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Über das Buch

Als die 17-jährige Amy auf der Londoner Tower Bridge mit einem mysteriösen Jungen zusammenstößt, sieht sie plötzlich Bilder von einem Liebespaar aus einer vergangenen Zeit, das verfolgt wird und von der Brücke springt. Doch der Junge scheint diese Bilder nicht zu sehen. Bei ihren Recherchen stößt sie auf die Legende von der Blume des Lebens. Als Amy ihrem Mitschüler Nathan davon erzählt, warnt er sie jedoch vor dem mysteriösen Jungen. Bringt Amy sich in Gefahr, wenn sie in der Vergangenheit herumstochert?

Michelle Schrenk erzählt eine emotionale Achterbahnfahrt, die ihresgleichen sucht!

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Inhalt

Playlist

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Playlist

Diese Songs habe ich beim Schreiben des Buches gehört. Wenn ihr also abtauchen wollt, Musik an – und los geht’s.

Lewis Capaldi – Before you go

Zayn feat. Sia – Dusk till dawn

Ron Pope – A drop in the ocean

Calum Scott & Leona Lewis – You are the reason

James Arthur – Say you won’t let go

Levi Kreis – I should go

James Bay – Let it go

Passenger – London in the spring

Lukas Graham – Love Someone

Gnash feat. Olivia O’Brien – i hate u, i love u

Alex & Sierra – Little do you know

Machine Gun Kelly, X Ambassadors – Home

Birdy – Wings

Tom Odell – Another Love

Christina Perri – A thousand years

Sam Smith – Stay with me

JP Saxe & Julia Michaelis – If the world is ending

Ali Gate – What if I told you that I love you

Jason Walker – Down

Prolog

London, Bahnhof Drayton Park, 1975

Völlig außer Atem hetzt Caroline in Richtung U-Bahn-Station. Endlich kennt sie das Geheimnis, das sie so lange zu lüften versucht hat. Sie sieht nach links und rechts, eilt über die Straße auf den Bahnhof zu. Alles muss jetzt schnell gehen, denn sie kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen und ihm das Geheimnis preiszugeben.

Doch als sie den Bahnhof erreicht, hat sie mit einem Mal ein merkwürdiges Gefühl in der Brust. Als würde sie verfolgt, mal wieder. Aber vielleicht bildet sie es sich auch nur ein. Sie blickt auf die Uhr. 8.37 Uhr, der Zug ist schon zu hören. Ruhig bleiben, sagt sie sich, alles ist gut, gleich wird sie in seinen Armen liegen. Nur eine Station. Sie sieht sich um, doch da ist niemand. Jedenfalls niemand, der auffällig erscheint. Eine junge Frau mit Kinderwagen. Ein alter Herr mit Hut.

Der Zug fährt ein, rattert über die Schienen, und nachdem er angehalten hat, betritt sie einen der Waggons. Türkisfarbene Halterungen, mit rot-schwarz-kariertem Samt bezogene Sitze. Auf einem von ihnen lässt sie sich nieder und versucht, ruhig zu atmen. Ihre Tasche hält sie fest im Griff, denn darin befindet sich die Lösung, die Antwort auf alle Fragen. Sie weiß, sie muss gut darauf aufpassen.

Ehe die Türen sich schließen, betritt ein Mann die Bahn. Er trägt ein Kapuzenshirt, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, und wirkt auffällig. Ob er der Verfolger ist? Dieses mulmige Gefühl beschleicht sie wieder. Ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht. Für einen kurzen Moment beobachtet sie ihn aus dem Augenwinkel, doch als die Bahn sich in Bewegung setzt, steht sie auf, um sich am Ende des Waggons einen Platz zu suchen.

Gerade will sie sich wieder setzen, doch dann erlischt plötzlich das Licht im Waggon. Ein unheimlicher Ruck fährt durch ihren Körper, ein harter, fester Schlag.

Dann ist alles dunkel.

Als Caroline die Augen öffnet, spürt sie einen heftigen Schmerz. Rauch und Dampf umgeben sie, Tränen brennen auf ihren Wangen. Wo ist sie? Was ist passiert? Aber sie kann sich kaum orientieren.

Auf einmal wird sie von einem Licht geblendet. »Hören Sie mich?«, fragt eine Stimme. Ein Mann hat sich über sie gebeugt. Er hat braune Augen, das Einzige, das sie noch erkennen kann.

»Die Tasche«, presst sie hervor.

Der Mann sieht sich um. »Gehört sie Ihnen?«

»Ja.«

»Jetzt versuchen wir erst mal, Sie hier herauszubekommen.«

Doch sie schüttelt den Kopf. »Nein, erst die Tasche. Darin ist ein Brief …«

Er sieht sie fragend an. Ob er sie nicht versteht?

»Bitte.«

Erleichterung macht sich in ihr breit, als der Mann sich noch näher zu ihr herunterbeugt. Denn sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat, als ihm alles zu erzählen. Und sie kann nur hoffen, dass das, was sie erfahren hat, bei ihm sicher ist. Sie nutzt ihre letzte Kraft, um ihm die Geschichte ins Ohr zu flüstern, ihm all die Informationen weiterzugeben, die sich in der Tasche befinden.

Der Mann nimmt die Tasche an sich und nickt ihr zu. Ein stilles Versprechen.

Dann spürt Caroline nichts mehr, und die Dunkelheit greift endgültig nach ihr.

Kapitel 1

Im Hier und Jetzt

London, Tower Bridge

»Aua!« Mein Kopf knallt gegen das mit weißem Stahl eingefasste Fensterglas, und ich zucke erschrocken zurück. Okay, ich habe die Scheibe übersehen. Kann ja mal passieren, oder?

Peinlich berührt reibe ich mir die Stirn. Ich dachte, ich hätte etwas aus dem Augenwinkel da unten gesehen, aber es war wohl nur eine Einbildung.

Ich denke noch darüber nach, als eine schrille Stimme an mein Ohr dringt. »Ups, da hat sich wohl jemand zu weit nach vorn gelehnt.« Die Stimme gehört unverkennbar zu Lilly Everley, hübsch, anmutig, Jungenschwarm der Schule – und eine totale Ziege.

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, entgegne ich, während ich mir noch mal über die Stirn reibe.

Meine beste Freundin Jill, die neben mir steht, nickt mir bestärkend zu. »Also wirklich, als ob das nicht jedem mal passieren kann«, sagt sie mit einem vielsagenden Lächeln auf den frechen Lippen. Das Grün ihrer Augen funkelt mich an. Ja, sie kennt mich zu gut.

Ich boxe sie in die Seite, weil ich gestehen muss, dass das Wort »mal« bei mir wirklich untertrieben ist. Denn ich scheine ständig von einem Malheur ins andere zu tappen.

