Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. BAND 1 - TITEL
  7. 1. Willkommen in Bunburry
  8. 2. Marge und Liz
  9. 3. Windermere Cottage
  10. 4. Der unbeweinte Verschiedene
  11. 5. Eine glückliche Ehe?
  12. 6. Ein Landspaziergang
  13. 7. Wahre Träume
  14. 8. Ein Tatzeuge
  15. 9. Café-Geplauder
  16. 10. Die Befragung der Verdächtigen
  17. 11. Die Mausefalle
  18. Epilog
  19. BAND 2 - TITEL
  20. 1. Die Bushaltestelle
  21. 2. Marge und Liz
  22. 3. Gussies Garage
  23. 4. Auftritt Mike
  24. 5. Eine Verhaftung
  25. 6. Der rätselhafte Fremde
  26. 7. Mikes Mutter
  27. 8. Lord Teflon
  28. 9. Zurück im Pub
  29. 10. Die Verfolgungsjagd
  30. Epilog

Über das Buch

»Urkomisch, unterhaltsam und sooo cosy … Macht es euch schon mal auf dem Sofa gemütlich!« (Paolo Primi, Audible-Magazin v. 6.3.2019) Folge 1: Willkommen in Bunburry! Alfie McAlister - sympathisch, gutaussehend und Selfmade-Millionär - hat in dem malerischen Städtchen in den Cotswolds ein Cottage geerbt. Das kommt wie gerufen, will er London nach einer schlimmen persönlichen Tragödie doch so schnell wie möglich verlassen, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber von Ruhe und Abgeschiedenheit keine Spur: Kaum in Bunburry angekommen, steckt Alfie schon mitten in einem Mordfall. Denn Liz und Marge, zwei alte Ladys und die besten Freundinnen seiner verstorbenen Tante Augusta, verpflichten ihn kurzerhand dazu, sich mit ihnen auf die Suche nach dem Täter zu machen. Doch dann gibt es einen zweiten Toten und die drei Amateur-Detektive müssen all ihre Schauspielkünste aufbieten, um den wahren Mörder zu entlarven ... Folge 2: Schon nach kurzer Zeit hat Alfie McAlister in Bunburry eine ganze Reihe netter Leute kennengelernt. Doch damit ist jetzt Schluss: Bei einer unfreiwilligen Spritztour muss der arme Alfie feststellen, dass es eine sehr schlechte Idee ist, es sich mit der örtlichen Polizei in Gestalt von Sergeant Wilson zu verderben. Besonders, da er sich kurz darauf an einem Tatort wiederfindet und der Sergeant überzeugt ist, dass nur Alfie der Mörder sein kann! Jetzt gibt es nur noch eine Möglichkeit: Alfie muss den wahren Mörder selbst aufspüren - und dafür seine schlimmste Angst überwinden ... eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

Über den Autor

Helena Marchmont ist das Pseudonym von Olga Wojtas. Die schottische Schriftstellerin hat 2015 den Scottish Book Trust New Writers Award gewonnen und bereits über 30 Kurzgeschichten veröffentlicht. Gerade ist auf Englisch ihr erster Roman »Miss Blaine‘s Prefect and the Golden Samovar« erschienen.

Helena Marchmont

Vorhang auf für einen Mord
Oldtimer sterben jung

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

Helena Marchmont

Vorhang auf für einen Mord

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

»Auf dem Land kann jeder gut sein.
Dort gibt’s keine Versuchungen.«

Oscar Wilde

1. Willkommen in Bunburry

Der Sturm wurde schlimmer, und ruckelnd kam der Zug auf freier Strecke zum Stehen. Alfie spähte hinaus in die schwarze Nacht, konnte jedoch nichts sehen außer dem Regen, der gegen das Fenster prasselte. Nichts hätte seinen Erinnerungen an die Cotswolds ferner sein können. Über dreißig Jahre lagen jene idyllischen Sommerferien nun zurück, die er bei seinen Großeltern verbracht hatte. Endlose sonnige Tage, an denen er auf den Hügeln umhertollte, Wälder erkundete und sich in Bächen abkühlte. Er war glücklich gewesen, weil es keinen Grund gegeben hatte, betrübt zu sein. Als Junge hätte er sich niemals den Kummer vorstellen können, der noch kommen sollte.

In seinem Gedächtnis waren ausschließlich Erinnerungen an Wochen im Juli und August, heute war jedoch ein Tag im November. Wie hieß es noch in diesem Gedicht? Keine Wärme, keine Heiterkeit, keine Früchte, keine Blumen, kein Laub, keine Vögel – November.

Seine Gedanken wurden von der Durchsage unterbrochen, die mit einem lauten Knistern begann: »Wir bitten um Entschuldigung für die Verspätung. Es liegen umgestürzte Bäume auf dem Gleis.«

Alfie fand, dass diese Begründung zumindest ein wenig besser war als die übliche, allenthalben verhöhnte Ausrede für Zugverspätungen, es gebe »Laub auf dem Gleis«.

Die blecherne Stimme, deren Nervosität bei allem Knarzen unüberhörbar war, fuhr fort: »Die umgestürzten Bäume sind auf den Sturm zurückzuführen, einen Umstand, der außerhalb unserer Kontrolle liegt. Wir warten darauf, dass die Strecke frei gemacht wird, und entschuldigen uns bei den Fahrgästen für die Unannehmlichkeiten.«

Im Waggon brach finsteres Gemurmel aus, das den Unmut der britischen Öffentlichkeit kundtat.

»Also wirklich!«, brummelte jemand.

»So dicht bei den Gleisen dürften überhaupt keine Bäume stehen«, murmelte ein anderer.

