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Über das Buch

Doggerland – so heißt das fruchtbare Land, das einst in der Steinzeit England mit dem europäischen Festland verband. Jäger und Sammler siedelten hier, bis alles nach der letzten Eiszeit in einem riesigen Tsunami unterging. Rund 8000 Jahre später geraten die Zwillinge Leya und Lex durch ein Zeittor in der Nordsee in diese fast vergessene Vergangenheit und schließen Freundschaft mit dem Häuptlingssohn Alif. Doch während sie voller Faszination in das Leben in der Wildnis eintauchen, naht die Zeit des großen Sturms …

Ein atemberaubende Reise in eine versunkene Welt, die es tatsächlich gab.

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Für D & E
Meine Helden der Zukunft

Die Hälfte dieser Geschichte ist wahr.
Die andere kann es noch werden
.

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1. Auflage 2020

© Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2020

ISBN 978-3-7641-5197-3

eISBN 978-3-7641-9268-6

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Lektorat: Emily Huggins

Umschlaggestaltung und Karte: Tobias Goldschalt

Druck und Bindung: Finidr, s. r. o., Český Těšín

Gedruckt auf Papier aus geprüfter nachhaltiger Forstwirtschaft.

www.ueberreuter.de

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Inhalt

Alif

Leya

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Alif

Lex

Alif

Leya

Alif

Leya

Alif

Lex

Alif

Leya

Lex

Alif

Leya

Alif

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Lex

Leya

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Alif

Leya

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Lex

Leya

Lex

Alif

Leya

Lex

Alif

Lex

Leya

Alif

Leya

Lex

Alif

Lex

Alif

Lex

Leya

Lex

Leya

Alif

Lex

Leya

Lex

Alif

Leya

Lex

Leya

Lex

Leya

Lex

Alif

Leya

Lex

Leya

Alif

Lex

Alif

Leya

Lex

Leya

Alif

Ley-La

Glossar

Nachwort

Danksagung

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Das Wasser steigt und frisst meine Heimat. Langsam, aber unaufhörlich. Die Zeichen dafür sind untrüglich. Wo ich vor einigen Läufen des Himmelsauges noch trockenen Fußes über die Bohlenwege lief, schmatzen die morschen Hölzer nun in der Salzlake. Sogar die Küstenschreier beklagen sich, denn in den überfluteten Knieblatt-Wiesen können sie zwischen den Halmen keine Nester mehr bauen. Die Regenmonde sind da, viel früher als noch zur letzten Flusswanderung der Glanzschuppen. Und während das Warmland Speermaß um Speermaß im Meer versinkt, bricht auf den Windebenen die Erde auf und darbt unter der Trockenheit.

Die Alten sprechen vom immer gleichen Lauf des Lebens, so wie auch die Schwärme der Graufaucher im Jungmond wiederkehren. Sehen sie den Wandel nicht oder wenden sie ihre müden Augen mit Absicht ab?

Heute bin ich weiter gewandert als sonst. Allein. Ohne meinen Bruder, dessen Arme ihn manchmal quälen und der deshalb in unserem Dorf geblieben ist.

Ein Schrei, aus Richtung des Strandes, lässt mich hochschnellen. Er hat nach Furcht und Wut zugleich geklungen. Das war kein Mensch.

Eilig pirsche ich durch das dichte Sandrohr. Geduckt, die Waffe wippt gegen meinen Hinterkopf. Vater sieht es nicht gerne, wenn ich sie schon jetzt gebrauche. Aber irgendwann werde ich an seine Stelle treten. Also muss ich hier draußen meine Stärke mehren.

Wieder ein Schrei. Dieses Mal wütender. Da unten müssen auch Männer sein. Wildbeuter. Ihre Rufe mischen sich in die brüllende Wut des … Kann das sein? So weit im Warmland?

Ich spähe über das Sandrohr der Düne. Da sehe ich ihn.

Ein Koloss.

Kraftvolle Muskeln arbeiten unter seinem zotteligen Fell, die langen Waffen leuchten blutrot im Licht des erwachenden Himmelsauges und gegen seine baumgleichen Beine branden die Wellen. Die Männer, ich zähle so viele, wie ich Finger habe, sind vorsichtig. Ein falscher Schritt und es ist vorbei. Noch steht der Kampf auf spitzem Stein.

Die Speere der Wildbeuter drängen das große Tier tiefer in die Brandung. Neidvoll muss ich anerkennen, dass sie ihr Handwerk verstehen.

Im Schutz der Düne krieche ich näher heran, verenge die Augen zu Schlitzen. Jetzt erkenne ich den schwarzen Haarschopf: Erutt, Sileggs Sohn, ist unter den Wildbeutern. Meine Fingernägel graben sich in die Handflächen. Erutt, verflucht, jetzt schon?

Das Tier erhebt sich auf seine Hinterbeine und stößt jenen Ruf durch seine schlangenhafte Nase, der unser Land seit der Geburt der Sterne erbeben lässt. Ihr guten Geister, es ist ein Bulle.

Ein Kribbeln läuft über meinen Nacken. Ich fühle, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Zu gerne würde ich jetzt auch da unten sein. Ich beiße die Zähne aufeinander und dresche meine Fäuste in den scharfkörnigen Sand. Ich will endlich auch Maa-Mutts jagen.