Wobei ich es wohl nicht nur auf meine Tollpatschigkeit schieben kann. Es ist vielmehr einer seltsamen Sache geschuldet, mit der ich mittlerweile gelernt habe zu leben. Schon seit ich mich erinnern kann, sehe ich hin und wieder ganz plötzlich Bilderfetzen von Paaren unter Bäumen, in alt aussehenden Anwesen, Frauen, die etwas zu suchen scheinen, oder Männern, die ich nicht zuordnen kann. Plötzlich sind sie einfach da, in meinem Kopf. Sie reißen mich aus den Dingen, die ich gerade tue, oder aus dem Schlaf und sind so mächtig, dass ich nicht dagegen ankämpfen kann. Warum ich diese Bilder sehe, weiß ich nicht, und am Anfang fand ich es zugegeben auch etwas unheimlich. Aber dann habe ich dadurch meine Liebe zum Zeichnen entdeckt, indem ich die Bilder auf Papier festgehalten habe. Mein Dad sagte immer, dass es wohl allen Künstlern so geht, dass sie Eingebungen haben. Weil sie offen sind für alles, was sie umgibt, weil die Kunst eine ganz eigene Magie ist.

Wenn ich an seine Worte denke, werde ich kurz traurig. Denn er fehlt mir. Vor etwas mehr als einem Jahr ist er bei einem Autounfall gestorben und hat eine große Leere hinterlassen, nicht nur in meinem Leben. Seitdem hat sich so vieles verändert. Mum und ich zogen von Horley, das eine gute Dreiviertelstunde von London entfernt ist, in die Stadt zu Tante May, die hier ein kleines Haus gemietet hat und uns beiden angeboten hatte, uns ein wenig unter die Arme zu greifen. Darüber bin ich zwar sehr froh, aber hin und wieder vermisse ich mein altes Leben schon, die kleine Stadt und das, was wir dort hatten.

Das einzig Gute ist, dass ich hier jetzt Jill habe. Wir kannten uns schon von früher, weil sie damals, wenn ich bei Tante May zu Besuch war, nur ein paar Häuser weiter wohnte. Und wir haben den Kontakt nie verloren. Immer wenn ich in London war, zogen wir zusammen herum und verbrachten Zeit miteinander. Jetzt, nach der Scheidung ihrer Eltern, wohnt sie zwar ein paar Blocks weiter weg bei ihrer Mum, aber Freundinnen sind wir noch immer und gehen nun zudem auf die gleiche Schule.

»Was hast du gesehen?«, flüstert Jill mir zu.

Sie kennt mich zu gut.

»Es ist albern, aber ich dachte, auf der Brüstung da unten saß ein Liebespaar. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie auf der Flucht seien. Vor irgendwelchen Männern in Kutten.«

»Klingt spannend.« Sie grinst. »Wurden sie erwischt?«

»Nein, nicht direkt, aber sie sind hier hinuntergesprungen.« Ich blicke zu dem Vorsprung hinter dem Glas, der mich auch dazu gebracht hat, mir den Kopf anzuschlagen.

»Was? In die Themse? Das haben die nie und nimmer überlebt«, ihre Worte versetzen mir einen kleinen Stich. Ja, sie hat recht. Das ist wirklich unmöglich.

»Also, da genieße ich doch lieber die Aussicht hier oben. Mal im Ernst, das ist klasse, oder? Kaum zu glauben, dass wir schon so lange nicht mehr hier waren. Dabei leben wir doch in London. Da brauchen wir erst diesen Schulausflug, um hier raufzukommen.«

Ja, Jill hat recht, die Aussicht ist wirklich unvergleichlich.

»Auf die da könnte ich allerdings echt verzichten.« Jill deutet auf Lilly, die gerade auf die Hauptattraktion hier oben zuschwebt: einen Boden mit eingelassenen Glasplatten. Dabei streicht sie sich lasziv durch das blonde Haar und blickt hinüber zu unserem Guide, der es ihr offensichtlich angetan hat.

Lächelnd stupst Jill mich an und zeigt auf den Glasboden. »Komm, da müssen wir auch rauf. Was meinst du, sollen wir? Was die kann, können wir doch auch.« Sie zupft an meiner dunkelblauen Jacke, die zu unserer Schuluniform des St. Michael’s College gehört, einer alten Traditionsschule mitten in der Londoner City, für die Tante May das Schulgeld bezahlt, was wir uns sonst nicht leisten könnten. Aber sie wollte unbedingt, dass ich auf eine gute Schule gehe.

Ich drehe mich um, und mein Blick gleitet über den mit Holz belegten langen Gang, in den die Glasplatten eingelassen sind. Lilly genießt es sichtlich, ohne Scheu darauf auf und ab zu stolzieren – genau wie ihre Freundin Ashley, die ihr sowieso immer alles nachmachen muss. Im Gegensatz zu meinem ähnelt Lillys Gesicht dem einer Puppe: Die blonden, glatten Haare sind samtig, die Stupsnase ist klein und ihre Haut so fein wie Porzellan. Kein Wunder, dass alle Jungs auf sie stehen. Ich hingegen habe Sommersprossen im Gesicht, ein Muttermal am Kinn, und meine Haare sind braun und undefinierbar gewellt.

»Der Glasboden ist gute elf Meter lang und so belastbar, dass mindestens hundertfünfzig Menschen gleichzeitig darauf stehen könnten – oder fünf Elefanten«, erzählt der Guide nun mit einem Augenzwinkern. »Wobei wir das mit den Elefanten nicht testen konnten. Aber habt trotzdem keine Angst. Kommt ruhig alle näher und probiert es aus, es ist ein tolles Erlebnis.«

»Also, gehen wir?« Jill sieht mich erwartungsvoll an. »Wenn der Boden Elefanten aushält, dann doch auch uns.«

»Ja, warum nicht? Lass uns gehen.« Meine Stimme hört sich mutiger an, als ich es tatsächlich bin. Dennoch folge ich Jill und riskiere schließlich vom Rand aus einen Blick durch das Glas im Boden. Sofort werden meine Knie weich. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, von hier oben auf die vielen Menschen da unten hinabzuschauen – besonders nach den Bildern, die ich eben gesehen habe.

Natürlich weiß ich, dass nichts passieren kann, es waren nur Bilder, dennoch ist mir mulmig zumute. Den Glasboden zu betreten, ist doch noch etwas anderes, als nur am Rand zu stehen. Irgendwie stemmt sich mein Körper dagegen.

Jill hingegen überwindet sich bereits und wagt vorsichtig den ersten Schritt.

»Oh mein Gott, Amy, das ist der Wahnsinn. Komm her.« Während ich noch zögere, steht Jill bereits drauf, zieht ihr Handy aus der Tasche und richtet es nach oben gegen die Decke. »Ah! Da ist ein Spiegel, extra um Fotos zu machen. Schau mal, wie genial das aussieht.«

Aufgeregt schießt Jill ein paar Fotos und hält mir dann das Handy hin. Die Bilder sind echt gut, perfekt für Instagram.

»Lass uns eins zusammen machen, das können wir dann posten«, schlägt sie vor. »Kommst du?«

Ich würde ja wirklich gern, aber mir wird der Boden aus Glas immer unheimlicher. Sosehr ich auch möchte, es geht nicht.

Lilly muss uns beobachtet haben, denn sie verdreht die Augen und mustert mich abschätzig, während sie ebenfalls ihr Handy zückt. Mir egal, soll sie denken, was sie will.

Jill, die noch immer begeistert Fotos schießt, bekommt jetzt Gesellschaft von Thomas, ihrem heimlichen Schwarm, dessen Kumpel Charly und weiteren Klassenkameraden. Alle zeigen absolut keine Scheu, sondern haben ihren Spaß.