Alfie schlug sein Buch wieder auf, eine neue Oscar-Wilde-Biografie, die in sämtlichen Zeitungen hymnisch gelobt worden war. Wie er nach einer Weile feststellte, war er so in Gedanken versunken, dass er automatisch die Seiten umblätterte, ohne die Worte aufzunehmen. Als er zum Anfang zurückkehrte, klappte das Buch auf der Titelseite auf. Schmunzelnd fragte er sich, was andere Leute von der in Tinte geschriebenen Widmung wohl halten würden:

Für Alfie
Genieße das Bunburrysieren
Oscar

Manchmal überlegte er, ob Oscar sich für eine Art Reinkarnation seines Namensvetters hielt. Sein Freund war besessen von allem, was mit dem berühmten Schriftsteller Oscar Wilde zu tun hatte, zitierte ihn in einem fort und war bekannt dafür, seinen Dandy-Look mit einer grünen Nelke abzurunden, dem Markenzeichen des wahren Wilde-Kenners. Wenn Oscar sagte, dies sei das beste Buch, das jemals über Wilde geschrieben wurde, dann würde Alfie nicht widersprechen.

Als er sich gerade daranmachte, richtig zu lesen, glitt die Waggontür mit einem leisen Zischen auf, und ein junger Schaffner kam herein, der merklich besorgt wirkte. Alfie vermutete, dass ihm die körperlose Stimme gehörte, die vorhin die Durchsage gemacht hatte. Unsicher erklärte der junge Mann, dass es mindestens eine Stunde dauern würde, bis die Gleise frei geräumt waren.

Es wurde lauthals protestiert; die Fahrgäste klagten über verpasste Anschlüsse, besorgte Ehepartner und ruinierte Einladungen zum Abendessen. Der unglückliche Schaffner, der bereits einen Spießrutenlauf durch die anderen Wagen hinter sich haben musste, sah aus, als erwöge er ernsthaft, wegzulaufen und zum Zirkus zu gehen.

Alfie sprang ihm bei. »Es ist nicht Ihre Schuld, nur Pech«, verkündete er mit leicht erhobener Stimme, damit ihn die anderen Fahrgäste hörten. »Sagen Sie, ist der Bistrowagen noch unterwegs?«

»Direkt hinter mir, Sir«, antwortete der Schaffner eifrig.

»Großartig«, sagte Alfie. »Nach einer Tasse Tee sieht alles gleich besser aus.«

»Dann haben Sie den hier noch nicht probiert, Freundchen – das ist Plörre!«, ertönte eine Stimme vom anderen Ende des Waggons.

»Danke für die Warnung!«, rief Alfie zurück. »In dem Fall werde ich auch einen Gin-Tonic nehmen, und alles sieht noch viel besser aus.«

Es wurde gekichert, und Leute begannen sich zu unterhalten.

»Den Tee hatte ich noch nicht, aber der Kaffee ist wirklich nicht schlecht.«

»Nein, ich glaube, sie benutzen diese Arabica-Bohnen, Sie wissen schon, die guten.«

»So spät darf ich keinen Kaffee mehr trinken. Dann bleibe ich die ganze Nacht wach.«

»Bei dem sicher nicht. Arabica hat viel weniger Koffein. Es ist dieses Instant-Zeug, das einen umbringt.«

»Haben Sie die Haferriegel probiert? Die sind lecker.«

»Nein, ich bin nicht so für Süßes. Ich mag lieber Salt-and-Vinegar-Chips.«

Der Schaffner sah Alfie dankbar an, weil er die Situation entschärft hatte. »Kann ich Ihnen bei Ihrem Anschluss helfen, Sir?«, fragte er.

Alfie schüttelte den Kopf. »Ich steige an der nächsten Haltestelle aus.«

»Oh, in Bunburry? Wir dürften keine fünf Meilen mehr davon entfernt sein. Sie könnten praktisch zu Fuß gehen.«

Weiterhin trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Alfie stellte sich vor, wie er sich auf den Weg durch die Dunkelheit machte, seinen Koffer hinter sich herziehend. Im Geiste sah er sich von einer wütenden Herde Kühe zu Tode getrampelt und erschauderte. Keine erheiternde Vorstellung. Denk an etwas anderes!

Eine neue Stimme erklang. »Wünschen Sie etwas, Sir?«

Erleichtert wandte Alfie sich dem Bistrowagen zu. Er könnte einen Gin-Tonic bekommen, wenn er wollte, doch angesichts des scheußlichen Wetters war ihm eher nach einem Heißgetränk. Er entschied sich für Kaffee, dazu ein Schinken-Käse-Brötchen und einen Haferriegel. Der Kaffee war genießbar, aber eindeutig ein Instantgetränk. Er dachte über die unerschöpfliche menschliche Fähigkeit nach, sich von etwas zu überzeugen, das definitiv nicht der Wahrheit entsprach; einer der vielen Aspekte, die ihn während des Psychologiestudiums fasziniert hatten. Er bezweifelte nicht, dass seine Mitreisenden problemlos schlafen würden, obwohl sie dieses sehr koffeinhaltige Zeug tranken.

Das Brötchen war sättigend, aber nicht besonders köstlich. Doch als er in den Haferriegel biss, hatte Alfie das seltsame Gefühl, in der Zeit zurückzureisen und wieder acht Jahre alt zu sein. Es war nicht das Gleiche, und doch war da etwas an dieser Bissfestigkeit und Süße, was ihm vertraut vorkam. Er sah sich in der Küche seiner Großmutter, wie er das erste Mal einen zögerlichen Bissen von einer viereckigen Süßigkeit nahm, bevor er sich den Rest in den Mund stopfte, um sie vollständig auszukosten. Seine Mutter, die ihn zu den Großeltern gebracht hatte, lächelte ihn an. »Gut, nicht? Das ist Bunburry-Karamell, das beste Karamell in den Cotswolds.«

Bis zu diesem Augenblick hatte er das Bunburry-Ka‍ra‍mell vollkommen vergessen. Wahrscheinlich hatten sich auch alle anderen nicht mehr daran erinnert. Noch ein Teil seiner Kindheit, der nicht wiederkäme. Er aß den Rest des Riegels und wandte sich erneut dem Oscar-Buch zu.

