinen Becher gelegt. Nun lasse ich ein Bein los und dann das andere und lege sie über die Armlehne. Ich lehne mich zurück, nur ein bisschen, und richte mein Sweatshirt, damit es immer noch weit über meinen Körper schlackert. Ich höre mich sagen: »Du machst das schon. Aber dein Deutschkurs ist im selben Flur wie mein Mathekurs, erste Stunde, falls du also Panik bekommst, ruf nach mir. ›Greer! Ich weiß nicht, wo ich bin!‹« Auf seinem Gesicht breitet sich ein großes, echtes Lächeln aus. »Greer! Helpen me por favor!« Ich spreche so laut, dass Mom neugierig rüberschaut. Nicht genervt, neugierig. Jetzt lacht Jackson laut auf. »Du musst es aber auf Englisch sagen«, ergänze ich. »Mein deutscher Wortschatz besteht aus Gesundheit.«
***
Als es Zeit ist zu gehen, sagt Mom: »Oh, Jackson! Schreib dir doch Greers Nummer auf. Vielleicht hast du ja noch weitere Fragen, was die Schule angeht.« Ich hasse und liebe sie dafür.
Mom rattert meine Telefonnummer runter und ich frage mich, ob Jackson nur so tut, als ob er sie eintippt.
Aber noch bevor sie zum Ende kommt, reicht er mir sein Handy. »Tipp du sie lieber ein.« Er hat mich schon als neuen Kontakt hinzugefügt: Greer Walsh. Und er hat Greer richtig geschrieben. Das hat auf Anhieb noch nie jemand geschafft.
Ich gebe die Nummer zweimal neu ein, nur um sicherzugehen, dass ich mich nicht vertippt habe. Aber ich schätze mal, dass er sie sowieso nur benutzen wird, wenn er aus Versehen mit dem Hintern auf seinem Handy landet. Ich gebe ihm das Smartphone zurück, er drückt auf ein paar Tasten und dann ertönt ein wunderbares Ping! aus meiner Tasche. »Jetzt hast du meine auch.« Er lächelt und mein ganzer Körper läuft rot an. Ich bin froh, dass er nur mein Gesicht sehen kann.
Auf dem Weg nach draußen sagt Mom: »Deine Tochter hätte auch mitkommen sollen.«
Die Stimmung ändert sich schlagartig. Jackson und seine Mutter schauen einander an, als hätte Mom gerade gesagt, es gäbe Leber-Sardellen-Brötchen als Willkommensgeschenk.
»Wir haben …«, beginnt Mrs Oates, »sie, äh, hat beschlossen, lieber mit dem iPad im Auto zu bleiben.« Sie sieht verlegen aus. Teilnahmsvoll zuckt Mom zusammen. »Wenn sie jemanden nicht kennt, ist sie ein bisschen ängstlich.«
In dem Wissen, dass das Kind trotzdem mit umziehen muss, ist es sogar für Mom schwer, darauf etwas zu erwidern. Ich kann mich nicht erinnern, dass Drittklässler besonders mitfühlend sind, also viel Glück am Montag in der Schule, Oates-Mädchen.
»Eigentlich war das genauso geplant«, sagt Jackson schließlich. »Wir heben uns Quinlan immer auf, bis die Leute sich entschieden haben, uns zu mögen. Ich meine, wenn sie sich dafür entscheiden.« Er hebt die Schultern und wirft mir einen trotteligen Blick zu.
»Natürlich mögen wir euch«, sagt Mom mit einem kleinen Lachen. Dabei guckt sie mich die ganze Zeit an.
Und das tun wir. Das tun wir wirklich.
Bevor sich die Garagentür hinter Moms Land Rover geschlossen hat, bin ich schon auf dem Weg in mein Zimmer, um das zu tun, was ich immer tue, wenn ich nach Hause komme: Tür abschließen, Shirt und BH ausziehen, aufs Bett, auf den Rücken legen. Ich habe so eine alte Wolldecke, der Rand ist mit einem Satinband eingefasst und das ist immer glatt und kühl, auch wenn die übrige Decke warm ist. Ich lege mich so hin, dass das Band genau da liegt, wo sich der BH in meinen Rücken gegraben hat, und wälze mich ein paarmal hin und her. Es fühlt sich ähnlich gut an wie ein kalter Waschlappen auf einer heißen Stirn. Ich strecke mich und lasse meinen Körper, der den ganzen Tag angespannt war, einfach in die Matratze sinken. Mein Rückgrat entblättert sich, so wie es sein soll. Nur fünf, sechs Minuten, mehr nicht. Fünf, sechs Minuten, um meinen Schultern eine Pause zu gönnen, meinem Nacken, mir selbst. Um atmen zu können.
