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Über das Buch

Endlich Sommerferien! Wie jedes Jahr freut sich die 13-jährige Nelly auf die Zeit auf dem Islandpferde-Hof ihrer Oma. Doch diesmal ist alles anders: ihre nervige Cousine Aurelie und der besserwisserische Praktikant Matti sind auch da und Nelly erfährt, dass ihre Oma vielleicht ihre Pferde verkaufen muss! Ihren einzigen Trost findet sie in dem mysteriösen Tagebuch des Jungen Nonni, der einst von Island herzog. In diesem findet Nelly ein Rätsel, das zu einem versteckten Wikingerschatz führen soll. Ist das die Rettung für den Hof ihrer Oma?

Perfekte Sommerlektüre für alle, die Pferde lieben!

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Inhalt

Sommerflimmern

Eisscholle voraus

Zauberhafte Zeilen

Zuckerfurz

Masterplan

Ein Pferderücken kann auch entzücken

Überraschungseier

Entdecke den Wikinger in dir!

Die wahre Nelly?

Von Göttern und Mädchen

Schlaflos unter Sternen

Eine Bombenstimmung

Der Wikinger in dir

Bei den Göttern!

Ein Donnerwetter kommt selten allein

Böses Erwachen

Wie man seinen Kopf verliert

Den Kopf unter Wasser

Gefallene Königreiche

Das Ende eines Sommers

Sommerflimmern

Was für ein Tag! Es ist Mitte Juli, die Sommerhitze hat mich schon früh aus dem Bett getrieben, obwohl Ferien sind. Und ich kämpfe gegen die Müdigkeit, während Papa mich mit dem Auto zu Oma Hildes Hof fährt. Wir passieren die Allee mit den alten Eichen und hoppeln über Kopfsteinpflaster. Nur noch wenige Meter und wir biegen auf die Einfahrt. Innerlich zähle ich einen Countdown: acht, sieben, sechs …

Die Sonne knallt vom Himmel, die Klimaanlage unseres Vans kommt gar nicht dagegen an. Ich kann es nicht erwarten, endlich auszusteigen. Fünf, vier, drei … der Wagen fährt durch das schmiedeeiserne Tor mit den springenden Pferden aus Stahl.

Einige Islandponys stehen auf dem Paddock vor dem mit Rosen bewachsenen Stall und schauen interessiert zu uns herüber. Zwei, eins … und der Wagen hält neben der großen Scheune. Ich könnte ausflippen vor Glück und rutsche unruhig auf dem Beifahrersitz herum. Es ist einfach zu schön hier. Die vielen Blumen, die das alte Fachwerkhaus schmücken, sehen aus wie aus einem Märchen. Und als Omas Pfauen, allen voran Mister Perigrim, zur Begrüßung die Räder schlagen, ist das Bild einfach perfekt.

»Also, denk dran, Nelly: Du meldest dich einmal täglich bei deiner Mutter, sonst raubt sie mir den letzten Nerv«, holt Papa mich aus meinen Gedanken und stellt den Motor ab.

»Sie wird schon nicht ausflippen, wenn ich mich mal einen Tag später melde«, antworte ich und Papas Augenbrauen schnellen in die Höhe. »Kennst du deine Mutter?«

»Klar, Paps.« Ich lächle, gebe mir einen Ruck und hebe die Finger zum Schwur. »Hiermit verspreche ich feierlich, mich jeden Tag wie ein Kleinkind zu melden. Macht euch keine Sorgen. Ich bin nicht das erste Mal auf Reiterferien«, erinnere ich ihn und streiche mir eine blonde Locke hinters Ohr. Meine Hand findet den Türgriff, aber Papa hält mich an der Schulter zurück.

»Und du bist sicher, dass du ganze vier Wochen hierbleiben willst?« Er macht einen Schmollmund, wie ich, als ich vielleicht vier Jahre alt war und etwas nicht einsehen wollte. So, wie wenn ich keine zweite Tüte Schmalzkuchen bekam, weil ich mich sonst ganz sicher übergeben würde.

Ich muss lächeln, weil er immer noch nicht glauben kann, dass ich nicht mit ihm und Mama ans Mittelmeer möchte. Dass ich lieber auf dem Rücken meiner geliebten Fuchsstute Frekja sitze und mit Oma Hilde Mist aus Ställen schaufle. Ganz zu schweigen von dem alljährlichen Ausflug, der bereits nächste Woche ansteht.

Oma erwartet jedes Jahr so einige Feriengäste, die Reiterferien bei ihr machen wollen. Und dann geht es zur alten Wikingerstadt Haithabu, um zu zelten und zu leben wie vor tausend Jahren. Letztes Jahr war ich die unangefochtene Meisterin im Bogenschießen.