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Der Bär sieht traurig aus. Wie er mit seinem Jungen auf der winzigen Eisscholle hockt, seinen Blick direkt in die Kamera gerichtet, als würde er dem Fotografen zurufen: »Mensch, jetzt mach doch mal was!«

Doch scheinbar wirkt dieses Foto nur auf mich so. Seit drei Stunden stehe ich bereits vor dem Supermarkt, schwitze die Flyer voll und kratze mir mit den Sohlen meiner Chucks über die Mückenstiche an den Beinen. Meine Mutter sitzt hinter meinem Stand und tippt auf ihrem Handy herum. Dabei wollte sie doch die Rettet-Eisbären-Armbänder und Halsketten sortieren. Der Letzte, der sich die angesehen hat – war das gestern oder vorgestern? –, hat alles durcheinandergebracht.

Ich trete vom glühend heißen Parkplatz unter das Vordach des Supermarktes und starre durch das Fenster auf die Obst- und Gemüsetheke. Ich sehe in Plastik eingeschweißte Gurken, geschnittene Ananas in Plastikbechern und ein riesiges Regal mit Smoothiefläschchen. Auch aus Plastik.

Ich schließe die Augen. Das wird echt schwer. Als ich sie wieder öffne, sehe ich mein Spiegelbild im Supermarktfenster. Zu viele Pickel (schon wieder), zu fett an den Hüften (immer noch) und dann diese Segelohren. Einzig die blau gefärbte Haarsträhne in meinem brünetten Pony gefällt mir.

Mein Blick fällt auf meine Mutter. Schlank und Haare wie Seide. Jeder Blinde erkennt, dass wir nicht miteinander verwandt sein können. Dabei sind die Lala-Ohren, wie mein Zwillingsbruder sie immer nennt, noch nicht einmal das Hässlichste an mir. Der Gipfel der Uglyness sind meine Finger. Ich weiß, kaum jemand beschwert sich über seine Finger. Die meisten Menschen achten nicht mal auf ihre Flossen. Aber genau dieses Wort trifft es ziemlich genau. Meine Finger sind nicht normal. Denn ich wurde tatsächlich mit so was wie »Flossen« geboren.

Wenn 99 Komma irgendwas Prozent der Menschen sich das kleine Stückchen Haut zwischen ihren Fingern anschauen (das bisschen Haut, das sich strafft, sobald man die Finger spreizt) und sich dann vorstellen, dieser Hautlappen reicht bis zum Gelenk zwischen dem zweiten und dritten Fingerglied, dann haben sie ungefähr eine Ahnung von dem, wie meine »Schwimmhäute« aussehen. Mein rechter Mittelfinger ist so mit seinem Nachbarn, dem Ringfinger, verwachsen, dass ich beide nur knapp einen Zentimeter auseinanderspreizen kann. Das ist seit meiner Geburt so. Ein seltener Gendefekt namens Kutane Syndaktylie, etwas, das nur einer von 10 000 hat. Volltreffer, ha, ha. Der amerikanische Schauspieler Ashton Kutcher, der aus »Two and a Half Men«, hat zum Beispiel ebenfalls diese Mutation. Irgendwie tröstlich, dass so was auch nicht vor Promis haltmacht.

Aber ich bin kein Promi. Nicht mal die Tochter eines Promis. Ich bin die Tochter von irgendwem, der abgehauen ist. Die Frau, die gerade hinter meinem Stand hockt und wieder mal auf ihr Handy schaut, anstatt mich beim Sammeln von Spenden für Eisbären-Patenschaften zu unterstützen, die nenne ich zwar Mama (und ich liebe sie), aber in Wahrheit ist Irene Finsmann nur meine Adoptivmutter.

»Echt schlimm mit den Eisbären, oder?«

Ich drehe mich um und kämme mir die schwitzigen Haare über die Ohren. Gewohnheit. Der Junge ist in meinem Alter. Ich mustere ihn. Turnschuhe, Jeans mit Löchern und ein Hollister-Pulli, na ja. Aber er sieht irgendwie nett aus.

»Ja, bald wird es keine mehr geben«, höre ich mich sagen und entrolle den Stapel mit den Flyern. »Willst du einen mitnehmen?« Meine Mutter sieht kurz von ihrem Handy auf, als wäre es ein epochales Ereignis, dass endlich mal wieder jemand an meinem Stand stehen geblieben ist.

Wortlos greift der Junge nach dem Flyer. Seine Hand zuckt zurück, als er meine Finger bemerkt.

»Ist nicht ansteckend«, will ich am liebsten rufen, da hat er mir den Flyer über die Eisbären-Patenschaft bereits abgenommen.

»Echt schlimm«, murmelt er wieder. »Voll schlimm.« Er schnaubt zweimal durch die Nase. Klingt irgendwie komisch.

Ich will etwas sagen, meine einstudierte Rede vorbringen, da bemerke ich das Schmunzeln um seine Mundwinkel.

»Klimawandel, das geht uns alle an, da muss man echt was tun.« Er sieht kurz auf, sein Blick fällt auf meine Mutter. »Du bist oft hier, oder?«

»Ja, jeden Nachmittag, direkt nach der Schule.« Wieso fragt er mich das? Mein Bauch beginnt zu grummeln.

Er nickt und vertieft sich wieder in den Flyer. Ich habe nicht das Gefühl, dass er wirklich liest.

Da klingelt das Handy meiner Mama.