Normalerweise kann ich dabei fast alles andere ausschalten. Ich höre nicht die Musik von Wilco, die mein Dad in der Küche streamt, und auch nicht, wie meine Mom zum tausendsten Mal fragt, ob das die Band sei, die sie das eine Mal im Grant Park gesehen haben. Ich denke nicht an die Hausaufgaben für Geschichte; nicht daran, ob Tyler der Grund ist, dass meine Zahnbürste heute Morgen schon nass war; und nicht daran, dass Maggie den Klub der Veganer Heuchler genannt hat, weil deren Katzen Vögel töten. Ich versuche an gar nichts zu denken, sondern einfach nur zu fühlen.
Hier halb nackt rumzuliegen, fühlt sich heute aber anders an als sonst. Weil ich heute nämlich doch an etwas denke: an Jackson. Und ich fühle mich … locker, frei, am Anfang von etwas. Nicht entspannt, ganz im Gegenteil. Aber auf eine gute Art. So, dass ich ausnahmsweise mal gerne in meinem Körper stecke.
Meine Brüste rutschen zur Seite und ich kann zwischen ihnen bis zu meinem Bauchnabel und meinem Jeansbund gucken. Ich habe noch einen ganzen Körper, der nicht Busen ist. Das vergesse ich manchmal. Ich mache ein Hohlkreuz. Ich hebe meine Beine und hänge sie über den Bettrand. Mit einer Hand fahre ich über meinen Bauch. Er ist glatt und weich und kühl. Dann stelle ich mir vor, dass eine andere Hand meinen Bauch berührt.
Und halte inne.
Das ist Blödsinn.
Das ist Blödsinn, denn ich kenne ihn gar nicht. Und er kennt mich nicht. Er ist nett, weil er neu ist, und wenn man neu und nicht nett ist, dann steht einem ein hartes Jahr bevor. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass er die komische Eigenart oder auch eine Krankheit hat, deren Symptom es ist, unbeholfene Mädchen, die sich schlecht anziehen, zu mögen, ist das Blödsinn. Denn wenn du den Bauch von jemandem berührst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis deine Hand sich weiter nach oben bewegt und – Tadaa – du das Gebirge entdeckst. Und zwar nicht die wunderbaren Skipisten in den Rocky Mountains. Nein, du verlierst dich im ungastlichen Himalaja und obendrein wirst du auch noch höhenkrank. Es ist massiv, schmerzhaft und verschwitzt. Okay, Letzteres betrifft wohl nicht den Himalaja, sondern nur mich. Aber dennoch, niemand macht Urlaub im Himalaja. Man erklimmt es, macht ein Foto und sieht zu, dass man wieder lebend rauskommt, mit einer guten Geschichte, die man dann posten kann.
Ich rolle vom Bett runter und hole einen sauberen BH aus der Schublade. Der andere ist zu verschwitzt. Ich ziehe mir ein riesengroßes T-Shirt über, unter dem auch mein restlicher Körper verschwindet.
Wer meinen Bauch immer und jederzeit berühren darf? Meine Brüste. Sie können gar nicht anders.
Maggie ist außer sich. Wie immer.
Wir sollten eine Seite zu einem Gedicht von Dylan Thomas schreiben, in dem es um das Sterben und das Aufbegehren dagegen geht. Das Ganze ist etwas komplizierter, aber das Wesentliche findet sich in den berühmten Zeilen »Geh nicht gelassen in die gute Nacht«.
Maggie hat fünf Seiten darüber geschrieben, dass leidende Menschen, die dem Tode nahe sind, das Recht auf ärztlich begleitete Sterbehilfe haben sollten.
»Maggie, das hier ist ein Literaturkurs. Deine Aufgabe war es, das Gedicht zu analysieren, und nicht, mit ihm zu streiten.«
»Wie soll ich es analysieren, wenn ich ihm widerspreche?«
»Wie widerspricht man einem Gedicht?«
Die anderen Schüler sind schon gegangen, also bleiben nur Maggie, Ms Mulder und ich im Kursraum zurück. Die Hälfte der Zeit, die ich mit Maggie verbringe, höre ich ihr dabei zu, wie sie mit einem Lehrer diskutiert. Oder einem Schüler. Oder einem Elternteil. Oder einem achtjährigen Kind im Halloweenkostüm, das behauptet, Hermine sei nicht so cool wie Harry oder Ron, weil sie kein Quidditch spielt.
Deswegen habe ich ihr nicht erzählt, dass ich dieses Wochenende Jackson kennengelernt habe – obwohl er jetzt gerade irgendwo in diesem Gebäude ist. Weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, zu streiten. Oder vielleicht, weil sie dann vorschlägt, dass ich ihn frage, ob er mit mir ausgeht. Und dann werde ich sagen: »Nein, ich ziehe es vor, meine Gefühle tief in diesem überdimensionierten Sweatshirt zu vergraben, um mir die Demütigung zu ersparen, wegen eines normal gebauten Mädchens abgelehnt zu werden.« Dann wird Maggie mit mir streiten wollen. In der Regel vermeide ich es, mit Maggie zu streiten.