Papa stupst mich an, als ich nicht sofort antworte, und forscht in meinem Gesicht. »Na, doch nicht ganz sicher?«, fragt er.

»Da kennst du mich aber schlecht, Papa. Ich bin so was von sicher, wer soll Oma denn sonst helfen?« Ich opfere meiner einer gerne dafür. Und ich liebe es mich als Schildmaid zu verkleiden und zu Pferd abenteuerliche Prüfungen zu bestehen.

»Na gut. Wenn du es dir anders überlegst, du weißt ja, wo du uns findest«, erinnert er mich noch einmal. »Du weißt, das Beistellbett in unserem Bungalow am Meer ist für dich reserviert.« Er zwinkert.

»Ich werde euch doch auch vermissen«, sage ich und drücke ihm einen dicken Kuss auf die haarige Wange. »Aber ich will wirklich hier sein.« Wie eigentlich jedes längere Wochenende oder die Ferien.

Eines der Feuerpferde wiehert auffordernd und Papa gibt sich geschlagen.

Ich steige aus, heiße Luft schlägt mir entgegen und ich tänzle zum Kofferraum. Oma Hilde hat uns entdeckt, kommt winkend auf uns zu, während ich mein Gepäck entlade. Dann drücke ich die kleine Frau mit lilafarbenen Locken ungeachtet der Mistflecken auf ihrer Hose fest an mich. Papa hingegen geht gerne auf Abstand zu Schmutz und ich muss lachen über seine Pingeligkeit. Oma auch, sie sagt immer, Bürohengsten stünde ein Tag mit Mistforken und Schubkarren ganz gut. Doch selbst die Gartenarbeit macht bei uns meine Mama, sie ist da nicht so, sie ist ja schließlich hier auf dem Hof aufgewachsen.

Ich eile zu den Pferden, die erwartungsvoll mit den Hufen scharren. Es riecht einfach wunderbar hier. Nach Heu, Stroh, frischem Pferdemist auf Spänen und Pferdefell. Ich atme tief ein und schließe einen winzigen Moment die Augen.

Mit drei Jahren war ich das erste Mal hier bei Oma Hilde und saß auf einem Pferderücken. Es war Grani, die Graue, auf der ich lernte. Und mittlerweile bin ich eine ziemlich geschickte Reiterin geworden, sagt Oma.

»Hey, meine Schätze«, zwitschere ich und bekomme ein freudiges Brummeln der drei Isländer auf dem Paddock zur Antwort. Plötzlich rumpelt es im Offenstall zu meiner Rechten. Meine Lieblingsstute Frekja hat meine Stimme erkannt und sofort die Futteraufnahme gestoppt, um herauszukommen.

»Meine Süße!«, rufe ich entzückt und lehne mich über den Zaun. Die fuchsfarbene Schönheit beeilt sich, zu mir zu kommen und stupst mich liebevoll mit der rosa Nase.

»Ich bin so froh, dass wir uns wiederhaben. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe«, gestehe ich ihr und schiebe ihr ein Bananenleckerli zu, das sie genüsslich frisst. Die anderen Isis, die mit ihr zusammenstehen, bekommen natürlich auch Leckerbissen. All die schönen Feuerpferde schmatzen. Man nennt sie deshalb Feuerpferde, weil sie von einer echten Vulkaninsel stammen und man sagt, sie seien aus Feuer und Eis geboren. Ich liebe diese Geschichte!

Ich seufze, drücke Frekja einen dicken fetten Kuss auf die Nüstern, klettere über den Zaun und schwinge mich auf ihren Rücken. So etwas würde ich bei keinem anderen Pferd wagen, ohne Zaumzeug und so. Aber Frekja genießt es, als ich meine Hände um ihren Hals lege und mich an sie schmiege. Wir sind eins, zwei Teile eines Ganzen.

Papa und Oma unterhalten sich immer noch über Urlaube, als ich es geschafft habe, mich vorerst von meiner Stute zu lösen. Irgendwann schleppe ich meinen Koffer ins Haus und die Treppe hinauf in den Gästebereich. Mein Herz hämmert wie jedes Mal, wenn ich ankomme, aufgeregt in meiner Brust. So muss sich Liebe anfühlen, kombiniere ich. Liebe bringt das Herz zum Überkochen, sagt Mama.

Ich ziehe mein Gepäck den schmalen Flur entlang, von dem die vielen Gästezimmer abgehen. Ich weiß genau, wie sie alle aussehen. Die meisten haben vier bis sechs Betten und sind mit Kiefernmöbeln ausgestattet. In jedem hängen kleine Wandteppiche, auf denen das Lied der Feuerpferde gestickt ist, und unwillkürlich beginne ich die Melodie zu summen. Ganz am Ende des Gangs erklimme ich die schmale Holztreppe ins Dachgeschoss, wo zwei kleinere Zimmer mit runden Fenstern, die an das Bullauge eines Schiffes erinnern, warten. Das Linke ist mein Zimmer und es sieht immer ein bisschen aus, als würde man sich in einer Kajüte befinden. Es hat ein Stockbett und sogar eine Hängematte und die Vorfreude ist groß, als ich die Türklinke hinunterdrücke. Doch dann erstarre ich zur Salzsäule.