Ich muss mich jetzt endlich überwinden, denke ich, denn ich möchte am Ende nicht die Einzige sein, die sich nicht getraut hat. Okay, Schritt für Schritt, nehme ich mir vor, als Jill erneut zu mir an den Rand kommt und mir die Hände entgegenstreckt. »Los, ich helfe dir.«

Erleichtert greife ich zu und lasse mich schließlich zu ihr auf die Glasplatten ziehen. Mit wackeligen Beinen und klopfendem Herzen stehe ich da, versuche, mich daran zu gewöhnen und ruhig zu atmen. Das geht doch eigentlich ganz gut.

Doch dann senke ich den Blick. Unter mir fließt die Themse, dunkel und gewaltig, und ganz plötzlich geht ein Ruck durch mich hindurch. Wieder sind da diese Liebespaarbilder, wie im Schnelldurchlauf fliegen sie durch meinen Kopf. Der Sturz der beiden, die Themse. Völlig verwirrt weiche ich zurück.

»Sorry, ich kann da nicht rauf. Ich gebe auf.«

»Echt nicht? Nicht mal einen einzigen Versuch? Das ist doch wirklich nicht schlimm. Hallo, du warst bereits mit mir im Golden Eye, das ist ja mal viel höher«, sagt Jill, aber ich passe.

»Ich weiß, aber ich kann nicht, ich habe echt die Hosen voll.«

Schließlich nickt sie und sieht mich verständnisvoll an. »Na schön. Wenn du es aber doch noch versuchen willst, dann komm einfach zu uns rüber.«

»Ja, das mache ich.«

Als ich mich von der Szene abwende, begutachte ich die Panels. Eine ganze Weile betrachte ich sie, lasse dann den Blick schweifen, und entdecke ihn. Einen Jungen, der auf der gegenüberliegenden Seite an der Scheibe steht und zu mir herüberblickt. Er hat eine breite Statur, seine Augen sind blau, unglaublich blau, und seine Haare dunkel, fast schwarz und leicht verstrubbelt. Er trägt eine ebenfalls schwarze Lederjacke. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich schaffe es nicht, den Blick von ihm abzuwenden und mein Puls beginnt, schneller zu werden.

Als sich eine Hand auf meine Schulter legt, schrecke ich auf, und unwillkürlich schießt mir die Hitze in die Wangen.

»Erwischt«, raunt Jill mir grinsend ins Ohr. »Was gibt es denn da so Interessantes?«

»Nichts. Ich war nur in Gedanken.« Erneut blicke ich zu dem Jungen, doch nun ist er weg. Stattdessen steht da ein anderer Junge mit einem blauen Hemd und hellen Haaren, der etwas grimmig schaut. Ein weiterer Guide vielleicht? Als er merkt, dass ich in seine Richtung sehe, verändert sich sein Blick, seine Mimik wird weicher, und er lächelt mich an. Ob er glaubt, dass ich ihn angestarrt habe? Für ihn muss es jedenfalls so gewirkt haben.

Rasch drehe ich mich zu Jill um.

»Pass auf«, beginnt sie sogleich zu erzählen, »Thomas hat mir gerade gesagt, dass am Samstag eine richtig coole Party im Closer steigt. Wir beide müssen da auch hin. Unbedingt. Was meinst du? Erlauben deine Mum und deine Tante das? Wir müssen uns schnell entscheiden, die Eintrittskarten sind begrenzt. Aber Thomas kann vielleicht welche besorgen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich hätte viel mehr Lust auf einen Fernsehabend. Ich wollte einfach mal relaxen. Im Moment ist so megaviel los und …«

Jill verzieht das Gesicht zu einer Schnute. »Bitte, Amy«, mit schwärmerischem Blick dreht sie eine ihrer langen roten Haarsträhnen um den Zeigefinger. Ich finde, die Farbe steht ihr gut. Vor allem weil ihre Augen grün sind. »Das wäre die Gelegenheit, Thomas näherzukommen. Also, was meinst du?«

Ich will gerade antworten, als ich ihn erneut entdecke, den Jungen mit den dunklen Haaren. Er steht nicht weit von uns entfernt, hat seine Hand an die Scheibe gelegt und wirkt dabei sehr in seinen Gedanken verloren.

»Also?«, hakt Jill nach und ich sehe wieder zu ihr.

»Kann ich denn noch mal drüber nachdenken?«

»Okaay«, antwortet sie gedehnt. »Dann schieße ich eben noch ein paar Fotos. Aber ich sage es dir gleich: Ich nerve dich so lange, bis du nachgibst.«

»Das wäre ja mal was ganz Neues.«

Sie zwinkert mir zu, dann widmet sie sich wieder ihren Fotos und ich stehe eine Weile da. Irgendwann denke ich, dass ich es ebenfalls noch mal probieren sollte. Abrupt drehe ich mich um und stoße gegen etwas unerwartet Hartes, gefolgt von einem merkwürdigen Geräusch.

»Verdammt«, höre ich eine raue Stimme neben mir. Mein Blick fällt auf den Oberkörper, gegen den ich gestoßen bin und auf dem meine Finger jetzt Halt suchen. Ich spüre den Stoff eines Shirts, darunter Muskeln, die sich fühlbar anspannen.

Dann geht alles unglaublich schnell. Ich hebe den Kopf noch weiter, und mir stockt augenblicklich der Atem. Denn der Körper, den ich noch immer berühre, gehört zu dem dunkelhaarigen Jungen mit den blauen Augen, der mir jetzt ganz nah ist. Viel zu nah. Als unsere Blicke sich treffen, spüre ich ein Flattern im Bauch.

Eilig trete ich einen Schritt zurück, während er den Kopf schieflegt und auf den Boden zeigt. »Das darf nicht wahr sein, verdammt!« Zuerst weiß ich nicht, was er meint, aber dann entdecke ich zu unseren Füßen ein merkwürdig aussehendes, silbern schimmerndes Kästchen. Es scheint ihm zu gehören. Warum trägt man so ein Kästchen mit sich herum? Nun dämmert es mir. Der dumpfe Klang, das Geräusch. In dem Kästchen ist eine Beule, die deutlich zu sehen ist. Und ich bin wohl draufgetreten.

»Oh sorry«, stammle ich, während mein Blick an seinen Lippen hängen bleibt. Sie sind voll und geschwungen, die Unterlippe etwas mehr als die Oberlippe, was jedoch auch daran liegen könnte, dass er sie leicht verzieht. Seine Nase ist nicht ganz gerade, passt aber perfekt in sein kantiges Gesicht. Aber am eindrucksvollsten sind seine Augen. Die blauesten Augen, die ich jemals gesehen habe. Ein Wasserblau, welches mich an ein klares, türkises Meer erinnert. Doch eins irritiert mich daran: sein Blick kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe ihn nur weicher in Erinnerung.

Er ist nicht viel älter als ich, ich schätze mal höchstens ein Jahr, wenn überhaupt. Wahrscheinlich auch so um die siebzehn. Vielleicht macht ihn ja der harte Ausdruck in seinem Gesicht gerade etwas älter. Ich muss schlucken, als mir auffällt, dass ich ihn etwas zu lange anstarre.