»Wenn ich also ein Gedicht analysieren muss, das Folter propagiert, dann soll ich einfach das Reimschema untersuchen und mich über den Sprachstil auslassen? Dann soll ich nicht gegen Folter Stellung beziehen?«
»Ich habe euch kein Gedicht über Folter aufgegeben, sondern einen Klassiker von Dylan Thomas, der von einer allgemein menschlichen Erfahrung handelt.«
Maggie schaut Ms Mulder an, als hätte sie uns aufgetragen, ein Massengrab zu schaufeln und es mit Welpen zu füllen. Ms Mulder wirft einen Blick auf das Lunch-Paket auf ihrem Schreibtisch. Sie wird nie zum Essen kommen, wenn sie nicht nachgibt.
»Also dann. Du hast nicht das analysiert, worum ich dich gebeten habe. Aber dein Text ist ganz gut geschrieben und du hast dich eindeutig ausführlich mit dem Gedicht beschäftigt. Ich gebe dir eine Zwei plus, aber ich erwarte, dass deine nächste Hausaufgabe formvollendet ist. Wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich an Greer.«
Genau deswegen will ich nicht mit Maggie über Jackson reden. Maggie bekommt Leute dazu, das zu tun, was sie will. Wie eine Drei minus in eine Zwei plus zu verwandeln oder zuzugeben, dass man sich total in den Sohn der Kundin seiner Mutter verknallt hat.
»Das klingt wie ein guter Kompromiss«, sage ich, bevor Maggie wieder das Wort ergreifen kann. Ich hake meinen Finger durch die lockeren Schlaufen ihres Schals und ziehe. Ich möchte zwar nicht mit ihr streiten, aber ich werde ihren gestrickten Schal auftrennen, wenn sie jetzt nicht voranmacht. »Bis morgen«, sage ich zu Ms Mulder und führe uns nach draußen.
»Geh nicht gelassen in die vierte Stunde«, sagt Maggie, als wir im Gang stehen, »glüh, rase, verfluche, wüte …«
»Gegen alles?«
»Wenigstens gegen irgendwas, Greer. Man muss wenigstens gegen irgendetwas wüten.«
Gegen was würde ich wüten, wenn ich ein Mensch wäre, der wütet? Donna und Doria.
Und wer sind Donna und Doria? Das sind meine Brüste.
Mein Busen.
Hupen.
Möpse.
Holz vor der Hütte.
Melonen.
Boobs.
Oberweite.
Hanni & Nanni.
Wunderäpfel.
Die Zwei.
Wenn man bedenkt, wie es sich mit mir und Mathe verhält: Wenn meine Brüste Mathe wären, dann wäre ich nicht einfach besser als alle anderen in meiner Klasse. Ich wäre eine dieser abnorm begabten Schülerinnen, die ihre Brüste mit zur Uni bringen müssen, weil sie für die Schule zu groß sind. Nur dafür, dass ich ein Tanktop trage, würden sie mir lauter Einsen geben.
Ich würde mit ihnen zwar keinen Weltrekord erzielen, aber um es einfach mal mathematisch auszudrücken: Sie sind signifikant größer als der Mittelwert, der Median, der Modalwert.
Nicht alle bekommen das gleich mit, da ich seit der neunten Klasse Oberteile in XXL trage. Und zwar XXL für Männer. Denn nicht mal XXL-Damen haben solche Hupen.
Würde ich solche Oberteile tragen wie meine Freundinnen, würden sie wie beim unglaublichen Hulk einfach zerplatzen.
Meine Mom findet, dass mich die schlabberige Kleidung fett aussehen lässt. Nicht fett. »Füllig«. Das ist Moms Wort für fett. (Sie würde nie »fett« sagen, doch sie kennt wahrscheinlich das optimale Verhältnis von Körpergröße und Gewicht.)
Sie selbst hat durchschnittliche Brüste. Wahrscheinlich Körbchengröße D. Ich habe diese Dinger demnach wohl von einer vollbusigen Dame aus Dads Familie geerbt.
Das sagen die anderen dazu:
Genau. Nichts. Wir reden nicht über sie. Nicht meine Mom. Noch nicht einmal Maggie. Maggie weiß, dass ich nicht begeistert bin. Aber wenn ich ihr sagen würde, wie es mir wirklich mit ihnen geht, wäre sie enttäuscht. Sie würde versuchen, mich dazu zu überreden, mich stolz im Bustier vor unsere Mitschüler zu stellen und einen Vortrag über Belästigung zu halten, oder sie würde beschließen, dass ich mit knapp sechzehn Jahren genau im richtigen Alter für körperverändernde Reduktionsplastik bin, und Fachärzte für plastische Chirurgie befragen, wie viel Brustgewebe entfernt werden kann. Weder für das eine noch für das andere bin ich bereit. Ich würde gerne erst einmal mit der Schule fertig werden.