Als er knapp das erste Kapitel gelesen hatte, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch den Waggon, begleitet von spärlichem Applaus. Keine zehn Minuten später erklang die Stimme des Schaffners über die Sprechanlage, diesmal entspannter. »Nächster Halt: Bunburry. Wenn Sie den Zug verlassen, achten Sie bitte darauf, all Ihre persönliche Habe mitzunehmen.«

Während Alfie seinen Mantel überzog, fragte er sich vage, was unpersönliche Habe sein könnte. Er hob seinen Koffer aus dem Gepäcknetz, verstaute das Buch sorgfältig im vorderen Fach und nahm seinen Taschenschirm heraus.

Er war der Einzige, der in Bunburry ausstieg. Auf dem Bahnsteig peitschte ihm sogleich ein Schwall Wasser ins Gesicht. Er mühte sich ab, den Schirm auszuklappen, während der Zug in Richtung Cheltenham wegtuckerte. Sein Mantel war nicht wasserfest, und bereits jetzt rannen ihm Regentropfen den Nacken hinab.

Nirgends war ein Lebenszeichen zu sehen. Bunburrys Bahnhof war nicht mit Personal ausgestattet. Die Lichter verschwammen im herabprasselnden Regen, und Alfie konnte nicht erkennen, was sich hinter ihnen befand. Ihm wurde bewusst, dass er sich so gut wie gar nicht an den Ortsplan des Dorfes erinnern konnte. Allerdings war er sicher, dass er über die Eisenbahnbrücke musste. Dort hatte er oft mit Kindern aus dem Ort gestanden und zugesehen, wie die Züge unter der Brücke hindurchdonnerten, während die Sonne am Himmel strahlte. Jetzt aber, als er die Eisenstufen hinaufstieg, erwischte ihn eine Sturmbö und entriss ihm den Schirm. Er blickte dem davonwirbelnden Regenschutz hinterher, der wohl zu einer neuen Ursache von Zugverspätungen werden könnte: Schirme auf den Gleisen.

Auf der anderen Seite der Brücke fand er eine schlecht beleuchtete Anschlagtafel mit der Überschrift »Informationen für den Weitertransport«. Er benutzte das Licht seines Handys, um sie zu lesen. »Es gibt keinen Taxistand in Bahnhofsnähe«, stand dort. »Die nächste Bushaltestelle befindet sich vor dem Postamt, ca. 750 m von hier. Das Dorfzentrum ist 1,2 km entfernt – ca. 15 Minuten Fußweg.«

Darunter befand sich eine Karte, auf der jedoch weder ein Postamt noch eine Bushaltestelle oder sonstige Orientierungshilfen markiert waren. Alfie schob die Holzpforte unter dem Schild »Ausgang« auf und ging vorsichtig durch eine schmale dunkle Gasse. Sein Mantel war bereits vollkommen durchnässt. Seine teuren italienischen Lederschuhe waren für Promenaden oder Kunstgalerien gemacht, nicht für eisige Pfützen oder tückisches Kopfsteinpflaster. Inzwischen waren auch seine Socken ganz nass, und er wünschte, er wäre wieder im Zug, am liebsten auf dem Rückweg nach London.

Er stapfte bis zum Ende der Gasse und betrachtete das Gewirr regengesprenkelter Häuser. Es fühlte sich sehr viel länger als fünfzehn Minuten an, bis er sich in halbwegs vertraut scheinender Umgebung wiederfand. Er war sich ziemlich sicher, dass er, wenn er am Ende der Straße nach rechts bog, zu seinem Zielort gelangen würde, dem Drunken Horse Inn. Er war noch nie in dem Pub gewesen, doch er galt als feste Institution im Dorf.

Als er in die, wie er hoffte, richtige Richtung ging, bemerkte Alfie ein Werbebanner, das erbärmlich im Regen und Wind flatterte. Es war nur an einer Seite befestigt, sodass es sich um sich selbst gewickelt hatte und unmöglich zu lesen war. Eine ziemlich ineffektive Form der Werbung, dachte er. Zwischen Zurückhaltung und Inkompetenz verlief manchmal nur eine schmale Linie. Sah so das Dorfleben im Allgemeinen aus? Und, wichtiger noch, war dies die beste Übernachtungsadresse in diesem Ort?

Er bog um die Ecke, und dort war das Drunken Horse am Ende der Straße. Das Wirtshaus sah betrunkener aus, als Alfie es in Erinnerung hatte. Das Gebäude war regelrecht in Schieflage: Es stellte eine Verbindung aus drei oder vielleicht auch vier Trakten dar, die teils ein-‍, teils zweigeschossig waren und die nur lose miteinander verbunden schienen. Er hoffte, der Bau würde den Sturm besser überstehen als das Banner.

Fröhlicher Lärm drang aus dem Pub, als er sich der Eingangstür näherte. Alfie war klar, dass die Geräusche verstummen würden, sobald er eintrat. Pints blieben unangerührt, wenn sämtliche Einheimischen den Neuankömmling beäugten. Das hatte er so an London gemocht – die Anonymität der Großstadt. Keiner wusste, wer man war, und, noch besser, es war allen egal. In Bunburry würde Alfie öffentliches Eigentum sein.

Er schlang seinen tropfenden Mantel fester um sich, packte den Griff seines Koffers energischer, holte tief Luft und drückte die Tür auf.

Niemand beachtete ihn. Ebenso gut hätte er unsichtbar sein können. Er ging hinüber zu dem altmodischen Holztresen, an dem mehrere Männer hockten und sich über den Gemeinderat beklagten. Sie ignorierten Alfie, als er sich an ihnen vorbeibeugte, um zu sehen, ob jemand bediente.

»Verzeihung!«, rief er der Bedienung zu, die am anderen Ende mit einem Gast plauderte. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte freundlich. Das passierte Alfie oft, und es machte einen Großteil seines Charmes aus, dass er schlicht annahm, es ginge allen so. Er hatte wirklich keine Ahnung, was für ein attraktiver Mann er war oder welche Wirkung er auf viele vom anderen Geschlecht und einige von seinem eigenen hatte.