Jemand liegt auf meiner Matratze. Mit schwarzen Stiefeln.

Ich brauche einen Moment, um diesen Jemand als meine Cousine Aurelie zu identifizieren, die ich bestimmt fünf Jahre lang nicht mehr gesehen habe. Sie ist die Tochter von Mamas Bruder, der die meiste Zeit in Frankreich wohnt. Und sie ist ein Jahr älter als ich.

»Hallo?« Ich stehe im Türrahmen, sie hat AirPods in den Ohren und bemerkt mich nicht. Bis ich mit Karacho meinen Koffer vors Bett krachen lasse.

Sie wirbelt herum. Ihre Augen sind mit dunklem Kajal umrandet, ihre sonst braunen Haare haben die Farbe des Gefieders eines Raben. Sie lächelt, doch es ist nicht echt.

»Nelly, du hast dich ja gar nicht verändert«, begrüßt sie mich mit französischem Akzent und ich bin mir nicht sicher, was ich darauf antworten soll.

»Du schon«, rutscht es mir heraus. Sie könnte von Außerirdischen entführt worden sein. Was auch immer die mit ihr angestellt haben …

»So wie es aussieht, werden wir zauberhafte Ferien miteinander verbringen«, meint sie. Die Ironie des Ganzen springt mir quasi ins Gesicht.

»Schön, freut mich. Aber davon weiß ich ja gar nichts.« Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hätte das gerne vorher gewusst. Denn bei unserer letzten Begegnung hatte sie mich Très stupide genannt, was so viel heißt wie sehr dämlich. Ich hab’s nachgeschlagen. Und das nur, weil ich ihr Lieblingsbuch nicht kannte.

»Guck nicht so stupide und mach es dir gemütlich«, sagt sie zu mir und dreht ihre Musik wieder voll auf. Ein monotoner Bass dringt zu mir herüber, deprimierend und laut.

»Hey«, versuche ich zu ihr durchzudringen und stupse sie an ihrem Stiefel. »Du liegst auf meinem Bett. Können wir bitte tauschen?«, frage ich kleinlaut. Sie ignoriert mich. Ich stupse noch mal.

»Was?!«, knurrt sie, ihre Augen ziehen sich zusammen.

»Das ist mein Bett.« Ich verfluche es, dass meine Stimme sich anhört wie das Piepsen einer Maus. Aurelie soll bloß nicht denken, ich hätte Schiss vor ihr. Auch wenn sie hier einen auf Satansanbeterin macht. Denn irgendwie erinnert sie mich gerade an einen Horrorfilm, den ich unerlaubterweise gesehen hatte. Meine Cousine trägt doch tatsächlich ein riesiges Kreuz um den Hals, als wolle sie sich selbst exorzieren.

»Pardon, du Model«, bekomme ich zur Antwort und sie verlagert ihren knochigen Hintern auf die obere Etage. »Bon. Jetzt alles gut, Ihre Majestät?« Sie grinst und ich streiche Schmutz von meinem Bett. Sie hat es total vollgekrümelt.

»Warum nimmst du nicht das andere Zimmer nebenan?«, will ich wissen. Ich meine, Oma kann doch unmöglich wollen, dass wir uns hier die Augen auskratzen. Und ich fürchte, so etwas Bedauerliches könnte geschehen, denn wir passen einfach nicht zusammen. Das weiß ich jetzt schon.

»Geht nicht, da zieht der Praktikant ein«, unterrichtet mich Aurelie und mustert mich von oben bis unten. Ihr Mundwinkel zuckt spöttisch. »Du stehst also immer noch auf Rosa mit Glitzer?«, stellt sie fest.

Ich bereue sofort, dass ich nur die alten Klamotten eingepackt habe. Aber Mama bestand darauf, weil die Neuen zu schade fürs Reiten seien, sagt sie. Ich sehe das natürlich ganz anders, aber man setze sich mal gegen seine eigene Mutter durch.

»Na ja, die Modepolizei bist du ja wohl auch nicht gerade. So farbenfroh, wie du gekleidet bist. Ganze vier Schwarztöne, was?«, frotzle ich und die Tür in meinem Rücken öffnet sich, als Oma Hilde zu uns hereinweht.