Ich bin nicht die Einzige, die nicht über ihren Körper reden will. Klar, über Kleinigkeiten wird gesprochen. Jemand, der besonders groß ist, sagt vielleicht: »Die Hosenbeine sind immer zu kurz.« Wir weisen uns auch gegenseitig auf den einen oder anderen Pickel hin. Aber wenn etwas intimer oder besonders eigenartig wird, dann reden wir nicht mehr darüber.
Ein Beispiel. Während der jährlichen Aufklärungswoche zum Thema Essstörungen im Februar kommt eine Krankenschwester. Sie sagt uns, dass wir auf Essstörungen achten sollen. Sie tut so, als wäre das ganz einfach zu erkennen. Als würde eine Schülerin in der Schulmensa stehen und verkünden: »Von nun an esse ich nur noch Radiererkrümel. Und wenn die Verlockungen zu groß werden, dann benutze ich nur noch die kleinen Bleistifte von IKEA, die gar keinen Radiergummi haben.« Daraufhin bilden wir einen Kreis des Vertrauens um die Schülerin und sie isst ein Sandwich.
Aber so ist es nicht. Die meisten Menschen behalten ihre Probleme für sich.
Im Herbst unseres ersten Schuljahres auf der Highschool hatten wir Schwimmen. Ich war da schon befangen wegen meines Körpers. Aber wenigstens werden bei allem, was Aufklärung, Badeanzüge oder Schlafsäcke angeht (so wie beim Lernen durch Engagement-Projekt am Schnell-versteck-dein-Gras-Wochenende), die Geschlechter getrennt. Einige der Mädchen besaßen nur Triangelbikinis. Nicht gerade praktisch, wenn man Schmetterlingsschwimmen lernt. Deswegen mussten wir die Badeanzüge der Kennedy-Schwimmmannschaft von 1975 tragen. Der Kennedy-Badeanzug ist ein dunkelroter Einteiler, der so hochgeschnitten ist, dass er im Prinzip als Rollkragen durchgeht, und so ausgeleiert, dass er bis zu den Knien hängt. Damals passte ich noch in eine 36, solange ich nicht zu tief einatmete.
Wir zogen uns um, rannten durch die Duschen, stellten uns in einer Reihe an der Wand auf und froren uns den Hintern ab, während Ms Reinhold die Baderegeln durchging.
Ich versuchte meinen Blick von Nella Woster abzuwenden. Aber ich kam einfach nicht dahinter, wie sie den gleichen hässlichen, alten Badeanzug wie wir anderen tragen und dabei trotzdem so aussehen konnte, als würde sie in einer Rum-Werbung auftreten. Jede ihrer Kurven war vollkommen. Mit ihr shoppen zu gehen, muss die Hölle sein. Ich wette, sie kann sich nie entscheiden, weil einfach alles an ihr gut aussieht. »Ich nehme wohl alles.« »Du kannst alles umsonst haben, wenn du unsere Marke auf Instagram bewirbst.«
Das war ungefähr auch der Moment, in dem Jessa Timms, totale Sportskanone und möglicherweise Bodybuilderin, an mir vorbeiging, stehen blieb, auf meine Brust guckte und sagte: »Mannomann, Greer! Hast du einen Vorbau! Und ich dachte, du wärst einfach kräftig.«
Mein Gesicht nahm dieselbe Farbe an wie der Badeanzug. Ich ließ die Schultern so sehr hängen, dass ich fast den Boden berührte. Niemand lachte, alle keuchten nur irgendwie, als könnten sie nicht fassen, was Jessa da gesagt hatte. Es gibt Regeln, Jessa! Wir kommentieren die Körper anderer Leute nicht in ihrem Beisein! Aber für den Rest der Stunde fiel mir auf, dass die Mädchen mich auscheckten, sich versicherten. Ja, sie hat recht. Greer hat ganz schön viel Holz vor der Hütte. Dabei hatten meine Brüste damals nicht im Entferntesten die Größe, die sie jetzt haben.
Ich habe noch nie ein längeres Gespräch über die Zwei geführt als an diesem Tag beim Schwimmen. Aber ich wette, andere Leute reden oft über sie.
Es gibt im Internet so einen Fragenbogen: »Ist Brustverkleinerung das Richtige für Ihren Teenager?« Bei den meisten Fragen geht es um den Schmerz, das Wachstum, die Erbanlagen, die Narbenbildung »Ihres Teenagers«, um die erste Monatsblutung und die Regelmäßigkeit der Menstruation, die körperliche und seelische Bereitschaft, die psychische Reife und eine Menge anderer Dinge, die keinen Menschen etwas angehen. Es gibt auch eine Liste von Sachen, die man seine Ärztin fragen soll. Wenn ich wirklich mehr über die Operation erfahren will, sollte ich mich dazu überwinden, das ist mir klar. Obwohl ich es vorziehen würde, ihr keine dieser Fragen zu stellen. Als Mom und ich also, bevor die Schule wieder anfing, zu meiner Routineuntersuchung gegangen sind, habe ich beschlossen, die Frage »Greer, möchtest du, dass deine Mutter den Raum verlässt, während ich dich untersuche?« mit Ja zu beantworten.