»Hallo«, grüßte er, als die Bedienung näher kam. »Ich bin Alfie McAlister. Ich habe ein Zimmer für zwei Nächte gebucht.«

Sie kramte unter der Theke herum und holte eine Art Kassenbuch hervor. Das schlug sie auf und wanderte eine Seite mit dem Finger ab. »Ah ja«, sagte sie. »Mr McAlister.« Anscheinend hielt man im Drunken Horse nichts von Online-Reservierungen. Sie griff nach oben zu einem Schlüssel, an dem ein Stück Holz hing. Es diente als Schlüsselanhänger, in das die Information »Zimmer 3, Drunken Horse Inn, Bunburry« geschnitzt war. Von Schlüsselkarten hielt man hier offenbar auch nichts. Was sich nicht gut anließ.

»Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer.«

Alfie folgte ihr durch eine Tür hinten im Raum.

»Sind Sie zum ersten Mal in Bunburry?«, fragte sie, als sie vor ihm eine enge Holztreppe hinaufstieg.

»Als Kind war ich oft hier, um meine Großeltern zu besuchen.«

»Ah, das ist nett. Besuchen Sie sie jetzt auch?«

»Nein«, antwortete Alfie. »Sie sind vor einigen Jahren gestorben.« Vor dreißig Jahren, um genau zu sein, als Alfie zwölf war.

»Wie schade«, sagte die Bedienung. »Aber so ist es eben mit Großeltern, nicht?«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Alfie ihr höflich bei.

Sie gingen jetzt durch einen Korridor, der sich bedenklich neigte.

»Dann sind Sie nur fürs Wochenende hier, um Erinnerungen aufzufrischen?«

»Vielleicht länger«, erwiderte Alfie. »Ich besitze ein Cottage in der Love Lane, allerdings habe ich das noch nicht gesehen. Ich habe es vor Kurzem von meiner Tante Augusta geerbt.«

Die Bedienung fuhr herum und sah ihn betroffen an. »Es tut mir so leid; ich habe ja nicht geahnt, dass Sie der Neffe aus London sind«, hauchte sie. »Wir alle vermissen sie schrecklich, aber für Sie als Verwandten muss es noch viel schlimmer sein. Im Namen aller im Drunken Horse – unser aufrichtiges Beileid.«

»Danke, das ist sehr freundlich«, murmelte Alfie.

Sie hatten das Ende des Korridors erreicht und waren nun in einem der Seitentrakte. Die Bedienung steckte den Schlüssel ins Schloss von Zimmer 3 und drehte ihn herum. Alfie wappnete sich für das Grauen, das ihn hinter der Tür erwarten mochte. Alles, was er brauchte, war ein Platz zum Schlafen. Und egal, wie furchtbar dieser Raum auch sein mochte, es musste zumindest ein Bett drinnen sein. Die zweite Nacht könnte er morgen immer noch stornieren.

»Sie sind noch rechtzeitig für ein Abendessen unten gekommen«, teilte die Bedienung ihm mit, als sie die Tür öffnete.

Alfie hatte keine Lust auf ein schlechtes Fertiggericht, das in der Mikrowelle erhitzt worden war. »Danke, ich habe im Zug gegessen.«

»Für Tee und Kaffee finden Sie alles im Zimmer«, sagte sie und trat beiseite, um ihn durchzulassen.

Alfie stand ungläubig da. Dicke Deckenbalken und weiß getünchte Wände. Polierter Dielenboden mit antiken Teppichen. Ein Himmelbett mit Samtvorhängen. Dezente, aber effektive Zentralheizung. Ein Flachbildfernseher. Eine sehr moderne Kaffeemaschine.

»Alle Zimmer haben ein direkt angeschlossenes Bad«, fuhr die Bedienung fort und öffnete eine weitere Tür. Das Badezimmer war verblüffend modern mit Wanne und Dusche sowie mit Spiegeln, die vom Boden bis zur Decke reichten. Ein großer Bademantel hing an der Wand, aus dessen Tasche ein Paar Frottee-Hausschuhe lugte.

»Ich hoffe, es ist zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte die Bedienung unsicher.

»Bestens«, antwortete Alfie. »Bestens.«

»Morgen ist Samstag, also gibt es Frühstück erst ab halb acht und bis halb elf«, teilte sie ihm mit und legte den Schlüssel auf die Mahagoni-Kommode. »Falls Sie irgendetwas brauchen, wählen Sie einfach die Null. Und das mit Ihrer Tante tut mir leid. Wenigstens hatte sie ein gutes Leben, und es muss ein Trost für Sie sein, dass sie im Schlaf gestorben ist.«

»Ja, ein großer Trost«, sagte Alfie, der dies zum ersten Mal hörte. »Vielen Dank!«

»Dann gute Nacht«, verabschiedete sich die Bedienung und ging zurück nach unten.

Sowie er allein war, zog Alfie seine durchnässten Sachen aus und gönnte sich ein heißes Bad. Er hatte der sympathischen Bedienung nicht sagen wollen, dass er sich so gut wie gar nicht an seine Tante Augusta erinnerte. Ihm war vage das Bild von einer großen Frau im Gedächtnis haften geblieben, die seltsame, grellbunte Kleidung getragen hatte und hin und wieder seine Großeltern besuchen kam. An ihr Gesicht konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Noch vager – so vage, dass es vielleicht nicht mal stimmte – war die Erinnerung an irgendeinen Streit zwischen ihr und seiner Mutter. Seine Mutter hatte nie wieder von seiner Tante gesprochen, doch eigentlich hatte sie insgesamt wenig von ihrer Familie geredet. Es gab so vieles, was er gerne wissen würde, und er wünschte sich, dass er sie hätte fragen können.

Und es gab auch so vieles, was er Tante Augusta hätte fragen wollen. Gewiss hatte er nie erwartet, irgendwas von ihr zu erben, von einem ganzen Cottage ganz zu schweigen. Ein Cottage, von dem er hoffte, dass es die ideale Zuflucht für ihn wäre, solange er ergründete, was er als Nächstes tun wollte. Zumindest fühlte er sich nun ein wenig zuversichtlicher, was dieses Unterfangen anging – trotz Oscars Skepsis.

