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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74094-228-1
»O Mann, jetzt habe ich so einen schönen Charakter erschaffen. Habe ihn mit allen möglichen edlen Fähigkeiten wie Mut und Durchhaltevermögen und Empathie ausgestattet und ihm gute Ausrüstung beschafft. Und jetzt?«
Die Chipstüte raschelte. Eine Handvoll Kartoffelscheiben wanderte in Jan Nordens Mund. »Stehe ich da ohne Frau und Haus und habe alles verloren. Nur, weil ich eine falsche Entscheidung getroffen habe.«
»Ein Glück, dass das nur ein Computerspiel ist«, bemerkte Dési. Sie lümmelte im Zimmer ihres Zwillingsbruders auf dem Bett und häkelte an einer Decke. Streifen von Ajourmuster, bunten Ornamenten, einfarbigen Reihen aus Stäbchen oder festen Maschen. Alles kunterbunt durcheinander. Genau so, wie sie es liebte. »Wie heißt es überhaupt?«
»Magic Woman. Gegen die habe ich auch verloren.«
Dési lachte.
»Ein Frauenspiel? Kein Wunder, dass du verloren hast.« Sie wickelte den Faden um den Finger. »Was sagt Mia eigentlich dazu, dass du den halben Tag vor dem Kasten hängst?«
»Halber Tag! Dass du immer so schamlos übertreiben musst.« Jan fuhr den Computer herunter und schaltete ihn aus. Mit Schwung drehte er sich zu seiner Schwester um. Wie jedes Mal, wenn sie ihn in letzter Zeit zu Gesicht bekam, stutzte sie. Musste sich daran erinnern, dass der junge Mann mit der frechen Frisur und der modernen Brille ihr Bruder war. Was eine Frau alles bewirken konnte! Und das alles, obwohl Mia im Augenblick weit, weit weg auf Kur war, um ihre Fibromyalgie behandeln zu lassen. »Aber ich verzeihe dir großmütig. Jeder Mensch hat seine eigene, einzigartige Vergangenheit, die seine Bewertung der Realität beeinflusst«, fuhr Jan fort. »Jeder Mensch bestätigt seine inneren Regeln und Werte durch seine Auseinandersetzung mit seinem Umfeld. Wenn du zum Beispiel glaubst, die Welt sei ein gefährlicher Ort, dann wirst du genügend Beispiele sammeln, um diese These zu belegen.«
Okay. Es war alles in Ordnung. Dieser junge Mann war tatsächlich ihr Bruder.
»Ich bin sicher, dass Mia noch viel Spaß mit dir haben wird.«
»Den hat sie jetzt schon. Wir spielen nämlich zusammen ›Magic Woman‹. Sie in der Reha und ich hier zu Hause.«
Dési schüttelte den Kopf.
»Bei euch ist echt Hopfen und Malz verloren.« Eine Zeitlang hatte nicht nur Dési, sondern die ganze Familie Norden versucht, Jannis Leidenschaft nachzuvollziehen. Das war soweit gegangen, dass sie alle gemeinsam an einem Wettbewerb teilgenommen hatten. Bei allen Familienmitgliedern war die Leidenschaft inzwischen mehr oder weniger schnell wieder verflogen. Nur bei Janni nicht.
»Was denn? Das ist eine ebenso sinnvolle Beschäftigung wie häkeln, stricken, filzen, malen.«
»Ist es nicht. Immerhin halte ich am Ende ein sinnvolles Produkt in den Händen.«
Jan schickte der Decke einen vielsagenden Blick.
»Ansichtssache.« Ehe Dési protestieren konnte, fuhr er fort. »Abgesehen davon hat Computerspielen erwiesenermaßen einen positiven Effekt. Für eine Studie beobachteten US-Forscher Mediziner, die sich auf die minimalinvasive Chirurgie spezialisiert haben. Diejenigen, die regelmäßig am Computer spielen, sind bei den Eingriffen 27 Prozent schneller und machen 37 Prozent weniger Fehler.«
»Ich würde mich trotzdem nicht von dir operieren lassen.«
»Musst du auch nicht. Es genügt, wenn du mit mir ins Kino gehst.«
Dési zog eine Augenbraue hoch.