»Bist du dann fertig?«, brummt er.

»Was?«

»Du starrst mich an.«

Sofort schießt mir die Röte auf die Wangen. »Ich starre dich nicht an.«

Er legt den Kopf schief, antwortet aber nichts. Stattdessen gleitet sein Blick über mich.

Verlegen deute ich auf das Kästchen. »Sorry, das wollte ich echt nicht. Aber ich habe dich wirklich nicht gesehen. Es ist sicher halb so wild, nur ein kleiner Sprung, schätze ich und …« Erst jetzt merke ich, wie schnell ich rede.

Er sieht mich argwöhnisch an. »Ach ja?«

Ich bücke mich rasch, um das Kästchen aufzuheben. Doch genau in diesem Augenblick geht er ebenfalls in die Knie und greift danach. Es sind nur Sekundenbruchteile, ein winziger Wimpernschlag, in dem sich unsere Fingerspitzen berühren. Doch was nun passiert, ist groß und merkwürdig zugleich. Mit einem Mal ist da ein heller zarter Glanz, wie im Zeitraffer verändert sich die Umgebung. Gebäude, die gerade noch da waren, verschwinden, werden kleiner, und inmitten von alldem ist da plötzlich wieder dieses Liebespaar, das auf der Flucht zu sein scheint. Die Bilder nehmen Form an, werden hell und ziehen mich mit sich.

Ein Junge und ein Mädchen, die auf der Tower Bridge sitzen.

»Alan«, sagt sie und sieht ihn an. »Was glaubst du, wie es in der Zukunft sein wird?« Ihre Finger verweben sich zart mit seinen, dann zieht sie ein kleines silberfarbenes Etui aus ihrer Manteltasche und betrachtet es nachdenklich. »Es war so schön in Paris, und jetzt soll das alles vorbei sein? Einfach zu Ende?«

»Mach dir keine Sorgen«, antwortet er, »es wird sicherlich alles gut werden. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.«

»Das klingt aber schön«, sagt sie und er lächelt.

»Ja, ist von einem gewissen Oscar Wilde, hab ihn neulich getroffen. Netter Mann.«

Sie lächelt.

»Klingt nach Worten, an die man sich mal erinnern könnte«, sagt sie und atmet tief durch.

»Meinst du, man wird sich an uns erinnern?«

»Ja, natürlich glaube ich das.«

Seine Stimme ganz nah an ihrem Ohr zu spüren, wirbelt die Gefühle in ihrem Bauch umher, und sein Atem schenkt ihr ein wenig von der vertrauten Wärme, die sie gerade so dringend braucht. »Ich hoffe es«, sagt sie so sehnsuchtsvoll, als würden die beiden nicht hier oben in schwindelerregender Höhe auf der Tower Bridge sitzen und in die Dunkelheit der Stadt unter ihnen blicken.

»Ja, es wird so sein.« Er stupst sie mit der Nase an. »Auch wenn wir es nicht herausfinden, unsere Nachfahren werden es tun. Und sie werden das Rätsel lösen. Das ist ein Trost. Also sei jetzt nicht traurig, ja?«

Sie seufzt. Er hat recht, dennoch ist das alles leichter gesagt als getan, wenn man am Abgrund steht und weiß, dass nichts mehr von einem übrig bleiben wird, als ein Echo in der Zeit.

»Sieh nur, es wird Tag«, sagt er leise.

Und tatsächlich, ganz langsam erwacht London zum Leben, und die Strahlen der Morgensonne tränken den Himmel in ein leichtes Gold. Jedes Dach, jeder Weg und natürlich auch die Themse werden nun vom warmen Licht überzogen.

Doch zu schnell geht der Moment vorbei, denn plötzlich sind da Geräusche. Es kracht, Gepolter ist zu hören. Sie sind da, sie haben sie gefunden.

Er steht auf, reicht ihr die Hand und zieht sie fest an sich, während sie den Kopf an seine Brust legt. Sein Herz schlägt schnell, so schnell wie ihres.

»Wenn es schon sein muss, dann hier. Hier an diesem Ort, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind«, flüstert sie.

Dann steigen sie auf das Gitter und klettern über die Brüstung der Brücke. Der Wind wird stärker. Als sie schließlich hinunter auf die Themse blicken, lächelt Alan. Sein Finger wandert unter ihr Kinn, dann beugt er sich zu ihr, und ihre Lippen verschmelzen hauchzart zu einem Kuss. »Ich liebe dich, Claire, aber es wird Zeit, das Jahr 1900 zu verlassen.«

»Jetzt schon?«

Er tippt mit dem Zeigefinger erst an ihre Brust, dann an seine, bevor er seine Finger mit ihren verhakt. »Was auch immer geschieht, du und ich, wir sind unendlich, für alle Zeit. Wo du bist, da bin auch ich. Ich komme immer wieder zu dir zurück, so soll es sein.«

»Und ich zu dir«, raunt sie ihm zu, während sie seine Augen betrachtet, das wuschelige Haar, das sie so sehr an ihm liebt.

Erneut poltert es, der Wind wird stärker, unerbittlich, zerrt er an ihnen.

Und mit einem Mal sind sie da. Männer, verhüllt von Kutten. Einer von ihnen trägt etwas Goldenes an seinem Umhang, ein merkwürdiges Zeichen, durch das er unter den anderen hervorsticht. »Nein!«, ruft er noch.

Nun geht alles ganz schnell. Claire und Alan stürzen hinab in die Tiefe, das kalte Wasser der Themse umhüllt sie, und es bleibt nichts als Schwärze zurück.

Doch die Dunkelheit ist nicht von Dauer, denn nach einigen Minuten steigen zwei Funken aus dem Wasser, ein blauer und ein roter. Kurz strahlen sie hell auf, ehe sie in der Weite verschwinden.

Mit einem Ruck zieht es mich zurück. »Scheiße, was war das?«, flüstere ich. Das Gefühl ist noch immer so greifbar, die Bilder beinahe real. Genauso wie die Spannung, die plötzlich in die Gesichtszüge des Jungen mir gegenüber tritt. Wie lange war ich in den Bildern versunken? Er mustert mich für ein paar Augenblicke, bevor er sich abwendet und sich dem Kästchen widmet.

»Scheiße, allerdings, du sagst es.«

»Hast du es auch gesehen?«, frage ich atemlos.

Doch er verzieht das Gesicht. »Keine Ahnung, wovon du redest, aber wenn du das hier meinst …« Er deutet auf das Kästchen. »Ja, das habe ich gesehen. Ich bin ja nicht blind. Da ist ein Riesenriss im Etui!«

Etui? Wer benutzt dieses Wort? Er hat also echt nichts von diesen Bildern mitbekommen? Nichts von dem Paar, dem Licht, nichts von Alan und Claire, die sich allem Anschein nach hier hinuntergestürzt haben?

»Nein, ich spreche von dem Liebespaar. Und dieses … Leuchten?«, frage ich und ärgere mich sogleich, weil er mich ansieht, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Im Blau seiner Augen blitzt Verwunderung auf.