Er trocknete sich ab, zog den Bademantel und die Hausschuhe an, nahm sein Handy und machte ein Foto von dem stattlich eingerichteten Schlafzimmer. Das Bild schickte er an Oscar mit der Nachricht: »Bunburrysieren hat angefangen. Alles gut.«

Innerhalb einer Minute war Oscars Antwort da: »Auf dem Land kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt’s keine Versuchungen.«

Kopfschüttelnd wandte Alfie sich der Kaffeemaschine zu, die einen exquisiten Cappuccino zubereitete. Auf einem Tablett neben der Maschine waren eine Auswahl edler Teebeutel, weißer und brauner Zucker, Süßstoff und eine kleine Zellophantüte mit einer roten Schleife. Alfie hob sie hoch. Das waren doch bestimmt nicht …? Doch, waren es. Er zog die Schleife auf, öffnete die Tüte und griff nach einem der beigen Quadrate. Sogleich biss er hinein. Es war genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Schiere Ekstase. Das beste Karamell in den Cotswolds.

2. Marge und Liz

Treu der typischen Unberechenbarkeit des englischen Klimas, brach der nächste Tag klar und frisch an. Von seinem Zimmer im ersten Stock aus blickte Alfie über sattgrüne Hügel und von Raureif gepuderte Wiesen. Als Kind hatte er die Aussicht nie richtig gewürdigt; für ihn war das Land ein riesiger Spielplatz gewesen. Oscar würde Bunburry gewiss als einen Ort abtun, an dem nie etwas passierte, doch sogar er müsste zugeben, dass hier auf eine sehr schöne Art nie etwas passierte.

Unten dirigierte man Alfie in einen kleinen hellen Speisesaal, wo er beschloss, den Wetterumschwung mit einem englischen Frühstück zu feiern. Auf seinem Teller wäre unmöglich noch mehr Essen unterzubringen gewesen: ein perfekt pochiertes Ei, Bacon, Würstchen, gegrillte Tomaten, gebackene Bohnen, ein Kartoffel-Scone und ein mysteriöser Haufen von etwas, das Alfie zunächst für Puy-Linsen hielt. Als er vorsichtig darin herumstocherte, stellte er fest, dass es Haggis sein musste. Selbst ein in London geborener McAlister sollte mit Schottlands Nationalgericht fertig werden, dachte er, kostete vorsichtig und entdeckte, dass es sehr gut schmeckte. Beinahe schaffte er den mit Landbutter und dick mit Marmelade bestrichenen Vollkorntoast nicht mehr, doch er hielt durch und spülte alles mit frisch gepresstem Orangensaft und englischem Frühstückstee herunter.

Dann zog er seinen Mantel an, der über Nacht im warmen Badezimmer getrocknet war, und ließ sich den Weg zum Jasmine Cottage beschreiben. Dies war das Zuhause von Miss Margaret Redwood und Miss Clarissa Hopkins, den besten Freundinnen und Nachlassvollstreckerinnen von Tante Augusta.

Im strahlenden Sonnenschein wirkte das Drunken Horse eher malerisch als verfallen. Der goldene Sandstein der Dorfhäuser leuchtete förmlich. Alfie schlenderte an den Grünstreifen neben den Straßen entlang, kam an gepflegten und ungepflegten Cottage-Gärten vorbei, an einem verlockenden Café sowie einem indischen Restaurant namens »From Bombay to Bunburry«.

Schließlich erreichte er das Jasmine Cottage: ein hübscher zweigeschossiger Bau, dessen leicht abfallender Vorgarten von einer niedrigen Mauer eingerahmt wurde. Alfie stieg die drei Stufen hinauf zu einer weißen Gartenpforte und blieb stehen.

Er erinnerte sich an Oscars ziemlich abschätzige Äußerung über Miss Redwood und Miss Hopkins.

»Die werden stocktaub sein«, hatte er behauptet, »halb blind und völlig gaga. Sie werden nicht den leisesten Schimmer haben, wer du bist, und dich wahrscheinlich wegen Hausierens verhaften lassen.«

Aber es nützte nichts. Sie hatten die Schlüssel zu Tante Augustas Cottage. Alfie atmete tief durch und drückte die Klingel, die ein angenehm altmodisches Ding-Dong von sich gab.

Drinnen waren flotte Schritte zu hören, die sich dem Eingang näherten; so forsch stapfte gewiss keine gebrechliche alte Frau einher. Die Tür ging auf, und es erschien eine kleine, zierliche, weißhaarige Frau mit einer zu großen Brille.

Sie blinzelte ihn eine Sekunde lang an, ehe sie verzückt »Alfie!« kreischte und die Arme um ihn schlang. »Er ist hier! Alfie ist hier!«, rief sie ins Haus.

»Woher wissen Sie, dass ich es bin?«, fragte er.

»Oh, wir haben Sie gegoogelt«, erklärte sie. »Und ich muss sagen, Sie sehen noch attraktiver aus als auf Ihren Fotos.«

Ihm blieb die Peinlichkeit erspart, hierauf reagieren zu müssen, denn eine größere, molligere Frau mit dauergewelltem blondem Haar kam zur Tür.

»Oh, Alfie«, sagte sie und ergriff seine Hand mit ihren beiden. »Es ist entzückend, Sie kennenzulernen. Ich wünschte nur, es wäre unter anderen Umständen.«

Alfie hatte den merkwürdigen Eindruck, das süßliche Bunburry-Karamell zu riechen. Es musste eine Art olfaktorische Halluzination sein.

»Kommen Sie rein, kommen Sie«, drängte die zierliche Frau. »Etwas zu trinken? Vielleicht einen kleinen …?«

»Einen kleinen Tee?«, fiel ihr die größere Frau mit fester Stimme ins Wort, und Alfie war, als würde ihre Gefährtin plötzlich ein wenig enttäuscht aussehen.