Ich hatte bis dahin mit keinem Menschen über meine Brüste gesprochen, geschweige denn darüber, wie es mir mit ihnen geht, und es würde auch nicht einfach sein, mit Dr. Garcia zu reden. Aber wenigstens würde unser Gespräch vertraulich sein. Bestimmt haben andere Patientinnen schon viel seltsamere Sachen mit ihr besprochen. Ich hatte vor, total profimäßig damit umzugehen. Dann würde sie wissen, dass ich die »psychische Reife« besaß, die man haben sollte, wenn man als Fünfzehnjährige über eine OP nachdenkt, weil man mit Brüsten rumläuft, die die Größe von Seekälbern haben. (Wenn man als Erwachsener plastische Chirurgie in Anspruch nehmen will, muss man anscheinend keine »psychische Reife« besitzen. Nur genug Geld.) Sobald meine Mutter den Raum verlassen würde, würde ich sagen: »Ich habe recherchiert, welche chirurgischen Möglichkeiten es im Hinblick auf Brustverkleinerungen gibt, und möchte für mich alle möglichen Wege prüfen.« Sie würde einen Stuhl heranziehen, meine Fragen beantworten und keine von uns würde stottern oder rot werden, überhaupt nicht. Vielleicht würde sie mir sogar ein Faltblatt mit folgender Überschrift aushändigen: Geheime, kostenlose Brustverkleinerung, die man im Zeitrahmen von einer Unterrichtsstunde machen lassen kann.
Ich saß da, versuchte meine verschwitzten Hände an diesem Papier abzuwischen, mit dem sie die Untersuchungsliege abdecken, als Dr. Garcia nach ihrem Stethoskop griff. Ich dachte schon, sie würde vergessen zu fragen und ich müsste Mom selbst bitten zu gehen. Aber dann, in letzter Minute, fragte sie: »Greer, möchtest du, dass deine Mutter den Raum verlässt, während ich dich untersuche?« Mein Herz schlug wie wild. Anstatt mich durch das Gesundheitsportal zu klicken und die Erfahrungsberichte von ein paar YouBoobies zu sehen, würde ich dieses Gespräch mit einem echten Menschen führen. Ich wollte unbedingt und gleichzeitig auf keinen Fall mit ihr darüber sprechen.
Nur muss ich vergessen haben, wer meine Mutter ist, denn bevor ich antworten konnte, sagte die: »Ach, stimmt ja! Ich habe vergessen, dass Sie das fragen. Greer, möchtest du dieses Mal irgendetwas Persönliches mit Dr. Garcia besprechen?« Sie schaute mich an, als wäre sie modern und unterstützend und würde meine Privatsphäre respektieren, aber weder machte sie Anstalten, ihr Handy zurück in ihre Handtasche zu tun, noch, ihre Jacke zu nehmen. Sie sagte es so, als wüsste sie schon die Antwort, und die Antwort war, natürlich: »Natürlich nicht.« Dr. Garcia schaute mich jedoch weiter an, und alles, was mir durch den Kopf ging, war: Deswegen verhüten Leute nicht, die eigentlich verhüten sollten. Weil im Grunde schon die Bitte an deine Mutter, den Raum zu verlassen, ihr alles sagt, was sie nicht wissen soll. Ich schüttelte den Kopf. Und wenn ich recht darüber nachdenke: Wenn es mir schon so schwerfällt, meiner Mutter zu sagen, sie soll abhauen, damit ich die Ärztin fragen kann, ob ich reif genug bin, mir die Brüste abhacken zu lassen, wie soll ich dann die nächsten sechzehn Fragerunden mit Krankenschwestern, Chirurgen, Versicherungen, Krankenhauspersonal, meinem Dad und um Himmels willen mit Tyler überleben?
Mom blieb im Raum. Ich hielt still. Dr. Garcia sagte, mein Herz und meine Lungen seien gesund, ich solle den Sonnenschutz nicht vergessen und ich hätte im letzten Jahr zwei Kilo zugenommen. (Mindestens die Hälfte davon ist bestimmt Brustgewebe.) Und dann druckte sie das Genehmigungsformular aus, das man an unserer Schule für Sport braucht. Ja. Genau.
»Eine meiner Kundinnen kommt gleich vorbei. Räum mal dein Zeug vom Tisch.«
Tyler wirft einen Blick auf den Esszimmertisch. Darauf stehen eine skandinavische Holzschale und etwa zwölf Kubikmeter von seinem Zeug: Bücher, Hausaufgaben, Elektrokram, Papierfußbälle, leere Verpackungen, Socken und halb leere Wasserflaschen. Er geht in die Küche.
Er öffnet den Kühlschrank, holt eine weitere Wasserflasche raus, bleibt davor stehen und starrt hinein, als würde er darauf warten, dass ein Paket im Gemüsefach auftaucht. Ich sitze an der Kücheninsel, beobachte das Ganze und sage mir, dass ich hier nicht zuständig bin. Es ist Moms Problem, dass Tyler ein Trottel ist, nicht meins. Ich habe versucht, ihr das zu sagen, als sie ihn vor dreizehn Jahren aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hat.