»Holla die Waldfee, Mädels, hier ist aber dicke Luft drin«, zwitschert sie gewohnt vergnügt, tänzelt durch den Raum und öffnet umgehend das kleine Fenster. »Im Sommer wird es hier wirklich sehr kuschelig, was?« Sie lächelt. Oma hat ja keine Ahnung, wie dick die Luft hier ist. Sie legt ihren Arm um mich, küsst meinen blonden Schopf und tätschelt mit der freien Hand Aurelies Fuß, der über den Rand der Matratze vom Hochbett guckt.

»Ich freu mich so sehr, dass ich diesen Sommer die Unterstützung von gleich zweien meiner Enkel bekomme«, meint sie und knufft mich. »Es macht dir doch nichts aus, dein Zimmer zu teilen, Nelly?«, fragt sie und guckt mich so hoffnungsvoll an, dass ich nichts Gegenteiliges sagen kann. Auch wenn ich gerne möchte. Denn meine Ferien hier sind mir heilig. Hier kann ich aus mir herauskommen und sein, wer ich bin. Und ich hab auf dem Hof sogar was zu sagen, werde oft um meine Meinung gefragt und in Entscheidungen mit einbezogen. Nicht wie in der Schule, wo beinahe jeder mir über den Mund fährt oder mich nicht ernst nimmt.

Und jetzt das?

Aurelie grinst mich offen an. »Aber natürlich nicht. Nelly hat mir gerade gesagt, wie sehr sie sich freut, mich endlich mal wieder zu sehen«, sagt sie. Mein Lächeln friert trotz der Hitze hier oben ein.

»Das sind doch die besten Voraussetzungen«, freut sich Oma und ihre Wangen beginnen, aufgeregt zu glühen. Dann lässt sie mich los und klatscht in die Hände. »Heute Abend gibt’s Hähnchen und Kartoffelsalat. So wie ihr ihn liebt, mit Petersilie und Ei«, verkündet sie.

»Ich bin Vegetariern«, meint Aurelie, ohne Oma anzuschauen.

»Oh, wie schade.«

»Also, ich freu mich. Du bist die Beste, Omi«, sage ich schnell und taxiere meine Cousine mit Blicken. Wie kann man so unhöflich sein?

»Ich zaubere dir einfach noch eine Ofenzucchini, wenn du magst«, schlägt Oma vor und ich entdecke die Kritzeleien auf dem Poster von meiner Frekja an der Wand, das Oma mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat. Diese Kuh hat meinem Pferd doch tatsächlich schielende Augen und einen Schnurrbart verpasst! Und sie hat ihre weißen Beine schwarz gefärbt und Stiefel draus gemacht. Ich verschlucke einen Fluch.

»Nelly, dann pack mal in Ruhe aus und wenn ihr zwei Hübschen so weit seid, dann kommt einfach runter. Dein Papa will auch gleich losfahren und sich verabschieden«, meint Omi, die meinem Blick zum Poster gefolgt war und diesen Frevel ignoriert.

Sie lässt uns wieder allein. Ich öffne meinen Koffer, stopfe Reithosen und T-Shirts in den winzigen Schrank, der bereits voll von Aurelies Dingen ist. Schwarze Kleider, schwarze Jeans, Schwarze Unterwäsche, schwarze … was auch immer.

»Ich muss sagen, ich wundere mich ein bisschen«, beginne ich zögerlich. »Ich dachte immer, du magst keine Pferde.«

»Tu ich auch nicht«, sagt sie lahm.

»Und warum bist du dann hier?«

»Ich will nur mal meine Oma besuchen. Ist dagegen etwas einzuwenden?« Sie lehnt sich an die Wand, verschränkt die Arme und beobachtet mich.

»Quatsch. Erzähl das dem Weihnachtsmann.« Aurelie hatte, so weit ich mich erinnere, noch nie Familiensinn.

Aurelie seufzt theatralisch. »Na, gut. Der Grund ist ja kein Staatsgeheimnis: Ich bin sozusagen verdonnert worden, hier so eine Art Sozialstunden abzuleisten, wenn du es genau wissen willst«, erklärt sie und ich schließe mit etwas viel Schwung den Schrank. Er wackelt.

»Was hast du angestellt?« Ich runzle die Stirn. Als wir noch Kinder waren, wollte sie immer mit mir Beerdigung spielen und mich irgendwo verbuddeln. Ob sie …?

»Guck nicht so. Ich war nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.« Sie runzelt die Stirn, verstaut ihr iPhone in der Hosentasche.

»Aha«, antworte ich ungläubig und möchte mir an die Stirn tippen.

»Eine Freundin hat etwas mitgehenlassen und ich wurde dafür drangekriegt.« Sie zuckt die Achseln und für einen winzigen Moment wird ihr Blick bei der Erinnerung unruhig.

»Tolle Freunde hast du. Meinen Glückwunsch.« Vielleicht hätte ich mir diesen Satz verkneifen sollen, denn es scheint, als sammle sich plötzlich eine Gewitterwolke über dem Kopf meiner Cousine.