»Danke, aber ich habe eben sehr ausgiebig gefrühstückt«, antwortete er. »Im Moment könnte ich absolut nichts mehr in mich reinkriegen.«

»Sie werden das Cottage sehen wollen«, vermutete die größere Frau. »Ich muss nur schnell die Schlüssel holen.«

»Danke«, sagte Alfie, als sie im Haus verschwand. »Miss Redwood? Miss Hopkins?«

»Ach, um Himmels willen, Alfie, bei uns dürfen Sie nicht so förmlich sein«, entgegnete die kleinere Frau. »Und nur zur Information: Wir haben beschlossen, uns Ms zu nennen, nicht Miss. Ist moderner, finden Sie nicht auch?«

»Ja«, stimmte Alfie ihr zu. »Sehr modern.«

Die größere Frau kehrte mit zwei Schlüsselbunden zurück, die sie ihm reichte. »Die gehören jetzt Ihnen«, erklärte sie.

»Vielen Dank, Ms Hopkins? Ms Redwood?«

Die größere sah die kleinere Frau tadelnd an. »Ich habe geglaubt, du hättest uns inzwischen richtig vorgestellt, meine Liebe.« Dann drehte sie sich zu Alfie um. »Dies ist Marge, und ich bin Liz. Möchten Sie lieber allein zum Cottage gehen?«

Alfie wurde klar, dass er es definitiv nicht wollte. Es käme ihm wie ein unerwünschtes Eindringen vor, einfach in Tante Augustas früheres Heim zu marschieren. Ihre engsten Freundinnen, die sie fraglos immerzu besucht hatten, wären genau die Richtigen, um ihn herumzuführen.

»Macht es Ihnen etwas aus, mit mir zu kommen?«, fragte er. »Natürlich nur, wenn Sie im Moment nicht zu beschäftigt sind.«

Marge winkte ab, als wäre schon die Andeutung albern, sie könnten anderes zu tun haben. »Alles, was wir tun können, um Ihnen zu helfen, machen wir gerne, Alfie; Sie brauchen nur zu fragen.«

Alfie bekam ein schlechtes Gewissen. Wie die Bedienung im Pub gestern Abend waren die beiden mitfühlend, weil sie glaubten, er hätte einen nahestehenden Menschen verloren. Tante Augusta mochte auf einem benachbarten Zweig seines Familienstammbaums stehen, doch er hatte sich ihr nicht näher gefühlt als irgendeinem Mitreisenden gestern Abend im Zug.

Liz holte ihre Mäntel, und sie begleiteten Alfie durchs Dorf, wobei Marge unterwegs erzählte, wer in welchem Haus lebte. »Und das dort ist Rakesh Choudhurys Cottage«, sagte sie nach einer Weile. »Ihm gehört das indische Restaurant im Ort.«

»Ja, das habe ich gesehen. Ist es gut?«, erkundigte sich Alfie.

»Wunderbar«, antwortete Liz. »Er serviert alle möglichen Regionalküchen: portugiesisch-indisch, bengalisch, kaschmirisch. Das Wort ›Bombay‹ im Restaurantnamen hat er nur wegen der Alliteration gewählt.«

»Ich sage ihm dauernd, dass es Mumbai heißen muss«, merkte Marge dazu an.

»Das ist kultureller Imperialismus, meine Liebe. Er darf es nennen, wie er will.«

Marge ignorierte den Einwand und zeigte zu einem kleinen Haus auf der anderen Straßenseite. »Da wohnen die Fairchilds – Amelia und Henry. Die werden Sie schon recht bald kennenlernen, denn sie betreiben den Supermarkt. Sie haben ihn vor ungefähr anderthalb Jahren von Amelias Eltern übernommen.«

»Und führen ihn vielleicht nicht ganz so gut wie ihre Vorgänger«, murmelte Liz.

Sie bogen um eine Ecke, und Alfie sah das lose flatternde Banner vom Abend zuvor wieder, das immer noch nur an einem Ende befestigt war.

»Ach du meine Güte«, entfuhr es Marge. »Tja, ich vermute, sie müssen es so lassen. Es könnte ein Beweisstück sein.«

»Beweisstück?«, fragte Alfie interessiert. »Wofür?«

»Na, am Dienstagabend …«, begann Marge.

Doch Liz unterbrach sie sofort. »Alfie, ich hoffe, Sie finden alles im Cottage zu Ihrer Zufriedenheit. Wir haben praktisch nichts verändert, aber Ihre Tante hatte uns aufgetragen, dass ihre Kleidung dem Wohlfahrtsladen gespendet werden sollte. Und es gab einige Kleinigkeiten, die bestimmte Leute bekommen sollten.«

»Ich verstehe nicht«, erwiderte Alfie verwirrt. »Ich dachte, sie wäre vollkommen unerwartet im Schlaf gestorben.« Wie konnte sie da Marge und Liz noch irgendwas mitgeteilt haben?

»Ja, es war sehr friedlich. Eine gute Art zu gehen«, antwortete Marge. Im nächsten Augenblick gab sie ein Glucksen von sich. »Ah, ich verstehe, was Sie meinen! Keine Sorge, Alfie, wir haben keine Nachricht aus dem Jenseits bekommen.«

»Marge, meine Liebe«, sagte Liz streng. »Das ist wirklich kein Thema, über das man scherzt.«

»Aber kannst du dir vorstellen, wie Gussie bei einer Séance auftaucht? Nein, Alfie, Sie würden Gussie sicher nicht dabei antreffen, wie sie abwartend irgendwo herumsitzt – für den Fall, dass ein Medium fragt, ob jemand da ist. Sie dürfte in der nächsten himmlischen Cocktailbar sein, mit den Kellnern flirten und handgerollte kubanische Zigarren rauchen.«

»Wirklich?«, fragte Alfie matt.