»Ähm, nein?«

Okay, ich muss total bescheuert auf ihn wirken. Warum sollte er auch etwas gesehen haben?

»Klingt verrückt, oder?«

»Nein, das klingt total plausibel«, antwortet er, während sich Überheblichkeit in seinen Blick mischt. »Du warst also von mir geblendet? Alles klar!«

Blödmann, das habe ich doch gar nicht gesagt!

»Ha, ha, sehr lustig. Kann man das nicht irgendwie ersetzen?«

Daraufhin beugt er sich plötzlich zu mir vor, weiter, noch weiter.

Sein Atem streicht beinahe über meine Lippen, so nah ist er mir jetzt.

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Was tut er da? In meiner Brust hämmert es immer heftiger. Irritiert hebe ich die Hand.

»Ähm, was tust du da? Damit ersetzt man das Kästchen nicht!«

Er sieht mich fragend an.

»Hä? Was glaubst du, das ich tue?«

»Mich küssen?«

»Dich küssen?!«

Ich sehe ihn an. »Kam mir irgendwie so vor.«

Er lacht.

»Mach dir mal keine Sorgen, dass hatte ich nicht vor. Du hast da einen Fleck am Kinn.«

»Das ist ein Muttermal.«

Blödmann.

Ist das peinlich! Mein Puls rast, Adrenalin strömt durch meinen Körper.

Er grinst. »Und nein: Dieses Etui kann man nicht ersetzen, niemand kann das.« Sein Blick verdunkelt sich, und ich habe das Gefühl, dass dieses Etui ihm wirklich wichtig ist. Als mein Blick wieder auf das Etui fällt, durchfährt mich plötzlich ein starkes Gefühl, das einem Déjà-vu gleichkommt. Habe ich das Etui nicht eben in diesen Bildern auch gesehen? Kann das wirklich sein?

»Es tut mir leid, ehrlich«, sage ich, jetzt wieder etwas ruhiger.

Er steckt das Etui ein, dann streicht er sich mit den Fingern durch die Haare. »Pass das nächste Mal einfach besser auf.« Schließlich wendet er sich ab, und mein Herz klopft noch immer viel zu schnell.

Was war das denn bitte? So etwas habe ich noch nie erlebt. Diese Berührung, die Bilder, dieser Lichterwirrwarr. Er mag mich zwar für blöd halten, aber das alles war wirklich da. Oder? Und noch dazu kam er mir so bekannt vor.

»Wer war das denn?« Jills Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ja, wer war das denn?

»Wenn ich das wüsste. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, ihn zu kennen«, flüstere ich und sie sieht mich fragend an. Noch immer kreisen die Gedanken durch meinen Kopf. Dann wird mir schlagartig etwas klar. »Ich weiß nicht, ob ich bescheuert bin, aber der Junge …«

»Was ist mit ihm?«

»Ich weiß, das klingt verrückt. Aber … Jill, ich weiß jetzt, warum er mir bekannt vorkommt.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Okay, und woher?«

Ich hole tief Luft. »Ich glaube, ich habe ihn schon mal gezeichnet.«

Kapitel 2

»Also schön, der Typ erinnert dich an einen Jungen aus deinen Bildern? Bist du dir sicher?«

Wir haben es uns im Coopa Club, einem hübschen Café unweit der Tower Bridge mit Blick auf die Themse gemütlich gemacht, vor uns stehen zwei Milchkaffe. Jill liebt es hier, und auch ich mag es, in den kleinen Holziglus zu sitzen und die Menschen um uns herum zu beobachten.

»Das hört sich sehr schräg an, oder? Ich meine, auf meinen Bildern hat er ja kein richtiges Gesicht. Trotzdem.« Ich greife nach meinem Glas und nehme einen Schluck. Das heiße Getränk tut mir gut und wärmt meinen Magen, der sich jetzt auch langsam beruhigt. Doch hin und wieder werfe ich doch einen Blick zurück zur Tower Bridge, die mit einem Mal unheimlich geheimnisvoll wirkt.

»Ach vergiss es. Das war alles nur eine oberpeinliche Aktion.«

Ich winke ab.

»Zeig lieber mal die Fotos, die du für Instagram gemacht hast.«

Ich weiß, damit treffe ich ins Schwarze, denn Jill liebt das Thema Fotos, und so zückt sie auch gleich ihr Handy. »Na schön, wie du willst.« Sie lächelt. »Aber glaub ja nicht, dass dieses Thema für mich schon gegessen ist.« Während sie auf dem Display herumtippt, weiten sich ihre Augen. »Amy, da sind echt richtig gute Aufnahmen dabei. Schau mal, wie gefällt dir das?« Sie dreht das Handy zu mir. Das Foto zeigt sie auf den Glasplatten. Sie steht auf einem Bein, was total witzig aussieht. »Wirkt beinahe, als würde ich mit einem Fuß in der Themse stehen. Genial, oder? Vor allem im Zusammenspiel mit dem Spiegel.«

»Ja, das ist wirklich gut«, pflichte ich ihr bei. »Das kannst du ruhig auf Instagram stellen, ich wette, das kommt gut an. Auch ohne Filter. Du machst KassiLondon noch Konkurrenz.« Sie ist ihre Lieblingsbloggerin.

»Meinst du? Warte, ich habe ja noch mehr Fotos. Willst du sie sehen?«

Schließlich gehen wir gemeinsam die anderen Bilder durch. Doch irgendwann schweifen meine Gedanken erneut ab. Erst als ich merke, dass Jill mich eindringlich mustert, fange ich mich wieder.

»Er geht dir einfach nicht aus dem Kopf, oder?«

»Was?« Ich zucke zusammen.

»Ist doch okay. Ich meine, er sah schon wirklich sehr gut aus.« Sie grinst, und ich rolle mit den Augen.

»Ach, eigentlich ist das doch total bescheuert, lenk mich bitte ab«, seufze ich.

Jill nickt.

»Ablenkung also, okay, da fällt mir ein, hast du dich schon wegen der Party im Closer entschieden?« Sie schaut mich erwartungsvoll an.

Tausend Gedanken machen sich in meinem Kopf breit. Ich muss es ihr sagen.

»Jill. Es ist nicht so, dass ich nicht will, aber das Geld ist recht knapp momentan. Mum arbeitet schon so viel und ich will nicht dauernd Tante May anschnorren.«

»Hey. Pass auf, Vorschlag: Ich lade dich ein, und wenn es wieder besser ist, dann bist du eben dran. Okay? Deal?«

Ich lache und stupse Jill in die Seite. »Na schön, Deal. Aber ich gebe es dir irgendwann zurück, versprochen.«

»Cool! Ich freue mich riesig. Und mach dir keine Gedanken.« Sie wischt durch ihr Handy und stoppt irgendwann.

»Okay, das ist interessant. Aber eigentlich ist es dir ja egal, also total egal. Und du willst es ja nicht sehen – selbst wenn da dieser geheimnisvolle Typ auf dem Foto wäre …« Sie sieht mich an und grinst.