»Rede nicht über Dinge, die du nicht verstehst!«, antwortet sie sauer.

»Also, von Freundschaft verstehe ich sehr wohl was. Und wenn man solche Freunde hat, braucht man keine Feinde mehr«, versuche ich es etwas sanfter. Die Luft hier drinnen beginnt zu flimmern.

Meine Cousine erhebt sich, springt vom Bett und ich zucke zurück, als sie auf mich zukommt. Diese Reaktion entlockt ihr ein klares Auflachen. »Immer noch der gleiche Angsthase wie früher?«

Ich straffe mich, recke mein Kinn kämpferisch vor.

»Du weißt gar nichts über mich«, gebe ich zurück und glotze sie blöde an, als sie eine Zigarette aus ihrer Reisetasche angelt und sie ungeniert ansteckt.

»Äh«, mache ich nur und Aurelie stellt sich ans Fenster, pustet grauen Rauch hinaus.

»Pass auf, Nelly. Wir machen einen Deal, wie hört sich das für dich an?« Sie guckt sich über die Schulter zu mir um.

Ich kann nicht antworten, ich bin immer noch fassungslos, dass sie gerade mein Zimmer verpestet.

»Wir gehen uns, so gut es geht, aus dem Weg und wenn wir uns hier aushalten müssen, sind wir leise und freundlich. Dann wird schon nichts passieren«, meint sie. »Ich bin total pflegeleicht, wirst schon sehen. Pflegeleichter als all die schönen Pferde auf jeden Fall«, plaudert meine Cousine weiter. »Man sollte mich nur nicht reizen, dann ist alles cool.« Sie zwinkert.

»Ach so und mein Poster hat aufgemuckt, oder was?«, fällt mir wieder ein, als mein Blick daran hängen bleibt.

»Oh, oui, das …« Aurelie schaut mich mit Bedauern an. »… das ist einfach passiert, pardon.«

Mir passiert auch gleich einfach was. Ich balle die Hände an meinen Seiten zu Fäusten. Doch ehe ich etwas sagen kann, geht Aurelie an mir vorbei, bläst mir den Qualm entgegen und verlässt das Zimmer. Mann, das kann ja heiter bis wolkig werden! Ich knirsche mit den Zähnen und folge ihr. Sie geht aus dem Haus und ist plötzlich ein ganz anderer Mensch. Sie setzt ein honigsüßes Lächeln auf und begrüßt meinen Papa, als würde sie sich total freuen, ihn zu sehen.

»Aurelie, was für eine Überraschung«, sagt der und drückt sie. »Du bist wahnsinnig groß geworden.

Wahnsinnig trifft es. Ich warte, bis der hübsche Austausch von Höflichkeiten vorbei ist. Ganz kurz überlege ich, meinen Koffer zu holen und meinen Hintern wieder ins Auto zu schwingen. Nach dem Motto: her mit dem Meer. Aber dann ruft Frekja nach mir und ich verwerfe den Blitzgedanken sofort wieder. Niemand würde mir meine Zeit mit meiner Stute versauen. Schon gar nicht eine satanistische Cousine, die möglicherweise einen Dämon in sich trägt. Den kann man ihr vielleicht austreiben, ich muss nur überlegen, wie. Hat die nächste Kirche eigentlich Weihwasser in Fläschchen?

Eisscholle voraus

Die erste Nacht mit Aurelie war schlimm. Sie hatte kein Interesse daran, leise zu sein, geschweige denn das Licht zu löschen, weil sie noch lesen wollte. Ich hatte ja keine Ahnung, wie laut das Umblättern von Buchseiten sein kann. Das Frühstück verläuft da schon etwas besser und ich erfahre, dass der Praktikant schon mitten in der Nacht, also um 6 Uhr dreißig eingetroffen ist und Matti heißt. Hübscher Name, fand Aurelie und fragte Oma tatsächlich Löcher in den Bauch, was sein Alter und seine Herkunft angeht.

Matti ist schon sechzehn und aus Hamburg. Und er will später Pferdewirt und Profibereiter werden und macht deshalb sein Praktikum hier. Ich hoffe, er kann richtig anpacken, denn es gibt noch viel zu tun, bevor die Gäste eintreffen. Die Offenställe müssen gemistet, die Weiden neu abgesteckt, die Pferde geputzt und sämtliches Sattelzeug gereinigt und überprüft werden. Dazu kommt das Entrümpeln der Scheune, was längst überfällig ist, sagt Oma. Sie erwartet einen Trödelhändler, der ihr alten Kram abkaufen will. Nur kurz wundere ich mich darüber, weil Oma sonst an allem hängt, was zum Hof gehört. Selbst alte Gießkannen landen nicht auf dem Müll, sondern werden zu Deko-Objekten und Blumentöpfen.