»Wirklich«, bestätigte Marge. »Auf einer Wolke zu hocken und Harfe zu spielen würde für Gussie nicht infrage kommen. Sie hält nichts von Langeweile.«

Liz griff nach Alfies Ärmel, damit er stehen blieb. »Hier wären wir«, sagte sie. »Windermere Cottage.«

Das Haus war lang gezogen und niedrig, wurde von Sträuchern eingerahmt und hatte eine leuchtend violette Tür sowie leuchtend violette Fensterrahmen. Drei Kutschenlaternen hingen an der massiven Steinmauer.

Alfie schloss die Haustür auf und ließ Liz und Marge höflich den Vortritt, ehe er ihnen ins Cottage folgte. Es gelang ihm nicht, seinen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken. Die Wohnzimmerwände waren in einem psychedelischen Albtraum aus pink- und lilafarbenen, schwarzen und weißen Wirbeln gehalten. Bei längerem Hinsehen würden sie ihm eine Migräne bescheren. Plötzlich erinnerte er sich an die vermeintlich letzten Worte von Oscar Wilde: »Meine Tapete und ich kämpfen ein Todesduell. Entweder sie muss gehen oder ich.« (Der Biograf, in dessen Werk Alfie diese Sätze gelesen hatte, war allerdings sehr darauf bedacht, zu betonen, dass Wilde diese beiden Sätze in Wirklichkeit mehrere Wochen zuvor gesagt hatte.)

»Gussie liebte die Siebziger«, erklärte Marge. »Möchten Sie das Schlafzimmer sehen?«

»Einen Moment noch.« Alfie sank auf ein schwarzes Ledersofa.

»Ich mache Ihnen eine Tasse Tee«, sagte Liz. »So was ist immer gut bei einem Schock. Wir haben Ihnen einige Sachen gekauft, nur damit Sie etwas im Haus haben.«

»Oder hätten Sie vielleicht lieber einen Gin?«, schlug Marge vor, die bereits auf einen Barschrank mit Glastür in der Zimmerecke zusteuerte.

Widerstand war zwecklos. Sie waren entschlossen, ihm irgendeine Flüssigkeit aufzudrängen, ob er wollte oder nicht. »Tee wäre gut«, antwortete Alfie.

Liz begab sich mit einem zustimmenden Nicken in die Küche.

»Jedenfalls …«, sagte Marge und nahm in einem der breiten schwarzen Ledersessel Platz, »fand Gussie stets Gefallen daran, den Eindruck zu erwecken, sie wäre total plemplem; dabei hatte sie einen messerscharfen Verstand. Als wir ihr Testament bekamen, hatte sie noch einen Nachtrag verfasst, demzufolge wir ihre Kleidung und einige andere persönlichen Sachen weggeben sollten, damit Sie direkt einziehen können. Dann waren da noch einige kleinere Erbstücke, hauptsächlich Schmuckstücke. Aber das meiste ist noch da.« Neugierig beäugte sie ihn durch ihre zu große Brille. »Laut Google gibt es keine Mrs McAlister, aber vielleicht ist da ja eine Freundin, der etwas Georg-Jensen-Silber gefallen könnte?«

Alfie schüttelte den Kopf. »Im Moment habe ich keine Freundin.«

Da. Es auszusprechen war gar nicht so schwer gewesen. Vielleicht dachten sie, er wäre auf der Suche nach der nächsten Freundin, nachdem er scharenweise gebrochene Herzen hinter sich gelassen hatte. Stattdessen war es sein Herz, das gebrochen war.

Liz kehrte mit dem Teetablett zurück. »Nach einer Weile fällt Ihnen die Tapete überhaupt nicht mehr auf. Sie wird wie ein Teil von Ihnen.«

Diese Vorstellung beschwor in ihm Furcht einflößende Bilder herauf, wie er von grellbunten Wirbeln verschlungen wurde.

»Milch?«, fragte sie und schenkte ihm einen Becher Tee ein. Dann bot sie ihm einen Teller mit einem halben Dutzend beiger Quadrate an.

»Ist es das, was ich denke?«, fragte er.

»Das kommt wohl darauf an, was Sie denken«, entgegnete Marge.

Alfie nahm ein Stück und biss hinein. »Das beste Karamell in den Cotswolds«, murmelte er mit geschlossenen Augen. »Ich habe es durch meine Mutter kennengelernt, und ich fand damals, dass es das Wunderbarste war, was ich jemals gekostet habe.« Er strich mit der Zunge über seine Zähne. »Finde ich immer noch.«

»Freut mich zu hören«, sagte Liz. »Natürlich habe ich das Rezept nie verändert.«

Alfie riss die Augen auf. »Das haben Sie gemacht?« Sie nickte. »Auch schon damals, als ich acht war?« Sie nickte wieder.

»Wie alt sind Sie heute, Alfie?«, fragte Marge.

»Zweiundvierzig«, antwortete er.

»Da musst du gerade angefangen haben, Liz«, sagte sie. »Weißt du noch, wie du rumgelaufen bist und dir von allen die Rezepte hast geben lassen? Du dachtest nie, dass sie richtig gut waren, oder? Und du hast immer weiter probiert, bis du es genau so hinbekamst, wie du wolltest.«

»Tja«, sagte Liz. »Mein Lebenswerk: die Herstellung von Karamell. Etwas ganz anderes als Sie mit Ihrem Start-up, Alfie. Ich fürchte, Ihnen wird Bunburry im Vergleich zu London sehr ruhig vorkommen. Hier passiert nicht viel.«

In letzter Zeit war zu viel passiert. Ein verschlafenes Nest war das, was er jetzt brauchte.

»Obwohl …«, wandte Marge ein, die herüberkam und sich Tee einschenkte, »erst vor wenigen Tagen ist bei uns tatsächlich etwas passiert. Das wollte ich vorhin erzählen, als Liz mich so unhöflich unterbrach.«

»Du weißt sehr wohl, warum ich das tat, meine Liebe«, erwiderte Liz freundlich.