»Dr. Finsmann hier«, meldet sie sich, nachdem der Klingelton den halben Parkplatz beschallt hat. »Hi Vince … oh, Sie sind in Deutschland?! … Ja, das ist richtig … ich … Was? Warten Sie … im Ernst? Können Sie mir ein Foto … ach so, Sekunde, ich schau mal nach.« Sie nimmt das Handy vom Ohr, blickt auf das Display (deshalb telefonieren die Kids meiner Generation nie am Ohr) und schreit auf. »Das ist … Wahnsinn. Ja, das könnte tatsächlich aus … ja, Doggerland … späte Epoche, vor dem Untergang … Natürlich, ich bin schon unterwegs.«

Meine Mutter springt auf, läuft um den Stand herum und nimmt dabei den halben Tisch mit. »Leychen, ich muss los.« Sie streicht mir die blaue Haarsträhne aus der Stirn und drückt mir einen nassen Kuss auf. »Das Institut – Eric ist auch schon da – oh mein Gott, dieser Fund ist revolutionär. Es wird sicher spät. Im Kühlschrank … ach, du kannst das alleine. Und bleib vom Zimmer deines Bruders fern. Hab dich lieb!«

Ich blicke ihr nach, wie sie vom Parkplatz rauscht.

»Nice Mum«, sagt der Junge. Ich hatte ihn fast vergessen. »Echt nice.«

Ich verziehe meinen Mund. Ich kenne diesen Blick von Jungs.

»Willst du ein Armband kaufen? Die schmalen kosten 2 €. Alles Geld geht an den Zoo. Die wollen nach der Vergrößerung des Eisbärengeheges auch die Notfall-Station in Alaska renovieren. Dorthin werden die kranken und schwachen Tiere gebracht.« Uff, das waren viele Worte.

Der Junge verzieht den Mund zu einem Grinsen. »Sag mal, kannst du mit diesen Pfoten eigentlich bis zu den Eisbären paddeln, um sie direkt zu retten?« Damit zerknüllt er den Flyer. »Fang!«

Der Papierball prallt an meiner Stirn ab. Hinter dem halb durchsichtigen Häuschen mit den Einkaufswagen gackern mehrere Stimmen los. Also doch. Hat mich mein Gefühl nicht getäuscht.

»Yo, Flossi, pass auf, dass dich auf dem Nachhauseweg kein Bär frisst.«

»Und sauf nicht ab, Mutant.«

Zwei Jungen und der, der den Köder gespielt hat, schwingen sich auf ihre Fahrräder und sausen lachend davon. Einer tritt noch gegen den Karton, der aus dem überquellenden Mülleimer neben dem Eingang zum Supermarkt ragt. Die Pappe fliegt auf die Straße. Ein fetter SUV walzt den Müll achtlos platt. Da habe ich bereits damit begonnen, meinen Stand einzupacken.

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Zwölf Schuss. Muss vorsichtig sein. Hier kann man nicht looten, hier gibt’s kaum Ammo-Kisten. Erst nach links. Zu viel Gestrüpp, kein Durchkommen. Also nach rechts, am Fluss lang. Krasser Sound. Man hört jeden Schritt im Uferschlamm schmatzen. Besser, ich renne. Sonst locke ich diese Viecher wieder an und muss meine ganze Munition verballern.

Ah, ’ne freie Fläche im Wald. Guter Platz für ’ne Rast. Aber kein Feuer für ein Respawn. Könnte daher auch ein Hinterhalt sein. Umschauen … drehen … drehen. Nichts, nur wieder diese albernen blauen Blumen. Echt, da haben die Macher schlampig programmiert, einfach nur Copy & Paste bei der Map. Diese riesigen Baumfarne sind o. k., aber diese blauen Blumen, die gehen gar nicht. Die sind überall. Und wenn man in so eine Wiese reinrennt, färben sich sogar die Schuhe blau.

Shit, war das ein Brüllen? Yeah, da kommen sie. Doch ’n Hinterhalt.

Ich drehe mich in einem Halbkreis von links nach rechts, während meine AX212 die Angreifer ummäht. Jeder Schuss sitzt. Die Detonationen der Explosivgeschosse sorgen für ordentlich Collateral Damage in der Botanik. Üble Monster, diese Säbelzahnkatzen. Sie bleiben so lange in Deckung, bis sie auf 1–2 Schritt an mir dran sind. Dann springen sie, die Krallen vorgestreckt, das Maul mit den langen, weißen Eckzähnen weit aufgerissen. Als ich noch ein Noob bei EgoBlastIV-Mesolithic war, habe ich mir bei dem Brüllen fast in die Hose gemacht und bin jedes Mal abgekackt, wenn die Biester im Rudel angegriffen haben. Aber diese Zeit ist vorbei. Jetzt bin ich ein Pro mit geilen Skills: Stufe 58 Hunter, Schnelligkeit auf 87%, Konstitution 83%. Die AX212-Blasterarmbrust liegt auf 4 von 5 Punkten und macht ordentlich Damage. »Hey Babes, hier ist LexTheM@x!«

Erst die Lichtung clearen, dann die Überreste looten. Ich brauche die Zähne, um meine Armpanzerung upzugraden.

Die beiden übrigen Pfeile gelten dem BOSS, einer Riesenkatze, die sich für gewöhnlich als Letzte in den Kampf wirft. Ich ziele, atme aus, mein linker Mittelfinger legt sich auf L1 des Controllers, mit dem rechten Daumen am Stick lasse ich das Fadenkreuz über die dunkle Stelle im Dickicht schweben, wo ich den Angreifer vermute. Ich warte, meine Handflächen schwitzen vom Zocken.