Jetzt hat sie mich doch neugierig gemacht. »Echt jetzt? Er ist auf einem der Fotos?«

Sie reicht mir das Handy. »Hier, wirklich ganz zufällig aufgenommen, versprochen.«

Ich werfe einen Blick auf das Display, und als ich erkenne, was beziehungsweise wen Jill da zufällig festgehalten hat, wird mir heiß und kalt. Denn auf dem Foto ist unübersehbar der Junge von der Tower Bridge. Er ist ganz deutlich zu erkennen.

Mein Herz macht einen heftigen Satz, denn die Aufnahme hat genau diesen einen Moment eingefangen, als er nachdenklich aus dem Fenster blickte und die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben hatte, bevor er sie schließlich an die Scheibe legte. In mir kribbelt es ganz heftig.

Blinzelnd versuche ich, den Blick von ihm abzuwenden. Aber so einfach ist das nicht, denn er nimmt mich gefangen. Genau wie die Bilder, die ich vorhin dort oben vor mir sah und die jetzt plötzlich wieder greifbar sind. »Das ist merkwürdig«, sage ich. »Er kommt mir wirklich so bekannt vor. Da ist was an ihm, ich habe ihn bestimmt gezeichnet …«

Jills Blick wird sentimental. »Vielleicht ist das Schicksal!«

»Du immer mit deinem Schicksal.«

»Ist einfach so, alles ist irgendwie schicksalhaft und …«

Jill blickt auf die Uhr und stockt.

»Ach herrje, schon vier? Mist, ich muss dann mal. Ich habe Mum versprochen, mit Spooker rauszugehen.« Spooker ist ihr Hund, ein süßer, aber etwas frecher Beagle, und wenn Jills Mum, die als Krankenschwester in einem großen Londoner Krankenhaus arbeitet, Dienst hat, muss Jill sich um ihn kümmern.

Ich deute auf die Kellnerin, die gerade die Tische putzt. »Soll ich sie rufen?«

Jill schüttelt den Kopf. »Ach, weißt du was? Ich muss sowieso mal für kleine Mädchen. Ich gehe rein, zahle gleich drinnen und komme dann wieder.«

»Dann nimm mein Geld auch mit, okay?« Ich will in meiner Tasche nach dem Geldbeutel kramen, doch Jill legt mir die Hand auf den Arm. »Lass, ich lade dich ein. Und keine Widerrede.« Rasch steht sie auf und verschwindet im Inneren des Cafés.

Als sie gegangen ist, atme ich tief durch und lasse meine Gedanken schweifen. Was für ein verrückter Tag. Die Bilder, mein Gestolpere. Ganz versunken sitze ich da, als ich plötzlich eine Stimme dicht neben mir vernehme. »Hey, gehört der vielleicht dir?«

Ich zucke zusammen und blicke in stechend grüne Augen, die zu einem Jungen gehören. Sein Gesicht ist kantig, seine Haare hellbraun. Er trägt ein blaues Hemd und hält ein gelbgrün gestreiftes Tuch in der Hand.

»Der Schal lag da auf dem Boden, und ich dachte, ich frage dich mal.« Seine Stimme ist tief, und er lächelt mich an. Ein nettes Lächeln. Sofort fallen mir seine geschwungenen Lippen auf.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, der gehört mir nicht. Trotzdem danke.«

»Okay, dann hat ihn wohl jemand anderes verloren. Sorry, dass ich dich gestört habe.« Seine Augen haften auf mir, und für einen winzigen Moment kommt es mir vor, als hätte ich ihn ebenfalls schon mal gesehen.

»Kein Problem. War ja nett von dir.«

Er legt den Kopf schief und grinst. Merkwürdig. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, woher kenne ich ihn nur?

»Du gehst auf das St Michael’s College, oder?«

Ich deute auf das Wappen an meiner Schuluniform. »Du scheinst ein Hellseher zu sein.«

Erneut huscht ein Lächeln über sein Gesicht, während er in seine Hosentasche greift und etwas daraus hervorzieht. »Hier, für dich, falls du am Samstag noch nichts vorhast. Und bring ruhig eine Freundin mit, ich werde auch da sein. Soll eine richtig coole Party werden, deswegen ist der Einlass begrenzt.« Er reicht mir zwei bunte Karten, und ich lasse meine Augen darüberwandern.

Erst jetzt verstehe ich, was das ist. »Eintrittskarten ins Closer? Und die gibst du mir einfach so?«

»Na ja, nicht einfach so.« Er räuspert sich. »Eigentlich würde ich dich gern kennenlernen. Du bist mir schon auf der Tower Bridge aufgefallen.«

Daher kenne ich ihn also. Na klar, der Typ mit dem blauen Hemd.

»Ich bin übrigens Nathan, damit du weißt, nach wem du Ausschau halten musst.« Zu meiner Verwunderung steckt er den Schal ein.

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. »Kann es sein, dass der Schal dir selbst gehört?«

Seine Augen funkeln mich an, und er zwinkert mir zu. »Wäre möglich.«

»Dann war das mit dem Schal nur ein Vorwand?«

»Kann schon sein. Also dann, wir sehen uns.« Mit diesen Worten wendet er sich ab und geht davon, während ich dasitze mit einem etwas zu schnell schlagenden Herzen, auf die Karten in meiner Hand starre und gar nicht weiß, wie mir geschieht.

»Wow, der war ja süß. Was wollte er denn?« Als Jill zurückkommt, sieht sie mich fragend an, und ich reiche ihr die Karten. »Nein, das gibt’s nicht!«, kreischt sie. »Karten für die Party im Closer? Woher hast du die? Von ihm?«

Ich nicke.

»Was? Die hat der Typ dir einfach so gegeben?«

»Ja, keine Ahnung warum«, ich lächle sie schief an. »Aber ich vermute mal es war Schicksal.«

Kapitel 3

Als ich vor unserem Backsteinhaus in der Tooley Street angekommen bin, ziehe ich den Schlüssel aus meiner Tasche und schiebe ihn ins Schloss. Unser Haus ist nicht das schönste, trotzdem mag ich es. Es ist noch eines der alten Häuser, bei denen die Mieten erträglich sind, wenn man sie sich teilt. Und die Miete ist auch nur deshalb so niedrig, weil Tante Mays Familie das Haus schon lange bewohnt. Ich drücke die schwere Haustür aus dunklem Holz auf und komme in unseren schmalen Flur. Man kann von dort aus direkt ins Wohnzimmer blicken, wo Tante May auf dem Sofa sitzt und in einer Strickzeitschrift blättert. Ein beißender, etwas säuerlicher Duft steigt mir in die Nase. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie gekocht hat – oder wie auch immer man das nennen mag.

Sie hebt den Kopf. »Hallo, Liebes. Na, wie war der Ausflug?«

»Ganz okay«, antworte ich und stelle mich in den Türrahmen. »Diese Glasplatten im Boden waren mir irgendwie nicht geheuer.«

»Echt? Dabei hast du doch sonst keine Angst.«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung, war einfach merkwürdig.«

»Na ja, ich kann dich verstehen, für mich wäre das auch nichts. Ich frage mich, wer das braucht. Aber gut, für die Touristen ist es perfekt … Hast du Hunger? Ich habe eine Art Auflauf gemacht, und zum Nachtisch gibt’s Cookies. Der Auflauf ist selbst gemacht, die Cookies habe ich gekauft.« Wusste ich es doch. Deswegen der Geruch im ganzen Haus.