»Der letzte Film, in den du mich geschleppt hast, war so ein Zombie-Teil. Ich konnte wochenlang nicht schlafen, weil ich Angst hatte, dass die Ungeheuer in meinem Schrank und unter dem Bett wohnen und sich nachts über mich hermachen.«
»Dann ist ›Magic Woman‹ perfekt für dich. Die Verfilmung des Computerspiels.«
Dési kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Du willst dir einen Superheldinnen-Film ansehen?«
Jan rückte an seiner Brille herum.
»Eigentlich wollte ich mit Mia gehen. Nachdem sie aber nicht da ist …«
Mehr musste er nicht sagen.
»Dich scheint es echt erwischt zu haben«, grinste Dési und griff wieder zu Häkelnadel und Wollknäuel, um ihre persönlichen Superkräfte in die Streifendecke fließen zu lassen.
*
In eine Patientenakte vertieft stand Dr. Felicitas Norden am Tresen, als sie das Geschrei hörte.
»Nein. Ich will aber nicht schon wieder ins Krankenhaus.«
Die Chefin der Pädiatrie drehte sich um. Am anderen Ende des Flurs kniete ein Mann und redete auf ein etwa achtjähriges Mädchen ein.
»Du weißt doch, dass es nicht anders geht.« Gero Kühnels Stimme hallte über den Flur. »Außerdem ist die letzte Operation schon über zwei Jahre her. Diesmal klappt es ganz bestimmt.«
Gero richtete sich wieder auf und griff nach der lilafarbenen Reisetasche mit aufgedruckten Hexen. Diese Chance ergriff Nelli. Sie drehte sich um und humpelte los Richtung Ausgang. Am liebsten wäre Fee Norden in Tränen ausgebrochen. Mit wenigen Schritten erreichte sie das Mädchen und schnitt ihm den Fluchtweg ab.
»Ich kann dich gut verstehen. Ich an deiner Stelle hätte auch keine Lust auf so eine Operation.« Sie ging vor ihrer kleinen Patientin auf die Knie.
Es mochte abgedroschen klingen. Aber Kinder sahen die Welt mit völlig anderen Augen. Allein schon wegen der Perspektive. Der Pudding auf dem Tisch schien unerreichbar, befand sich quasi am anderen Ende der Welt. Nur ein Erwachsener konnte den Kleinen die Stücke dieser Welt in die Hände geben. Selbst Mutter von fünf Kindern wusste Felicitas, dass es einen enormen Unterschied machte, sich sprichwörtlich auf dieselbe Augenhöhe zu begeben, um eine Schüssel Vanillepudding zu überreichen oder ein paar Worte zu wechseln. »Aber ich freue mich trotzdem, dass du hier bist. Erinnerst du dich an mich?«
Ein Glück, dass es nur eine Puppe war, die Nelli an sich drückte. Ein Tier hätte die Umarmung nicht überlebt. Ohne den Blick von der Ärztin zu wenden, nickte die Kleine.
»Sie sind die Frau Doktor.«
»Stimmt. Ich habe dich neulich untersucht. Und wen hast du da mitgebracht?«
Fee deutete auf den Haarschopf, der zwischen Nellis Armen hervorquoll.
»Das ist Magic Woman. Eine Superheldin.«
»Ach, ich glaube, die kenne ich.« Felicitas erinnerte sich an ihren letzten Besuch im Zimmer ihres jüngsten Sohnes. Als ihre Kinder noch klein gewesen waren, hatten sie von den Eltern gelernt. Inzwischen hatten sich die Rollen vertauscht. Fee und Daniel lernten von ihren Kindern Dinge, von deren Existenz sie ohne ihre Sprösslinge niemals erfahren hätten. »Sie ist die stärkste Frau der Welt und verfügt über magische Kräfte.«
Nelli betrachtete Fee aus Augen, groß und rund wie Murmeln.
»Woher wissen Sie das? Meine Mama und mein Papa wissen so was nicht.«
»Das wundert mich nicht«, gestand Fee lachend. »Ich weiß das auch nur, weil mein Sohn dieses Computerspiel spielt. Er hat mir es mir gezeigt und ein paar Sachen erklärt.«
Nellis Blick flog zu ihrem Vater und wieder zurück. Vergessen waren die Operation und die Angst davor.