Okay, ich halte es nicht aus: »Mom hat gesagt, du sollst dein Zeug wegräumen.«
Tyler wirft einen Blick über seine Schulter auf den Esstisch.
»Das ist nicht alles meins.«
»Doch, ist es.«
»Nein, ist es nicht.«
Ich schiebe meinen Hocker zurück und gehe zum Esstisch. Tyler schlendert herbei und stellt sich neben mich.
»Was davon gehört nicht dir?«
Er wirft einen kritischen Blick auf alles, was über den Tisch verteilt ist. »Das da gehört nicht mir.«
Ja. Stimmt. Die Kjerstønagsrud-Holzschale, die Mom für 175 Dollar im Museumsshop gekauft hat, gehört nicht Tyler.
»Ich glaube, das da gehört dir«, versucht er es und winkt mit einer Hand Richtung Tisch, während er mit der anderen durch die Stories seiner Freunde scrollt.
»Das soll meins sein?« Ich will das Ding noch nicht einmal anfassen. Ich lasse meine Finger nur darüber schweben.
»Nicht?« Er guckt noch immer auf sein Handy.
»Du meinst wirklich, das ist meins?«
»Äh, ja, dachte ich?«
»Tyler, das ist ein Eierbecher. Eine Plastikschale, die man sich in die Sporthose steckt, um die Hoden zu schützen.«
Er schaut endlich hoch und kräuselt die Nase: »Mmh, und?«
»Und du glaubst noch immer, der gehört mir? Wenn man bedenkt, dass ich keinen Hodenschutz trage, weil ich keinen Hoden habe? Und wenn man bedenkt, dass ich, selbst wenn ich einen hätte, sowieso keinen Sport treibe? Und wenn man bedenkt, dass ich kein Schwein bin, das verschwitzte Plastiksachen, die in meiner Unterhose waren, auf einem Tisch liegen lasse, an dem Menschen essen?«
Meine Stimme wird höher und schärfer und Tyler und ich hören beide, dass ich wie Mom klinge.
»Oder vielleicht denkst du auch, ich könnte einen Hodenschutz gebrauchen, wenn ich Hausaufgaben mache, falls mir das Mathebuch in den Schoß fällt und meinen imaginären Hoden zerquetscht. Es ist ein sehr schweres Buch. Es könnte einigen Schaden anrichten. Bietest du mir das deswegen an? Wirklich sehr süß von dir, Tyler.«
Und dann steht Jackson Oates im Durchgang zum Esszimmer und winkt verlegen. Er begrüßt mich mit einem zweisilbigen »Hi-hey« und bestätigt damit, dass er ein sehr seltsames Gespräch unterbrochen hat. Na toll. Er wird denken, dass Ty und ich den ganzen Tag lang unsere Hoden vergleichen. Genau der Eindruck, den ich vermitteln will.
»Oh! Hallo! Meine Mom hat gesagt, dass deine Mom vorbeischauen will – ich wusste nicht, dass du auch mitkommst.«
»Wir holen meinen Dad vom Flughafen ab. Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze.« Jackson schiebt seine Hände so tief in die Hosentaschen, dass seine Schultern noch breiter aussehen als sowieso schon. Ich frage mich, ob er Schwimmer ist oder Baseballspieler oder so.
»Alles gut. Tyler und ich überlegen gerade, wo wir seinen Eierbecher am besten aufbewahren: mitten auf dem Esstisch oder gleich im Kühlschrank.« Tyler stößt mich mit dem Ellbogen in die Seite. Es ist ihm nicht peinlich, seinen Penisschutz einfach so rumliegen zu lassen, aber er möchte nicht, dass ich mich vor anderen über ihn lustig mache. Wenigstens hat er einen Funken Anstand.
»Vielleicht wäre eine Kristallvase das Richtige?«, sagt Jackson mit überschwänglicher Geste.
»Wie soll das denn bitte funktionieren?«, fragt Tyler. Er nimmt immer alles so wörtlich.
»Jackson, das ist mein Bruder Tyler. Ty, das ist Jackson Oates.« Ich hoffe, man merkt nicht, dass ich die Wendung »Jackson Oates« hundertmal am Tag im Kopf wiederhole, seit ich ihn kennengelernt habe.
»Du spielst Lacrosse?«, fragt Jackson mit Blick auf den Ball in Neonrosa. Im Ernst, Tyler? Es ist noch nicht einmal die richtige Jahreszeit, um einen Lacrosseball auf dem Tisch liegen zu lassen.