Ich will mich nützlich machen, atme ein letztes Mal durch und begebe mich ans Werk. Aurelie hingegen setzt sich mit Schwung auf einen Heuballen, während ich die Schubkarre vor einem der Ställe parke. Ich wette, Aurelie will es wie Mister Perigrim der Pfau machen. Einfach nur schick aussehen.

»Willst du schon mal die Mistgabeln holen?«, rufe ich ihr zu und sie ignoriert mich. Ihre Nase steckt wieder in einem Buch.

»Hallo?!« Ich lasse die Schubkarre stehen und hole mir selbst die Forke. »Hast du vor, nur dekorativ hier rumzusitzen?«, will ich wissen.

»Wenn du mich so fragst«, säuselt sie, hebt den Blick und zieht die Beine unter den Po, um es bequemer zu haben.

Ich schnaufe und beginne Mist zu schippen. Bei der Sommerhitze kein leichtes Unterfangen, aber ich beiße mich tapfer durch. Ganze vier Offenställe miste ich allein und frage mich, wo der angekündigte Praktikant eigentlich abgeblieben ist?

Irgendwann hole ich mir meine freche Frekja in die schmale Stallgasse, um sie zu putzen. Wie immer brauche ich meine Fuchsstute nicht mal anbinden, weil sie sowieso dort bleibt, wo ich bin. Mit geübten Bewegungen striegle ich den Staub aus ihrem weichen Fell. Sie genießt die Berührungen und versucht mich ihrerseits zu putzen. Dabei schiebt sie ihre Lippe vor und rubbelt über meinen Rücken, bis ich kichere.

»Du bist so ein Schatz«, hauche ich und schlinge meine Arme um ihren Hals. Sie hält ganz still und ich könnte sie fressen vor lauter Liebe. Dann hebt sie ihren dicken Kopf ganz hoch, weil ich eine Stelle unter dem Kinn entdeckt habe, die sie sich besonders gerne kraulen lässt. Und als ich aufhöre, legt sie ihr Kinn auf meine Schulter und zieht mich näher zu sich heran.

»Oh, mein Gott«, hauche ich und küsse ihre Nase. »Ich bin verrückt nach dir.«

»Mon Dieu. Du bist echt widerlich.« Aurelie, die ich beinahe vergessen habe, macht Würgegeräusche und dann blitzt es ganz plötzlich hell auf im Stall. Ich halte die Luft an, blicke mich um. Frekja spitzt die Ohren und ich gucke direkt in eine Kameralinse.

»Ich hoffe, mir sagt irgendwann ein Mädchen dieselben Dinge, wenn ich mit ihr Zeit im Stall verbringe«, höre ich eine relativ tiefe Stimme sagen. Hinter der Spiegelreflexkamera erscheint ein Gesicht. Es ist schmal, recht hübsch mit einer geraden Nase und nussbraunen Augen, die etwas eng zusammenstehen.

»Hallo, ich bin Matti«, sagt der Junge und lässt die Kamera sinken. Ich will noch protestieren, weil dieser Kerl einfach ein Foto von mir gemacht hat.

Doch Aurelie erwacht vor mir zum Leben, springt vom Rundballen und steht plötzlich vor mir und Frekja. »Ich bin Aurelie, willkommen auf unserem zauberhaften Hof«, sagt sie und ich runzle die Stirn. Unserem, was?

Sie lächelt, ihre weißen Zähne blitzen.

»Und ich bin Nelly und wir müssen uns unbedingt über Persönlichkeitsrechte unterhalten«, platzt es aus mir heraus und ich ärgere mich augenblicklich über mich selbst. Ich bin es nicht gewohnt, dass mich jemand fotografieren will. Eine unangenehme Erinnerung knallt durch meinen Kopf. Vivien und Maria, die in der Schule darüber reden, wie unscheinbar ich sei. So austauschbar. Maria lachte schallend und sagte: »Nelly, ich habe heute kein Foto für dich« und imitierte damit Heidi in ihrer Topmodel-Show.

Jetzt ist es Aurelie, die lacht.

»Beachte sie gar nicht, wenn du mal Fotos machen willst, ich stell mich nicht so an«, sagt sie mit ihrem hübschen Akzent.

Ich mustere ihr schwarzes Outfit. »Ich stell mich auch nicht an, ich möchte nur gefragt werden«, rücke ich halblaut das Bild gerade, das sie von mir zeichnet. Ich hab schließlich mein hässlichstes T-Shirt mit Entenprint an und meine Reithose hat ein Loch so groß wie Lochness. Und mein Zopf sitzt schief auf meinem Kopf. Verdammt.