OMG!, die riesige Katze fliegt in Slowmo heran, glänzt silbern im Mondlicht – derbe Grafik. Ich drücke zwei Mal ab, die Pfeile finden ihr Ziel. Krasser Headshot. Sie prallt gegen einen Baumstamm, jault noch einmal auf, Blätter regnen herab. Gotcha!

Mit diesem Sternenregen-Sound erscheint oben links auf dem Screen der Hinweis, dass ich eine Trophäe erhalten habe. Endlich. Nun habe ich genug prähistorische Tiere für True Monsterhunter gekillt. Ob das reicht? Ich switche ins Menü und checke meinen Creditstand. 12 189. Passt!

Die NERF-Armbrust kostet 12 000 Credits. Leider kann ich nur die Variante mit 20 und nicht die ultrarare mit 40 Pfeilen kaufen, aber ich will nicht mehr warten. Sonst schnappt mir jemand dieses limitierte Epic weg. Ich save die Nachbildung der AX412-Armbrust in den Warenkorb, gebe die Adresse meiner Eltern ein und will schon auf Checkout klicken, als mir einfällt, dass ich diesen Gain noch der Welt zeigen muss.

Ich checke meine Haare (das Gel hält), hocke mich vor den Fernseher und pose mit ausgestreckten Fingern vor meiner neuen Trophäe. Jetzt noch den Anti-Pickel-Filter auf das Foto, eine kurze Beschreibung, ein paar Hashtags. Fertig!

Ich starre auf mein Handy und warte. Nach wenigen Sekunden kommt der erste Like, wie immer von EmLY08.

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Ein Video für YouTube zu schneiden ist nicht einfach. Wenn dein dämlicher Zwillingsbruder im Zimmer nebenan allerdings auf voller Lautstärke (und ohne Kopfhörer) sein stumpfsinniges Ballerspiel zockt und dich nur eine dünne Wand von ihm trennt, dann ist das fast unmöglich.

Seit einer Woche sitze ich an »Das große Sterben – Diese Tiere gibt’s nicht mehr«. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, welche der vielen Arten, die in den letzten hundert Jahren von der Bildfläche verschwunden sind, ich auswählen soll. Den Chinesischen Flussdelfin und das Westafrikanische Spitzmaulnashorn muss ich erwähnen, den Tasmanischen Tiger auch. Aber wer kennt schon den Kleinen Kaninchennasenbeutler oder die Weihnachtsinsel-Zwergfledermaus?

»Jetzt mach den Mist leiser, Lex!«, brülle ich.

Es kommt nicht die gewünschte Antwort. Stattdessen ruft Mama zum Abendbrot.

»Der Test wird noch mal wiederholt, aber die erste C14-Untersuchung hat ergeben, dass die Knochenharpune über 8000 Jahre alt ist.« Papa ist ganz aus dem Häuschen. Er hat noch nichts vom Abendbrot angerührt, dabei gibt es heute Flussbarsch mit Salzkartoffeln, sein Lieblingsgericht. »Und das bedeutet, dass unser Forscherteam die Ausdehnung von Doggerland unterschätzt hat. Die Harpune wurde von Fischern unweit der Stadt Grimsby aus dem Wasser gezogen. In Nordengland. Das ist der nördlichste Fund bisher. Und der größte. Ihrer Struktur nach ist sie aus Horn, ich tippe auf Rothirsch.«

Da ist es wieder – das Lieblingsthema meiner Eltern. Seit sie in dem internationalen Team um Mr Gaffney arbeiten, besteht ihre Welt nur noch aus Doggerland, Doggerland, Doggerland. Das ist ein noch ziemlich neues Forschungsgebiet. Wenn man allerdings meinen Zieheltern glauben kann, dann werden die Erkenntnisse nicht weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit revolutionieren. Denn dort, wo heute die Nordsee fließt, gab es früher Land. Viel Land. Besiedeltes Land.

»Vielleicht sogar Cervalces scotti, Eric«, wirft Mama ein. »Sein Geweih war noch um ein Vielfaches größer.«

»Megaloceros? Ich bin mir nicht sicher, ob die Doggerländer tatsächlich Riesenhirsche gejagt haben«, entgegnet Papa und fängt nun endlich auch an zu essen. »Aber möglich wäre es. Schon die gewaltigen Geweihenden dieser großen Tiere gäben passable Waffen ab.«

»Yo, solche Riesenviecher bringen viele Points.« Lex spricht mit vollem Mund. »Fell und Geweih lassen sich für ordentlich Credits verticken. Außerdem regeneriert mein Jäger durch ’ne Fleischkeule viel schneller Lebensenergie.«

»Spielkind, du redest von einem Videogame und nicht der Realität.« Ich schiebe den Fisch auf meinem Teller an den Rand (ich mag’s nicht, wenn Mama mir aufschöpft) und begnüge mich mit Salzkartoffeln und Rucolasalat.

»Tatsächlich haben die Bewohner der Steinzeit viel weniger Fleisch konsumiert, als die meisten Menschen heute glauben«, sagt Papa schnell, bevor es zwischen mir und meinem Bruder wieder knallt. »Das hier«, er deutet auf seine fischbestückte Gabel, »stand zumindest in der Mittel- und Jungsteinzeit viel häufiger auf der Speisekarte als Auerochse oder Hirsch. Außerdem aßen die Menschen sehr viel Gemüse und Früchte. Und Nüsse. Besonders Haselnüsse.«

»Nutella rulez the world.« Lex grinst.

»Im Gegenteil: Die Palmölindustrie …«, hebe ich an.