»Ja, und du hattest ganz recht«, sagte Marge. »Ich hatte den armen Anthony völlig vergessen. Jedenfalls war alles sehr dramatisch.«

Liz schnalzte leise mit der Zunge.

»Was schon wieder recht passend war, bedenkt man, dass er der Regisseur unseres Laientheaters war. Wir proben Die Mausefalle. Kennen Sie es – dieses Krimistück von Agatha Christie? Ach, selbstverständlich kennen Sie es, denn es wird ja seit Jahren in London gespielt.«

Alfie achtete sorgsam darauf, einen höflich-neutralen Gesichtsausdruck zu zeigen. »Ja«, antwortete er unverfänglich. »Ich habe es gesehen.«

Er war mit Vivian dort gewesen, als sie für einen Tag Touristen spielten und all die Dinge taten, die Londoner eigentlich nie taten – die Kronjuwelen im Tower bestaunen, vom London Eye die Stadt aus der Vogelperspektive ansehen, zu Madame Tussauds gehen. Er hatte ein Foto von Vivian geschossen, als sie zwischen den A-Promis posiert hatte; und sie sah auf dem Bild umwerfender aus als sie alle zusammen. Es war noch auf seinem Handy, doch er ertrug es nicht, sich das Foto noch einmal anzusehen.

Während Alfie kurzzeitig in Gedanken versunken gewesen war, hatte Marge weitergeplaudert. »… obwohl ich nicht verstehe, wie er das tun kann, wo wir doch unseren Regisseur verloren haben.«

»Ich glaube nicht, dass Alfie dir folgen kann«, murmelte Liz. »Du erzählst alles ziemlich verwirrend.«

»Natürlich kann er mir folgen«, widersprach Marge. »Stimmt’s, Alfie?«

»Ich glaube, ja«, log Alfie. »Also führt Anthony Regie?«

»Lass mich es erzählen, meine Liebe«, sagte Liz zu Marge. »Nein, Alfie, James Fry war der Regisseur unseres Stücks. Der arme Anthony ist sein Cousin – er arbeitet bei Bunburry Blooms, dem Blumenladen, an dem wir vorbeigegangen sind, als Marge im Begriff gewesen ist, Ihnen mit ziemlich lauter Stimme von James zu erzählen, der auf so schreckliche Weise ums Leben gekommen ist. Das war taktlos, meine Liebe.«

»Auf so schreckliche Weise ums Leben gekommen?« Alfie stellte seinen Teebecher ab und lehnte sich auf dem Sofa nach vorn. Eine solche Äußerung in Bunburry zu hören, hätte er nicht erwartet.

»Es geschah, als er das Banner für unser Stück aufhängte«, berichtete Liz seufzend. »Er muss von der Leiter gefallen sein, und unglücklicherweise verfing sich sein Schal an einem Haken, als er stürzte. Ein furchtbarer Unfall.«

Marge schob ihre Brille auf dem Nasenrücken nach oben. »Falls es denn überhaupt ein Unfall war.«

Alfie hatte seinen Teebecher vergessen. »Sie meinen doch nicht etwa – Mord?«, fragte er interessiert.

»Man merkt, dass er ein Stadtkind ist, nicht wahr?«, sagte Marge. »In London haben Sie vielleicht Morde, Alfie, aber ganz gewiss nicht in Bunburry.«

Menschen sind Menschen, ganz gleich, wo sie leben, dachte Alfie. Und einige Menschen waren Mörder. Es gab mehrere psychologische Studien zu diesem Thema, die er zitieren könnte.

»Er könnte Geldprobleme gehabt haben«, meinte Liz. »Er war Versicherungsmakler, und vielleicht ging sein Geschäft nicht so gut, wie er gehofft hatte. Es gibt Vermutungen, dass er sich das Leben genommen hat.«

»Na, was auch passiert sein mag, wir haben jedenfalls keinen Regisseur mehr«, sagte Marge.

»Sicher wird sich das heute Abend alles klären.« Liz wandte sich an Alfie. »Ich möchte Sie nicht von Ihrem neuen Zuhause weglocken, aber wir treffen uns alle um acht Uhr im Drunken Horse, um zu besprechen, wie es weitergeht. Sie dürfen sehr gerne dazukommen. Dann können wir Sie einigen Leuten vorstellen.«

»Abgemacht«, antwortete Alfie. »Ich werde sowieso dort sein, weil ich noch für eine Nacht gebucht habe.« Und je nachdem, wie Tante Augustas Schlafzimmer aussah, würde er vielleicht bis auf Weiteres im Drunken Horse bleiben wollen.

»Wir lassen Sie dann mal in Ruhe alles erkunden«, sagte Liz. »Komm, Marge.«

Sie arbeiten gut als Team zusammen, dachte Alfie. Es war beinahe schade, dass es keinen Mord gab. Er konnte sich die beiden gut als eine Art doppelte Ausfertigung von Miss Marple vorstellen – freundliche Detektivin und noch freundlichere Detektivin –; Marge, die den Verdächtigen mit ihrem Geplauder in ein trügerisches Gefühl von Sicherheit lullte, und Liz, die still dasaß und sofort den kleinsten Hinweis aufschnappte.

Er brachte sie zur Tür, beugte sich nach unten und gab beiden einen Wangenkuss. »Es war sehr schön, Sie beide kennenzulernen«, sagte er. »Danke für alles!«

Er blickte ihnen nach, als sie die schmale Straße hinuntergingen, sehr ernst miteinander redend, und ertappte sich dabei, wie er sich freute, sie heute Abend wiederzusehen. Eventuell wäre er weniger beglückt gewesen, hätte er gehört, was sie redeten.

»Er hat übrigens keine feste Freundin«, erwähnte Marge. »Ich schwöre, wäre ich zwanzig Jahre jünger und er nicht mehr oder minder ein Verwandter … Er sollte lieber aufpassen, sonst verschlingt ihn eine der Silberlöwinnen.«

»In den Cotswolds gibt es nicht viele Silberlöwen, glaube ich«, entgegnete Liz. »«