»Glaubst du an Superheldinnen?«
»Natürlich«, versicherte Fee. »In jeder Frau steckt eine Superheldin. Und natürlich auch in jedem kleinen Mädchen.«
Nellis Augen leuchteten auf, als fiele ein Sonnenstrahl vom Himmel direkt in ihr Gesicht.
»Dann kannst du mich ja gesund zaubern und ich kann wieder heimgehen.«
»So einfach geht das leider nicht. Ich brauche schon ein paar Zaubertränke und einen Zauberstab dazu, um dich gesund zu machen.« Felicitas stand auf und schüttelte die schmerzenden Knie aus. »Kommst du mit? Ich zeige dir dein Zimmer.«
Gero Kühnel, stummer Zeuge des Gesprächs, hielt die Luft an. Würde seine Tochter den Widerstand aufgeben?
Nelli überlegte lange. Schließlich legte sie die kleine Hand in die große von Fee.
»Also gut. Aber nur, wenn du mir nicht weh tust.«
»Großes Superheldinnen-Ehrenwort!«
*
»Das alles wäre nicht passiert, wenn du nicht immer den Superhelden spielen müsstest«, jammerte Katja, während sie neben der Rollliege ihres Freundes durch die Notaufnahme der Behnisch-Klinik herlief.
Dr. Daniel Norden hörte das metallische Klirren der Liege schon, noch ehe er um die Ecke gebogen war.
»Hallo, mein Name ist Norden. Ich bin der Klinikchef hier.« Er nickte dem Rettungsarzt Dr. Erwin Huber zu. »Was ist passiert?«
»Dumme Geschichte«, erwiderte Tillmann Günter.
Daniel nahm das Klemmbrett, das Dr. Huber ihm reichte, lauschte auf die Erklärungen des Rettungsarztes. Bedankte und verabschiedete sich. Als er die Notizen überflog, zog er eine Augenbrauche hoch.
»Hier steht, Sie wären beim Ballspielen verunglückt.«
»Ich sag’ doch. Eine dumme Geschichte.«
»So langsam werde ich neugierig.«
»Till übt Papierball-Weitwurf und hat sich dabei zu weit aus dem Stuhl gelehnt«, beantwortete seine Freundin Katja die Frage. »Ich sage ihm schon die ganze Zeit, dass er diesen Unsinn lassen soll. Aber nein. Es musste ja sein. Das hat er nun davon.«
Daniel Norden erging es nicht anders als den meisten anderen Menschen auch. Obwohl er darum bemüht war, sich nicht beeindrucken oder blenden zu lassen, fällte auch er in den ersten sieben Sekunden einer neuen Begegnung elf Urteile. Ganz automatisch bewertete er, ob er sein Gegenüber für vertrauensvoll, intelligent und erfolgreich hielt. Ob die Person aus professioneller oder sozialer Hinsicht interessant war. Außerdem versuchte er, den politischen und religiösen Hintergrund einzuschätzen. Diese innere Checkliste konnte niemand steuern oder abstellen. Auch Dr. Norden nicht. Doch was im Augenblick zählte, war der Patient.
»Herr Günter, konnten Sie vor dem Unfall die Beine ein bisschen bewegen?«
»Kaum.«
»Gut. Bringen wir Herrn Günter in die Zwei. Und rufen Sie den Kollegen Aydin. Das hier ist ein Fall für ihn«, wies Dr. Norden eine Schwester an.
Er begleitete den Transport und übernahm die Leitung der Untersuchung.
»Das war ein Autounfall vor drei Jahren«, erklärte Tillman Günter auf Nachfrage. Daniel legte mal hier, mal da Hand an. Immer wieder biss Tillman die Zähne zusammen. Gab einen Zischlaut von sich. »Damals habe ich mir die Hüfte gebrochen. Es wurde ein Implantat eingesetzt. Das hat sich entzündet und wurde entfernt. Bei der zweiten OP wurde der Ischiasnerv in Mitleidenschaft gezogen. Als ich wieder aufgewacht bin, konnte ich die Beine nicht mehr bewegen. Seitdem bin ich stolzer Besitzer dieses schnittigen Rennwagens.« Er deutete auf den Rollstuhl, den ein hilfreicher Geist in der Ecke geparkt hatte.