»Och, nicht schon wieder die Leier«, stöhnt mein Bruder theatralisch auf. Er beugt sich über den Tisch und will sich einen weiteren Barsch mit der Gabel angeln.

»Hey, langsam, Sohnemann. Du hattest deinen Anteil.« Lachend zieht mein Vater die Fischplatte zu sich.

»Paps, ich muss essen. Ich bin im Wachstum. Und nenn mich nicht immer Sohnemann. Wir haben das Jahr 2020.«

»Schon gut, Buddy, hau rein.« Er schiebt den Fisch wieder in Lex’ Richtung. »Sei froh, dass du dein Essen nicht selbst jagen musst.«

»Oder zubereiten«, ergänzt meine Mutter.

»Könnte er beides nicht«, nuschele ich. »Dafür müsste er ja seinen Controller aus der Hand legen.«

»Ach, Dumbo, und du kannst kochen, oder was?«, geifert Lex zurück.

»Leute!« Mama funkelt meinen Bruder und mich an. »Dass ihr immer herumsticheln müsst. Können wir euch überhaupt ruhigen Gewissens zu Oma und Opa schicken? Die alten Herrschaften ertrinken noch in eurem Meer aus Streit.«

Ich verdrehe die Augen.

»Ich habe gleich gesagt, deine Eltern packen das in ihrem Alter nicht mehr«, textet mein Vater weiter. »Zehn Tage in den Sommerferien, das ist zu lang. Also ich bin immer noch dafür …«

Ich höre nicht weiter zu und stochere in meinem Salat herum. Massentierhaltung und Plastikmüll, Kohle- und Atomkraft, Monokulturen an Land und im Wasser, Verschwendung von Lebensmitteln, Wegwerfmentalität bei Technikprodukten und alle Jahre wieder der Black-Friday-Rausch – wir Menschen machen es dem Planeten mit unserem Konsum nicht leicht. Und das nicht erst seit gestern.

Die plötzliche Stille am Abendbrottisch schreckt mich aus meinen Gedanken. Unsere Zieheltern sehen sich stumm an. Sehen sich lange an. Zu lange. Oje, ich kenne diesen Blick. Wenn sie ihn auspacken, dann herrscht zwischen ihnen dieses Erwachsenen-Ding, diese unausgesprochene Übereinstimmung, die nur bei sehr guten Freunden oder sich Liebenden vorkommt. Unweigerlich ziehe ich den Kopf zwischen die Schultern und schiele verstohlen zu Lex. Der scheint von der plötzlichen Stille nichts mitbekommen zu haben und schaufelt sich weiterhin seelenruhig toten Fisch in den Mund.

»Also versuchen wir es, Irene?«, fragt Papa lang und gedehnt, als würde er jetzt schon den Einspruch wittern.

Mama dreht sich ihre langen Haare zu einem Dutt auf, wie immer, wenn sie etwas Kompliziertes anpacken will. »Also gut, Eric.«

»Prima.« Papa springt vom Tisch auf. »Dann ist es beschlossen. Keine Ferien bei Oma und Opa: Ihr beide kommt mit auf die RV Belgica!«

Ich lasse mein schmerzvollstes Stöhnen hören. Endlich hat auch mein Schnellmerker-Bruder geschnallt, was hier gerade abgeht.

»Die RV was? Das olle Schiff, auf dem ihr arbeitet, wenn ihr … och nö! Nein, wir kommen nicht mit! Die Sache mit Oma und Opa war doch schon save.«

»Ihr wisst nicht, was ihr verpasst: England, die raue See, der Wind um die Nase, und unter Wasser eine verborgene Welt. Das wird ein großes Abenteuer.« Während Papa das sagt, fuchtelt er mit seiner Gabel durch die Luft, als kämpfe er gegen ein imaginäres Seeungeheuer.

Abenteuer. Alles, was ich in den Sommerferien will, ist Ruhe. Für meine eigenen Projekte. Auf meinem Zimmer. Ich will nicht ans Meer und auf ein Schiff voller komischer Wissenschaftler! Ich hoffe, ich kann mich in irgendeiner Kajüte verkriechen und lesen.

Lustlos wühle ich in meinen Klamotten-Schubladen. Was zieht man an auf einem Schiff? Regenjacke, Gummistiefel? Das Jurassic-Park-T-Shirt muss auf jeden Fall mit.

Etwas klackert unten in der Schublade. Ich grabe mich durch die Ecke mit den Socken und entdecke eine Kette. Drei schwarze Dreiecke, daumengliedgroß, baumeln an einem Lederband.

»Wo kommst du denn her?« Ich ziehe das verschlissene Band hervor. Es ist so dünn, dass es sicherlich bald reißen wird. Die Dreiecke sind Zähne. Von prähistorischen Haien. »Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen.« Ich reibe mit den Fingern über die scharfen Schneiden der Zähne.

Es war im Sommerurlaub. Im Süden der Niederlande, nahe der belgischen Grenze. Beim Strandspaziergang habe ich die Kette im Sand gefunden. Damals war ich sechs Jahre alt. Meine Eltern meinten, dass sie bestimmt ein anderer Urlauber verloren habe. Strandgut darf man jedoch behalten. Natürlich habe ich mich zuerst mit Lex darum gestritten. Aber es war mein Fund. Den ganzen Sommer lang habe ich die Kette voller Stolz getragen und mir Geschichten über ihre Herkunft ausgemalt.

Ich lege mir die Haizahnkette um den Hals. Seltsam, wie einem manche Dinge im Leben zweimal begegnen.