Sie bemerkt wohl, dass ich nicht wirklich weiß, was ich antworten soll, und lacht. »Im Kühlschrank habe ich auch ein paar Sandwiches für dich vorbereitet, falls du den Auflauf nicht magst. Deine Mum kommt heute leider wieder recht spät nach Hause.«

Wissend nicke ich. Mum kommt ständig spät – leider. Aber im Hotel ist immer unheimlich viel zu tun. Sie arbeitet im Langham, einem der bekanntesten Hotels der Stadt, in dem schon Monarchen und Staatsoberhäupter aller Länder genächtigt haben. Auch Oscar Wilde, Mark Twain, Angelina Jolie und Colin Farrell haben dort logiert. Ich weiß noch, wie Jill beinahe durchdrehte, als Mum davon erzählte. Sie wollte, dass Mum ihr unbedingt Bescheid gibt, wenn sich mal wieder ein Promi dort einmieten sollte.

»Danke, Tante May.« Ich gehe in die Küche und werfe einen kurzen Blick auf den Auflauf, der nicht nur merkwürdig riecht, sondern auch so aussieht. Eine Art Auflauf – ja, das trifft es in der Tat. Und so entscheide ich mich spontan für die Sandwiches und nehme mir dazu noch ein paar Cookies aus der Keksdose. Wie auf Kommando beginnt mein Magen zu knurren.

Tante May ist mittlerweile wieder in ihre Zeitschrift vertieft, und ich balanciere alles in Richtung Treppe, die hinauf in den ersten Stock führt, wo sich auch mein Zimmer befindet.

Den Treppenaufgang hat Tante May mit einer Unmenge von Fotos und Gemälden geschmückt. Ich muss zugeben, es sind wirklich hübsche Bilder darunter. Einige zeigen das alte London, andere Familienangehörige aus früheren Zeiten, unter anderem Tante Mays Schwester Kitty, die wohl bei einem U-Bahn-Unglück ums Leben kam. Tante May hat schon öfter erwähnt, dass ich sie an Kitty erinnere. Wir sehen uns tatsächlich ein bisschen ähnlich: Wir haben die gleiche Haar- und Augenfarbe. Noch dazu hat auch sie ein Muttermal am Kinn. Auf dem Foto sieht sie glücklich aus. Anfangs hatte ich beim Betrachten der Bilder oft ein mulmiges Gefühl, weil die meisten Menschen darauf schon tot sind – unter anderem mein Dad. Aber mittlerweile finde ich es schön, weil sie so nicht vergessen sind. Genauso wie Urgroßtante Claire, eine hübsche Frau, von der Tante May immer behauptet, dass ich ihr ebenfalls irgendwie ähnlich sehe. Soweit ich weiß, ist sie leider auch schon als junge Frau gestorben.

Als ich mein Zimmer betrete, schimmert das Licht von draußen herein. Während mein Blick zu dem großen Baum vor dem Fenster schweift, stelle ich den Teller auf dem hübschen geschnitzten Nachttisch ab. Ich mag dieses Zimmer. Ursprünglich war es wohl mal Tante Mays Arbeitszimmer, weswegen darin auch ein alter, massiver Schreibtisch steht. Doch nicht nur die Aussicht auf den Baum und die Straße ist schön. Auch das Bett ist groß und wirklich bequem, der Schrank ist aus hellem Holz und hat verzierte Intarsien an den Seiten.

Nachdem ich meine Tasche auf den Boden fallen gelassen und es mir im Schneidersitz auf dem Bett gemütlich gemacht habe, nehme ich mir ein Sandwich und schalte kauend den Fernseher ein. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, nicht mehr daran zu denken, aber irgendwie schweifen meine Gedanken doch immer wieder zu dem Jungen auf der Tower Bridge ab, gefolgt von den Bildern des Liebespaares, die ich gesehen habe, als sich unsere Finger berührten. Sie waren so real.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich stehe auf und hole mein Zeichenbuch vom Schreibtisch. In den letzten Jahren habe ich viele Bilder darin verewigt. Bilder, die plötzlich vor meinem geistigen Auge auftauchten – doch niemals waren sie so überdeutlich wie heute.

Als ich durch die Seiten blättere, bleibt mein Blick auf der Zeichnung eines Liebespaares hängen. Ich habe sie schon vor längerer Zeit gemalt und schon gar nicht mehr daran gedacht. Sie zeigt die beiden umgeben von Rosen in einem prächtigen Garten sitzend. Nun fällt mir auch wieder ein, wie ich darauf gekommen bin. Das Motiv rauschte mir seinerzeit plötzlich in den Kopf, als ich auf einem Markt in Notting Hill ein Rosenshampoo kaufte. Es muss der Duft gewesen sein, der das Bild in meinem Kopf auslöste. Zu Hause musste ich es dann sofort zeichnen. Mum war ganz begeistert davon, aber sie ist sowieso immer von meinen Bildern begeistert und meint, dass ich unbedingt mal Kunst studieren oder irgendwas anderes in dieser Richtung machen soll. Was auch mein Plan ist – vorausgesetzt, wir können uns die Studiengebühren leisten. Noch weiß ich nicht genau, wohin es gehen soll, eventuell auch zu einer Zeitschrift, einem Museum oder in Richtung Grafikdesign – ich bin da noch unentschlossen. Vielleicht lasse ich es am Ende aber auch ganz bleiben. Denn zu wissen, dass Mum auch deswegen so hart arbeitet, belastet mich ungemein.

Ich blättere weiter und blicke auf die Zeichnung einer Frau. Sie sitzt vor einem mächtigen Baum mit einem Gebäude im Hintergrund und trägt ein himmelblaues Kleid mit weißer Spitze. Irgendwann war das Motiv ebenfalls einfach da, und ich erinnere mich, dass ich beim Zeichnen eine gewisse Traurigkeit spürte und das Gefühl hatte, dass die Frau auf der Suche nach etwas ist oder auf etwas wartet.

Ein anderes Bild zeigt nur eine Brosche mit einer ungewöhnlichen Form, auf der eine Art Zeichen eingraviert ist, das ich aber nicht genau erkennen konnte. Es kam mir vor einiger Zeit in den Sinn, als ich an der Themse entlangspazierte, in der Nähe des Swan Pier.

Wieder fällt mir der Ausflug von heute ein und das, was ich gesehen habe. Die Bilder waren vorher schon da, dieses Liebespaar, das sich von der Brücke stürzte. Aber als der Junge und ich uns berührten, fühlte es sich zum ersten Mal total anders an. Es war wie ein Ausschnitt, der Form annimmt. Ich denke an das Paar und diese altmodische Kleidung, die auch sie trugen, an diese merkwürdigen verhüllten Männer, von denen sie verfolgt wurden, und an die Angst, die die beiden empfanden. Und daran, wie er zu ihr sagte, es sei an der Zeit, das Jahr 1900 zu verlassen, und sie schließlich von der Brücke sprangen. All diese Bilder wirken auf mich wie kleine Zeitreisen und auch wenn ich nicht weiß, was das alles bedeutet – ich muss es festhalten. Also greife ich nach dem Zeichenstift, setze auf dem Papier an und zeichne all das, was ich gesehen habe. Ich versinke darin, lasse Skizze um Skizze aus meinen Fingern fließen. Die beiden, wie sie dasaßen und über die Stadt blickten, wie sie sich an den Händen hielten. Dieses Etui. Es sah so ähnlich aus wie das des Jungen auf der Brücke. Ich denke an den Mantel, den das Mädchen über einem spitzenbesetzten Kleid trug. Ich zeichne die Männer in den Kutten, den einen von ihnen, der etwas Goldenes an seiner Kutte hatte und richtig düster wirkte. Und schließlich den Moment, als der Junge und das Mädchen hinabstürzten. Es geht mir ganz leicht von der Hand, und ich merke nicht mal, wie die Zeit verfliegt.