»Großes Sorry, ich würde natürlich niemals ein Bild veröffentlichen, wenn ich nicht nachgefragt hätte. Es ist nur für mich und für dich«, verteidigt sich der Junge und kratzt sich verlegen den Nacken. »Aber dieser Moment gerade eben, der war etwas Besonderes, den musste ich einfangen. Willst du mal sehen?«, fragt er mich freundlich. Ich bin ganz sicher nichts Besonderes.

Matti dreht mit einer schnellen Bewegung die Kamera um, zeigt mir das Display und ich staune nicht schlecht. Die Aufnahme ist in Schwarz-Weiß und die Art, wie ich die Augen halb geschlossen habe und Frekjas Kopf halte, ist so schön, dass mich sofort Emotionen nur so fluten. Pures Glück gepaart mit Frieden.

Halten wir fest, fotografieren kann der Typ. Und hübsch lächeln kann er auch.

»Wow, super Foto!« Etwas betreten schaue ich schnell wieder weg. »Und, kannst du auch ausmisten? Ich könnte noch Hilfe mit den Ställen gebrauchen.« Ich lächle etwas verlegen und Matti fährt sich durch sein dunkles Haar. Frekja wiehert und andere Islandpferde auf der nahen Koppel antworten ihr.

»Klar kann ich das«, sagt er und lehnt sich lässig an die Wand in seinem Rücken. Ich lasse den Striegel in die Putzkiste fallen und beobachte, was mit Aurelie Seltsames passiert. Sie knickt ihre Hüfte ein und übt einen langen Augenaufschlag. »Das glaub ich dir sofort, ich wette du hast dir schon ordentlich Muskeln antrainiert«, meint sie. Was stimmt nicht mit ihr? Versucht sie etwa zu flirten?

Matti legt seine Kamera beiseite, ich habe das Gefühl, er wird rot von Aurelies Schmeichelei, und ich rolle innerlich mit den Augen.

»Na, das trifft sich hervorragend. Ich habe dir nämlich noch ganze vier Offenställe übrig gelassen«, sage ich und nehme Frekjas Huf, um ihn auszukratzen. Wenn die beiden sich in irgendeinem Balzverhalten üben wollen, dann bloß ohne mich.

»Kein Problem, ich bin eh gerade so richtig in Schwung. Ich habe mit deiner Großmutter den Zaun erneuert«, lässt er mich wissen und Frekja macht ihr Bein so schwer, dass ich es kaum noch halten kann. Keine Ahnung, warum ich keinen Moment der Schwäche zulassen will, während Matti so auf mich hinabblickt und nicht daran denke, den Huf einfach neu anzuheben. Ich weiß doch um die Macke meiner Stute, die zeitweise ihr gesamtes Körpergewicht auf ein Bein verlagert, nur um freizukommen. Ich ächze.

»Brauchst du Hilfe?«, fragt Matti. So weit kommt das noch.

»Nein, ich kann das allein. Meine leichteste Übung. Nur ein kleiner Kachtmampf. Kampfmacht, Machtkampf«, krächze ich.

Ich stemme mich gegen Frekjas Schulter, packe den Fuß fester und kratze den Dreck heraus.

»Ich hatte auch mal ein Pferd, das hat ständig getreten, wenn der Hufschmied kam. Auch eine Stute …«, sinniert unser Neuankömmling. »Dabei sollte man meinen, ihr Mädchen mögt Pediküre.«

»Maniküre, ich für meinen Teil flippe auch aus, wenn mir jemand an die Füße geht«, lässt uns Aurelie wissen, die mal wieder schneller ist mit einer Antwort und ich kann ihr breites Lächeln heraushören.

»Wie auch immer, manchmal muss man einfach klarstellen, wer der Boss ist«, meint Matti dann.

»Meine Rede«, zwitschert Aurelie und ich frage mich, wovon die beiden genau sprechen. Ja, klar, sie scheinen beide ja die totalen Pferdeexperten zu sein. Doch plötzlich rutsche ich mit dem Hufkratzer so blöde ab, dass ich mir die Hand aufreiße. »Autsch. Verdammt!«

Ich taumle, als mir dunkles Rot über die Hand läuft. O Gott, ich kann doch kein Blut sehen!

»Hey, alles okay mit dir?« Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Frekja guckt mich unschuldig an und ich wanke leicht. Meine Sicht franst aus.

»Du hast dich verletzt«, stellt Matti fest und greift mir ohne zu zögern unter den Arm, als ich drohe umzukippen.

»Pein Kroblem. Äh, kein Problem«, hauche ich und werde sacht in Richtung frische Luft dirigiert. Mein Puls dröhnt in meinem Kopf und Aurelie hebt müde eine Augenbraue.