Dass er beachtet wird, muntert den schmollenden Tyler wieder auf. »Ja, du auch?«
Jackson schüttelt den Kopf. »Als wir in Virginia gelebt haben, wollte ich, aber wir sind umgezogen, bevor die Saison anfing. Ich habe Baseball und Fußball gespielt und war mal im Schwimmteam. In den letzten Jahren habe ich hauptsächlich Tennis gespielt. Hängt immer davon ab, wo wir gerade leben. Und was ist mit dir, Greer? Was ist dein Sport?«
Auch mich muntert es auf, dass ich beachtet werde. »Oh. Sport ist nicht so mein Ding.«
Ich erkläre nicht, dass Sport, anders als die anderen Schulfächer, voraussetzt, dass dein Körper und du zusammenarbeiten, anstatt zu wabbeln und zu schwabbeln und im Weg zu sein. Erst gestern Abend hat Tyler mein Handy geklaut und ich musste ihm im Schlafanzug und ohne BH hinterherlaufen. Doria ist hochgehüpft und hat mir fast ein blaues Auge verpasst.
»Wie sind denn die ersten Tage so gelaufen?« Ich habe ihn ein paarmal von Weitem gesehen, zuerst, als er von den Fachbereichsleitern rumgeführt wurde, dann von ein paar wohlmeinenden Schülern aus der Schülervertretung. Heute beim Mittagessen war er dann Teil einer Gruppe von Jungs, die jeden Tag dem Taco-Foodtruck einen Besuch abstatten. Ich bin nicht überrascht, dass er so schnell Freunde gefunden hat. Aber ein bisschen enttäuscht schon, weil wir jetzt die Jahre unserer Jugend nicht mehr gemeinsam verbringen werden.
»Ganz gut. Ich habe mich weder verlaufen, noch bin ich verprügelt worden. Und niemand hat mein Taschengeld geklaut.«
»Wie gut. Der Taco-Foodtruck akzeptiert nämlich die Mensakarten nicht.« Er legt den Kopf schief und ich merke, dass ich rot werde. Er soll nicht denken, ich hätte ihn beobachtet. »Ich habe gesehen, wie du mit Max und den anderen gegangen bist. Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht an der Gedichte-voller-Wehmut-Theke festsitzt.«
»Du hättest mit uns mitkommen sollen. Das Barbacoa war göttlich.«
Den Riss im Universum möchte ich sehen, wenn ich einfach mit Maggies älterem Bruder und seinen Kumpels, die Jackson adoptiert haben, zum Taco-Foodtruck gehen würde. »Ich musste ein paar Gedichte zu Ende schreiben«, sage ich so wehmütig, wie ich kann.
»Von wegen. Max sagt, du isst immer mit seiner Schwester.«
Jackson hat mit Max über mich geredet? Jetzt lege ich den Kopf schief, aber er wird nicht rot. Er lächelt einfach. Na, wahrscheinlich war das so: »Ich hoffe, diese komische Tante mit dem Riesenbusen folgt mir nicht auch noch zum Essen, die läuft mir schon die ganze Zeit hinterher.« »Keine Sorge, die isst immer mit meiner Schwester und sie verlassen nie das Schulgelände, weil Maggie zu faul ist, irgendwo hinzulaufen.« Aber wenigstens hat er da an mich gedacht.
»Na ja, falls Max oder jemand anders versucht, dein Taschengeld zu klauen, weißt du ja, wo du mich finden kannst. Erste Stunde, Raum eins-eins-drei«, bekomme ich heraus.
Eine blonde Elfe versetzt Jackson einen üblen Schlag in den Rücken. Er langt nach hinten und greift nach ihren Armen, bevor sie es noch einmal machen kann.
»AUAAAA!«, knurrt sie.
»Hör auf damit, Q.«
»Ich. Hab. Nix. Gemacht.« Meine Mom hat mir erzählt, dass Jacksons Schwester in der dritten Klasse ist. Sie ist groß für ihr Alter und dünn, eine richtige Bohnenstange. Wenn ihr Outfit sie nicht verraten würde, könnte man denken, sie geht in die Mittelschule: rosa Ugg-Boots – im Haus von Kathryn Walsh! Auf dem Teppich von Kathryn Walsh! –, zu kurze Leggings und ein T-Shirt, auf dem in Glitzerschrift steht: Das Problem gefällt mir nicht! Das nächste bitte! Sie entreißt Jackson ihren Arm und wirft ihm einen wütenden Blick zu.
Jackson macht sich nicht die Mühe, uns Quinlan vorzustellen. »Wo ist Mom?«
»Die ist langweilig.«
»Wir sind auch langweilig. Geh und such Mom.«
Tyler und ich mögen uns nicht, er ist eklig und ich bin es nicht. Aber wir hassen uns nicht. Meistens jedenfalls. Ich ärgere mich, wenn er Dinge auf dem Tisch liegen lässt, die seine Eier berührt haben, und er findet, ich sollte das Abführmittel, das er manchmal nimmt, nicht vor seinen Freunden erwähnen. Aber normalerweise vertragen wir uns ganz gut.