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Ich rieche den Rauch, bevor ich das Speerhaus betrete. Der Gestank von verbranntem Baumblut hängt über unserem Dorf, er klebt auf der Haut, haftet in Haaren und Kleidern. Und hier, vor dem Haus des Häuptlings, dem einzigen in unserem Dorf aus Pfahlhäusern, das nicht im Wasser steht, hier ist der süßlichschwere Geruch am stärksten.

Mein Nacken kribbelt – sie ist hier. Sie lässt ihn kaum noch aus den Augen. Wenn mein Vater mich sprechen will und sie ist auch dabei, bedeutet das nichts Gutes.

Ich zögere, bevor ich die Tür aus Holz, Fischbein und Muscheln aufziehe. Leichter Regen klopft auf die Tierhäute, die das Dach des Speerhauses bedecken. Alle anderen Häuser tragen Dächer aus Flussgras. Das ist einfacher zu beschaffen. Nur der Häuptling darf sein Langhaus mit Leder vor dem Wasser des Himmelsmeeres schützen.

So viele Schritte wie Finger meiner beiden Hände sind es bis zum Stein; dem großen Stein, auf dem mein Vater sitzt. Ich spanne meine Arme an, mache meine Brust weit. Ich will wie ein furchtloser Wildbeuter gehen und nicht wie ein Kleinmann springen, nur weil ich froh bin, meinen Vater endlich sehen zu dürfen. Ich spähe in die Schatten des Speerhauses. Heute brennen hier keine Feuer. Die meisten Männer und Frauen meines Stammes sind draußen auf den Flüssen, mit Reusenflechtereien oder dem Zerlegen der Fänge beschäftigt. Und doch spüre ich Augen, die mich aus der Dunkelheit mustern. Ich drücke den Rücken durch, schiebe mein strohfarbenes Haar unter das Stirnband – ich habe es mir vor einem Mond aus der Haut eines Speerkopfes geschnitten – und hebe das Kinn. Jede meiner Bewegungen muss zeigen, dass Alif keine Furcht kennt, schon gar nicht vor ihr.

Mein Vater hockt auf dem Stein. Sein Blick ist auf den Rotspeer auf seinen Knien gerichtet. Nur der Häuptling der Tashi darf die Waffe mit dem roten Stein berühren. Zu Füßen meines Vaters liegen die beiden Graupelze. Sie heben den Kopf und knurren, als ich näher komme. Ich mag sie nicht. Es steckt noch zu viel Wildnis in ihnen.

Mit hoch erhobenem Kopf richte ich meine Augen auf die Steinspitze des Rotspeers.

»Lass das, Alif, du läufst wie ein Ganknog.« Mein Vater späht durch seine zerzausten strohblonden Haare und rutscht auf dem Stein hin und her. Seit ein paar Monden liegt der Schwarzpelz, den er erlegt hat, auf dem Stein, aber dennoch ist der Häuptlingsstein immer kalt. Ich will mir einen wärmeren Sitz suchen, werde ich den Stamm einmal führen.

»Du wolltest mich sehen, Argor?« Ich mache eine kleine Verbeugung. Es schmerzt etwas, dass mich mein Vater mit einem Ganknog vergleicht. Diese großen weiß-schwarzen Vögel schreiten auf langen Stelzen durch die nassen Wiesen, auf der Suche nach Fröschen und Fischen. Immerhin gilt das Auftauchen dieser Vögel als Zeichen, dass einem die Geister der Erde wohlgesonnen sind.

»Wir wollten dich sprechen.« Die Augen meines Vaters, Häuptling Argor vom Stamm der Wasserläufer, huschen auf die Seite meiner Pfeilhand, in die dunkle Tiefe des Speerhauses.

Dort also lauert die Schlange. »Wenn es darum geht, dass ich mit dem Bogen …«, beginne ich meine Gegenwehr.

Argor bringt mich mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. Er stößt das stumpfe Ende des Rotspeers auf den Boden und richtet sich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen von seinem Stein auf. »Sie hat die Erdgeister befragt«, sagt er mit leiser Stimme, und dennoch erfüllt sie den ganzen Raum. »Die Zeichen stehen gut.«

Sofort rennt mein Herz. Doch ich wage nicht, meinen Vater noch einmal zu unterbrechen.

»Du wirst eine neue Gelegenheit erhalten.« Er streicht sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht. »Mein Erstsohn darf auf die Hatz und zeigen, ob er bereit ist für den Kreis der Wildbeuter. Ob er endlich ein ganzer Mann ist.«

Falsche Geister treiben mir Wasser in die Augen. Eilig blinzele ich die Tropfen weg. Keine Schwäche zeigen. »Danke, Vater«, sage ich und ärgere mich, dass meine Stimme leicht bricht. »Ich werde dich nicht wieder enttäuschen. Da bin ich mir sicher.«

»So? Bist du das?« Schlangengleich und doch wie warmes Wasser kriecht eine Stimme hinter mir heran.

Sofort versteife ich mich wieder. Der stechendsüße Odem des gelben Baumblutes umfließt mich. Ich zwinge mich, nicht zu atmen. Aber ich muss mich umdrehen.

Die Schamanin steht weniger als ein Speermaß entfernt hinter mir. Sie hält ihren Kopf mit dem kurzen Speerkopf-Geweih leicht gesenkt. Ihre Augen heften sich wie Egel auf mich.