Als ich die fertigen Bilder betrachte, scheint alles real geworden. Wie immer ist da die Frage in meinem Kopf, wer die beiden sind und was ihre Geschichte ist, ob sie wirklich auf der Tower Bridge waren. Und vor allem, warum sie sterben mussten – oder eher wollten? Claire und Alan, so hießen sie, oder? Doch dann ermahne ich mich. Es ist nicht real, auch wenn es sich so anfühlt. Es sind nur Bilder.

Ich will den Stift gerade weglegen, als ich erneut an den Jungen denken muss. Mir war ja, als hätte ich ihn bereits gezeichnet, doch in der Mappe finde ich nichts, sooft ich sie auch durchsehe. Ich schließe die Augen, versinke in dem Moment, dann fange ich an, seine Züge zu malen. Es geht wie von selbst, als würde ich sie in- und auswendig kennen, und ich erschrecke selbst darüber. Es fühlt sich an, als würde der Moment immer und immer wieder vor mir lebendig werden.

Als ich fertig bin, starre ich einige Minuten lang auf das Bild, auf die Augen des Jungen, die Form seines Gesichts, seine vollen Lippen mit der etwas weniger ausgefüllten Oberlippe. Mein Herz schlägt heftiger in meiner Brust, und ich atme tief durch. Als wir uns berührten, war da irgendetwas in seinem Blick. Als hätte er es auch gesehen, als wäre da ein Geheimnis, das ich zu gern entschlüsseln würde.

Du bist irre, Amy Evans, eindeutig!

Das Klingeln des Telefons reißt mich zum Glück aus meinen Gedanken. Ich zucke zusammen und klappe das Buch zu. Als ich rangehe, höre ich Jills vertraute Stimme. »Hey! Na, wie oft hast du, seit du zu Hause bist, an den Jungen von der Tower Bridge gedacht? Und an diesen Nathan?«

Ich rolle mit den Augen. »Gar nicht«, antworte ich.

Doch sie lacht. »Ist klar. Und du hast ihn auch sicher nicht gemalt. Ich wette, dein Zeichenbuch liegt gerade vor dir.«

Ich muss lächeln. Jill kennt mich zu gut. »Na schön, ich habe ihn gezeichnet«, gebe ich schließlich zu.

»Wen? Nathan oder den anderen?«

»Den anderen«, sage ich, woraufhin sie kichert.

»Den du eigentlich schon mal gezeichnet hast?«

Ich seufze. »Ja, das dachte ich zumindest, aber ich habe ihn nirgendwo auf den Bildern gefunden. Vielleicht war es doch nur eine Einbildung.«

»Wie auch immer, ich habe auf alle Fälle Neuigkeiten, die ganz und gar keine Einbildung sind. Echte Neuigkeiten.

Pass auf, ich habe beim Gassigehen Mary Goose getroffen.« Mary ist die Tratschtante der Schule, arbeitet zudem bei der Schülerzeitung und hat immer die aktuellsten Informationen parat. »Nun, Mary meinte, wir bekommen zwei neue Schüler. Und jetzt rate mal, wer die beiden sind.«

Schon in der nächsten Sekunde macht es Pling, und als ich die beiden Fotos sehe, die Jill mir geschickt hat, kann ich nicht anders, als sie anzustarren. Für einen Moment bin ich völlig perplex. Auf einem der Fotos erkenne ich unschwer den dunkelhaarigen Jungen von der Tower Bridge, auf dem anderen Nathan, der mir heute die Eintrittskarten fürs Closer geschenkt hat.

»Jetzt bist du sprachlos, oder? War ich auch. Jedenfalls heißt der Junge mit der schwarzen Lederjacke, der dich so fasziniert hat, Louis Lamen, der andere Nathan, aber das weißt du ja bereits. Sein Nachname ist übrigens Kane, sein Vater ist ein gewisser Charles Kane.« Sie macht eine bedeutungsschwere Pause.

»Louis Lamen«, flüstere ich. Sein Name geht mir ganz leicht von der Zunge. Sofort muss ich wieder an unsere Begegnung denken. Nein, ich muss mich wieder fangen!

»Genau, Louis Lamen und Nathan Kane. Nathan gehört zu den Kanes, du verstehst?«

»Ähm, nein.«

»Ach, Amy, das ist eine ganz bekannte, alteingesessene Familie. Denen gehört vieles in London, unter anderem dieses riesige Anwesen aus dem achtzehnten Jahrhundert in der Nähe dieser einen Kirche. Warte, wie heißt die noch?« Sie schnippt so laut mit den Fingern, dass ich es durchs Telefon hören kann. »St. Appel’s Church, ja genau. Da steht auch dieses eine Haus mit diesem megaalten Baum davor. Der ist Hunderte von Jahren alt, hab ich mal gelesen.« Jill ist nun voll in ihrem Element, wie immer, wenn es um bekannte Persönlichkeiten geht, doch mir sagt das alles nichts. »Na ja, ist ja auch egal«, meint sie, als ich keine Antwort gebe. »Jedenfalls ist Nathan eine gute Partie und offensichtlich an dir interessiert.«

Ich starre auf sein Bild, auf dem er wirklich gut aussieht. Dann scrolle ich nach unten zu Louis’ Foto, und in meinem Bauch beginnt es sofort wieder zu kribbeln und zu ziehen.

»Aber jetzt sag schon, das sind doch Neuigkeiten, oder?«, hakt Jill nach.

»Allerdings«, entgegne ich nur, weil ich noch immer nicht meinen Blick von Louis abwenden kann.

»Mary hat erzählt, dass dieser Louis eigentlich nicht von hier ist. Er muss wohl auch schon Ärger gemacht haben. Angeblich ist es noch gar nicht ganz sicher, dass er auf der Schule bleiben darf, warum weiß ich allerdings nicht. Aber ich bin dran.«

Ich betrachte noch immer das Foto, doch dann klicke ich es weg.

»Ich hoffe, du kannst jetzt noch schlafen.« Wieder kichert Jill, und ich verdrehe die Augen.

»Natürlich kann ich noch schlafen. Und wenn schon, dann kommen die beiden eben auf unsere Schule. Ich meine, was heißt das schon? Nathan ist vielleicht reich, aber ein ganz normaler Typ. Und Louis auch, das denke ich zumindest mal.«

»Wenn auch mit einer schwierigen Vergangenheit«, gibt sie zu bedenken.