Die Spannung zwischen Jackson und Quinlan ist ganz anders. Jackson ist normalerweise locker und lässig. Würde man zufällig in ihn hineinrennen, dann würde er erst ein bisschen in die eine und dann ein bisschen in die andere Richtung schwanken und dann seine langen Arme um einen legen, damit man nicht umkippt. Sobald Quinlan auf der Bildfläche erschienen ist und ihm eins draufgegeben hat, ist er wie verwandelt. Ein Stahlpfeiler. Angespannt und auf alles gefasst.
»Haben sich alle kennengelernt?«, fragt Mom und schwebt in den Raum. Was sie eigentlich sagt, ist: »Greer Eleanor Walsh, ich habe dich zu einer höflichen Gastgeberin erzogen, auch gegenüber gewalttätigen Elfen-Mädchen, und ich gehe davon aus, dass du den Oates-Kindern eine Erfrischung angeboten hast.« Ihr Blick gleitet zu der Ansammlung auf dem Esstisch und sie zuckt zurück.
»Bitte entschuldige die Unordnung«, seufzt sie Mrs Oates zu. »Jungs!«
Mrs Oates, groß und blond wie Quinlan, aber perfekt angezogen und entspannt wie Jackson, lächelt mitfühlend. Ich wette aber, dass Jackson seine alten Hausaufgaben abheftet und sein Sportzeug in beschrifteten Fächern verstaut, wenn er es gerade nicht braucht. Genauso wie ich.
»Möchte jemand etwas trinken? Wir haben Sirup da – Himbeere und Blaubeere-Vanille, glaube ich«, sage ich, viel zu spät.
»Blaubeere ist alle«, sagt Tyler und rülpst. Seit wir einen SodaStream haben, ist er ständig voller Kohlensäure. Von Mom bekommt er einen Ich-könnte-dich-erwürgen-Blick. So geht es uns mit Tyler meistens.
»Wir müssen los«, sagt Mrs Oates. »Wir holen Ben ab. Er war zwei Wochen in Dubai.«
»In Dubai selbst holen wir ihn aber nicht ab«, sagt Jackson. Doch ich bin zu abgelenkt, um mich darüber zu amüsieren. Quinlan steht mit dem Rücken zu uns vor dem Bücherregal. Sie macht irgendwas, ich kann nicht genau sehen, was.
»Hoffentlich nicht!«, dröhnt Mom, als wäre es der beste Witz aller Zeiten und nicht einfach eine beiläufige Bemerkung gewesen. Sie wirft mir einen Blick zu, wohl um zu sehen, ob ich auch mitbekommen habe, wie charmant Jackson ist.
Als die Oates weg sind, nimmt Mom sich sofort Tyler vor, weil er sein Zeug nicht aufgeräumt hat (und klingt dabei tatsächlich erschreckend wie ich). Ich gehe währenddessen zum Bücherregal.
Vor den Büchern steht eine Reihe von kleinen Glasfiguren: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Mom hatte sie schon als kleines Mädchen. Die Figuren sind mundgeblasen und sehr zerbrechlich. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, erlaubte sie mir zum ersten Mal, mit ihnen zu spielen. Aber nur am Tisch und nur mit einem dicken Geschirrhandtuch darunter und bloß nicht zusammen mit anderem Spielzeug oder Lego. Und die Figuren durften sich nicht berühren. Also habe ich nicht wirklich mit ihnen gespielt, sondern sie vielmehr vom Regal auf den Tisch bewegt und sie angeguckt. Und dabei im besten Fall die Luft angehalten.
Ich habe sie geliebt. Ich tue es noch. Ich liebe sie, weil sie so winzig, so vollkommen und so berechenbar sind. Der eine schläft immer ein. Der andere ist zu schüchtern, um etwas zu sagen. Der da am Ende ist immer wütend. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn man alles über sich selbst so einfach erfassen könnte. Wenn man einfach nur Schlafmütze oder Brummbär oder Happy wäre. Aber selbst Tyler ist nicht die ganze Zeit ein Seppel. Manchmal ist er einfach nur ein Stinktier.
Mir wird schlecht. Da ist Schneewittchen, da die zwei Häschen, das Nest mit den winzigen Vögeln und da sind sechs Zwerge.
Brummbär ist verschwunden.
»Oh, hallo, Jackson. Es war echt toll, dich zu sehen und deine nette Schwester kennenzulernen. Übrigens, ich bin mir ziemlich sicher, dass der goldige Engel einen winzigen Zwerg aus Glas gestohlen hat. Der ist mir aus vielen Gründen, die alle sehr erwachsen und vernünftig sind, sehr wichtig und ich habe mich gefragt, ob ich ihn wiederhaben kann? Geschwister, stimmt’s?«
Ja. Das klappt bestimmt. Er wird wahrscheinlich sagen: »Ich habe mich schon gefragt, wo der kleine Kerl herkommt!«, und einen Kasten hervorziehen, in dem Brummbär sicher in Dodo-Daunen gewickelt liegt. Und dann wird er mir sagen, dass er schon immer mit jemandem ausgehen wollte, der größere T-Shirts trägt als er.