Ich weiche zurück, als sie ihre Rauchlaterne hebt. Das Feuer, das die Baumblutsteine im Inneren zerfließen lässt, flackert auf. Die Flammen werfen ein eigenartiges Licht auf das blassblaue Schuppenleder, in dem ihre Finger bis zu den Ellenbogen stecken.

»Jórunn«, presse ich mit wenig Luft hervor. »Ich bin bereit für meine erste Hatz.«

»Wir werden sehen«, krächzt sie und saugt den Rauchfaden aus ihrer Laterne zwischen braunen Zähnen ein.

Ich schlage die Augen nieder. Kaum einer kann dem Blick unserer Schamanin lange standhalten. Selbst der Häuptling gibt sich in Jórunns Nähe wie Eis im späten Jungmond.

»Ja, wir werden sehen, Alif«, meldet sich die Stimme meines Vaters zurück. Er lehnt den Rotspeer gegen den Häuptlingsstein, steigt über seine knurrenden Haustiere und kommt auf mich zu. Er legt seine Hand auf meine Schulter. Müde Augen tasten mich ab. Ist das Schwermut in seinem Blick? Oder Zweifel? »Du darfst die Prüfung erneut antreten. Allerdings …« Bevor ich etwas sagen kann, dreht mich mein Vater zur Seite und deutet auf den hinteren Teil des Speerhauses, den Teil, der mit vielerlei Tierhäuten abgehängt ist. »Auch mein anderer Sohn soll beweisen, dass er ein ganzer Mann ist. Jórunn will es so.«

Vater, nein, wispere ich, nur in Gedanken.

»Tritt heraus, Shaggabug!«, fordert Argor.

Der Vorhang hebt sich nicht. Shagga ist vorsichtig. Er weiß, dass Jórunn hier ist. Ich höre, wie mein Vater seufzt. Da bin ich schon an ihm und dem großen Stein vorbei, und schlage das Leder beiseite.

»Komm, Shagga«, sage ich sanft und strecke meine Finger in das Dunkel. »Versuchen wir es zusammen. Erneut.«

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»Vier Tage! Vier Tagen hocken wir schon in diesem englischen Kaff. Wenn die nicht bald einen WLAN-Mast im Hafen aufstellen, sterbe ich vor Langeweile.«

Kommt nicht oft vor, aber ich kann Leya gerade echt verstehen. Eigentlich hätten wir längst auf Mr Gaffneys Kahn sein müssen. Die Arbeiter klöppeln Tag und Nacht an dem alten Schiffsmotor herum und seitdem hängen wir und die anderen Leute von der Expeditionscrew in diesem Dorf namens New Kilnsea rum.

New – voll der Hohn. Hier gibt’s eine Handvoll Häuser und ansonsten nichts. Nur alte Leute, hauptsächlich Fischer. Sie alle hocken nach der Arbeit im »Fisherman’s Spear« und diskutieren lautstark über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Ich dachte, im Gamer-Chat geht’s aggro ab, aber das ist ein Ponyhof gegen das, was die Fischer jeden Abend im Pub ablassen.

»Two cokes, guys.« Die Wirtin stellt unsere Getränke ab und wirft Leya einen kritischen Blick zu. »Eine ohne Zucker. Und ohne Strohhalm.«

Auch an diesem Nachmittag hängen wir im Pub ab und zocken Darts an dem abgenudelten Board.

Ich genehmige mir drei Schlucke, dann peile ich mit meinem letzten Pfeil Bullseye an. Ich brauche Points. Leya zerstört mich, ich liege hinten. Mit einem satten Flock! landet der Dartpfeil im Kork. Neben dem Board. Ich muss unbedingt an meinem Rechtsdrall arbeiten.

»Tja, in der Steinzeit wärst du jetzt schon tot«, gibt mir meine Schwester Beef. »Da überlebten nur die, die was draufhatten, die am besten angepasst waren.«

»Haha, lustig, Fräulein Coke Zero«, gifte ich zurück. »Schon gemerkt? Das hier ist nicht Doggerland.«

»Dieses Dogger… Doggerland, was ist das eigentlich?«, schaltet sich die Wirtin, schon wieder hinter der Theke, ein. »Im Fisherman’s erzählt man sich ja viel, aber bis ihr und eure trinkstarken Forscherfreunde hier eingefallen seid, habe ich noch nie von diesem Land gehört.«

Beinahe beiläufig wirft Leya ihren nächsten Dart. Double 10. Herrje, bin ich ein Lamer.

»Die wenigsten Menschen wissen davon. Mama und Papa sagen immer, Doggerland sei ein noch ziemlich neues Forschungsfeld. Aber wenn darüber weiterhin so gute Erkenntnisse gesammelt werden, müssen in ein paar Jahren die historischen Karten Nordeuropas geändert werden.«

Ich seufze. »Beantworte einfach die Frage, Professor Finsmann!«

»Oh, sorry.« Leya nippt an ihrer Cola. »Also: Doggerland war ein Land. Ein sehr großes Land. Dort, wo heute die Nordsee ist. Da soll es weite Grasflächen und Wälder gegeben haben, fruchtbare Flusstäler, Moore und sogar niedrige Berge.«

»Wälder, sagst du? Bloody hell.« Die Wirtin wischt sich die blonden Locken aus der Stirn. »Man konnte also von Europa, ich meine, vom Festland trockenen Fußes bis in unser Königreich stiefeln?«

»So ist es.« Leya zielt mit ihrem zweiten Dart. »Ich glaube, die Themse, der Rhein und andere europäische Flüsse mündeten sogar in ein gemeinsames Flussdelta.« Ihr Pfeil landet auf dem Feld mit der 13.