»Kümmere dich mal um die Stute«, ruft Matti meiner Cousine über die Schulter hinweg zu, während wir durch das große Stalltor hinausgehen. Sie antwortet nicht und ich frage mich, ob sie die Anweisung überhaupt verstanden hat oder ob sie taub ist für jede Art von Arbeitsauftrag.

»Zeig mal.« Matti angelt nach meiner Hand, ich bin bemüht, nicht hinzuschauen. »Ist halb so wild.« Er lächelt lieb.

Wenn man ihn so betrachtet, könnte man wirklich meinen, dass so mancher Stallbursche dem Prinzen vorzuziehen ist.

Wind frischt auf, trifft auf meine glühenden Wangen und der Geruch von Pferden weht zu mir herüber. Mister Perigrim führt sein stolzes Gefolge bestehend aus zwei jüngeren Pfauenherren und vier Damen über den Hof, legt seinen Kopf auf seine unmissverständlich drohende Art schief und guckt mich böse an. Oh, dieses fiese Vieh. Er hat aber auch nie Mitleid. Er hat mich als Kind mal über den ganzen Hof gejagt. Und mit seinem Gepicke nicht mal aufgehört, als ich am Boden lag.

»Ich weiß, wo deine Oma den Verbandskasten hat. Du bist im Nu wieder topfit«, tröstet Matti mich, während wir so über den Kopfsteinpflasterhof gehen, unter den Rosen hindurchtauchen und die Seitentür zum Haus öffnen. »Ich bin gut im Verarzten. Meine kleine Schwester hat sich letzte Woche den Finger gebrochen und rate mal, wer zur Stelle war …«

»Du?« Ich versuche zu lächeln.

»Stimmt. Und letztes Jahr hatte sich eines der Sportpferde, die ich trainiere, auf meinen Fuß gestellt und mir den Zeh gebrochen.«

Sportpferde also. Aha …

»Das tat vielleicht weh, dagegen ist das hier ein Fliegenbiss«, erzählt er und ich kämpfe gegen Übelkeit. Der großzügige Flur scheint kein Ende zu nehmen und ich schicke ein knappes Dankesgebet gen Himmel, als wir endlich in der Küche sind und ich mich auf einen Stuhl setzen kann. Matti kramt den Verbandskasten aus dem Schrank.

»Arbeitest du schon lange mit Pferden?«, frage ich ihn, als er mir die kleine Wunde mit Wasser ausspült.

»Nein, ich interessiere mich erst seit vier Jahren für sie und will unbedingt später selbst Turnierpferde züchten. Am liebsten Hannoveraner. Ich bin mittlerweile echt gut und reite Turniere auf M-Niveau, die mittelschwere Klasse.«

Das Jod brennt wie Feuer und ich beiße die Zähne zusammen.

»Ich habe viel gelernt über den Reitsport und dieses Jahr wollte ich gerne noch Erfahrungen in Sachen Reiterferien und Kinderbetreuung sammeln«, meint er neckisch und ich schnappe nach Luft.

»Ich bin übrigens fünfzehn«, strafe ich ihn für seinen doofen Kommentar ab. Doch ich staune, wie geschickt er den weißen Verband um meinen Finger wickelt.

»Und viel wichtiger, ich möchte lernen zu tölten. Und den Rennpass zu reiten, soll schöner sein als fliegen. Gut, ich muss zugeben, ich sitze gerne etwas höher und nicht auf Zwergpferden, aber man sollte sich die Erfahrung, auf Fünfgängern zu reiten nicht entgehen lassen.« Er zwinkert linkisch und ich frage mich, warum mein Magen beginnt zu summen.

»Fertig«, haucht er und schaut mich unter langen Wimpern an.

»Nice.« Aber dennoch meldet sich Unmut in mir. Wie kann er es wagen, meine geliebten Islandpferde so abzuwerten. Das hat er doch gerade getan, oder?

»Aber eins solltest du wissen: es mag ja sein, dass Islandpferde nicht so groß sind wie Hannoveraner, aber sie sind nur etwas für sehr geschickte Reiter. Tölten ist eine Kunstform, die nur wenige überhaupt umsetzen können. Ich bin mal gespannt, ob du das packst, denn es erfordert eine besonders intensive Kommunikation mit seinem Tier und …«

Leider hab ich keine Zeit weiter auszuholen, denn etwas poltert im Flur und fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Denn wenn eins nicht zusammenpasst, dann ist das Hufgetrappel und Parkett.

Ich springe auf, Matti folgt mir aus der Küche und wir werden mit einem freudigen Wiehern von Frekja begrüßt, die gerade ihre Nase aus dem Blumenbouquet nimmt. An ihrem rosa Halfter hängt ein loser Strick und schleift über den Boden.

»Mist«, knurrt Matti, der die Haustür offen stehen lassen hat. »Damit hab ich jetzt nicht gerechnet.«