»Und wann genau soll das gewesen sein?«, mische ich mich in Leyas Referat ein. Vielleicht kann ich ihre Konzentration stören und damit ihre Siegesserie stoppen.

Leya runzelt die Stirn. Ihre dämliche blaue Haarsträhne rutscht hinter ihrem Ohr hervor. »Mittwoch, Lex, vielleicht auch erst am Montag.«

Flock! Triple 20 – ihr letzter Dart hat das rote Feld knapp über der Mitte der Dartscheibe, den inneren Ring bei der Zahl 20, getroffen. 60 Punkte auf einen Streich – verdammt, jetzt kann ich sie nicht mehr einholen.

Leya grinst mich an und wendet sich wieder der Wirtin zu. »Nein, das mit Doggerland ist 10 000 Jahre her. Das war in der Steinzeit: Feuerstein, einfache Hütten, Säbelzahnkatzen und Mammuts.«

»Und dieses Doggerland ist irgendwann einfach so mit Maus und Mammut abgesoffen?« Die Wirtin kommt langsam wieder hinter ihrer Theke hervor; wie so’n scheues Tier, das wagt, seinen Bau zu verlassen.

»Soweit ich weiß«, fährt Leya fort, »begann der Untergang nach der letzten Eiszeit, als durch den Klimawandel der Meeresspiegel weltweit langsam anstieg.«

»Wie heute«, bemerke ich, ohne Häme. Ich weiß, wie sehr meine Schwester an ihrem SaveThePlanet-Ding hängt.

Leya nickt. »Aber das war noch nicht alles. Weil die Gletscher im Norden Doggerlands schmolzen, verteilte sich das Gewicht auf der gesamten Landmasse anders. Wie bei einer Waage hob sich der Norden Doggerlands, während der Süden, der größte Teil, langsam versank.«

»Gruselig«, sagt die Wirtin und ignoriert, dass ein alter Mann gerade an die Theke wackelt, um etwas zu bestellen.

Leya zuckt mit den Schultern. »Es gibt noch eine dritte Theorie, die den Untergang Doggerlands erklären will: Ein Monster-Tsunami, ausgelöst durch einen gewaltigen Erdrutsch in Norwegen.«

Die Wirtin lacht. »Monster? Aber mal im Ernst. Dass das Meer nimmt und gibt, erinnert mich an eine alte Legende, die sich die Fischer hier erzählen.«

»Hey Jodi, bekommt man jetzt noch sein Guinness oder muss ich zu Hause die Flasche aufmachen?« Der alte Mann vor der Theke will bereits zum Zapfhahn langen.

»Hör einer an, wer seine Stimme wiedergefunden hat, Archy.« Jodi beugt sich verschwörerisch zu uns. »Interessante Story, das mit Doggerland. Der Stoff für Legenden, die die Zeit überdauern.« Sie zwinkert mir zu. »Das erinnert mich an eine unserer Legenden hier. Ihr Kids seid Zwillinge, oder? Kommt mit, ich muss die Fässer wechseln. Dabei erzähle ich euch eine uralte Geschichte, die zu euch passt.«

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Wir folgen der Wirtin über eine Leiter hinunter in den Fasskeller des Pubs. Der Boden klebt, es riecht nach vergorenem Malz und ich habe das Gefühl, Alkoholdämpfe zu atmen.

»Ich wohne schon mein ganzes Leben in New Kilnsea«, beginnt Jodi, während sie mit geschickten Handgriffen die Schläuche von den Anschlüssen der Cider-Fässer abdreht. »Die Sternenkinder-Legende habe ich das erste Mal mit sechs oder sieben Jahren gehört.« Sie schüttet den Rest, der im Schlauch schwappt, in einen Abfluss im Boden.

Lex hockt sich zögerlich auf den Rand eines Fasses. Ich suche mir ebenfalls einen möglichst klebfreien Sitzplatz.

»Einst gab es ein Sternenpaar«, beginnt Jodi, während sie an den Fässern hantiert, »zwei Sterne, die am Firmament wohnten. Sie glichen einander so sehr und standen so nah beieinander, dass man sagte, ihre Hände und Finger wären miteinander verschmolzen.«

Lex wirft mir einen stirnrunzelnden Blick zu.

»Aber sie waren glücklich«, erzählt Jodi weiter und klinkt den nächsten Schlauch aus. Limonade ergießt sich über ihre Schuhe. »Glücklich und zufrieden. Und dennoch wurde ihnen alsbald langweilig.«

»Kenne ich«, wirft Lex ein.

»Also verließen beide Zwillingssterne ihren Platz am Firmament und wanderten Hand in Hand zur Erde herab. Sie segelten über die Weltmeere, streiften durch die Länder und ihr Licht schenkte den Menschen Wissen, von dem sie zuvor nicht einmal geträumt hatten.«

»Was für Wissen?«, frage ich mit leichter Gänsehaut. Der Kasten mit den leeren Flaschen unter meinen Füßen klimpert.

»Na … göttliches Wissen. Die Geheimnisse des Universums.« Jodi lacht. »Das, was Otto Normalo eben nicht wissen sollte.«

»Das gab sicher Ärger«, sage ich.

»So ist es. Der Vater der Sternenkinder, der allmächtige Himmelsfürst, war sehr erzürnt über ihr Fortgehen. Also schleuderte er ihnen Felsen hinterher.«

»Asteroiden«, übersetzt Lex.