Tourismus ist nicht nur auf dem Weg, eine der Leitökonomien des 21. Jahrhunderts zu werden, sondern auch ein vielschichtiges Phänomen, das in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand unterschiedlichster Disziplinen geworden ist. Dieses Studienbuch widmet sich dem Tourismus als kultureller Praxis aus dem Blickwinkel der (Human-)Geographie. Damit wird ein Ansatz verfolgt, der einerseits aus sozialwissenschaftlicher Sicht die handelnden Akteure in den Mittelpunkt stellt, und andererseits die Tourismuswirtschaft integriert in den übergeordneten Kontext der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen behandelt. Mit der raumwissenschaftlichen Grundorientierung ist auch verbunden, dass der Blickwinkel stärker auf den Destinationskontext als auf einzelbetriebliche Aspekte gerichtet ist. Die tourismusgeographische Herangehensweise an das Phänomen Tourismus als anwendungsorientierte Disziplin in kompakter und verständlicher Form darzustellen ist das Ziel dieses Studienbuches.
Mit dem Ziel einer kompakten Darstellung verbunden ist, dass eine Vielzahl von Facetten und Detailaspekte nur gestreift und angedeutet werden können. Damit will das Buch auch neugierig machen auf die darüberhinausgehende, vertiefende Einarbeitung in dieses Themenfeld.
Der Fokus liegt weniger auf einer Vielzahl von tagesaktuellen – und damit auch bald wieder überholten – Zahlen; diese sind im Zeitalter des Internets dort besser abrufbar. Vielmehr ist die Intention, die Grundprinzipien und grundlegenden Entwicklungslinien kompakt und so verständlich darzustellen, dass Studierende zu Beginn des Studiums die zentralen Konturen des Faches nachvollziehen können. Die – notgedrungen nur selektive – Erwähnung von Beispielen dient weniger der idiographischen Vorstellung, sondern die Auswahl wurde immer auch vor dem Hintergrund getroffen, allgemeinere, grundsätzlichere Entwicklungen und Zusammenhängen an konkreten Einzelfällen fest zu machen. Die exemplarische Veranschaulichung, nicht die umfassende kompilatorische Darstellung ist damit das zentrale Leitmotiv. Bei einer zu treffenden Auswahl muss unvermeidlich vieles an Themenbereichen und regionalen Spezifika unberücksichtigt bleiben.
Damit handelt es sich mit dem vorliegenden Band explizit nicht um eine „Reiseverkehrsgeographie“ mit systematischer länderkundlicher Darstellung einzelner Destinationen. Der Band fokussiert auch nicht primär auf reine Standortfragen – wie z. B. derjenigen, wo in einer Stadt ein Hotel sinnvollerweise zu bauen wäre. Vielmehr wird ein geographischer Blickwinkel auf Akteure, Rahmenbedingungen und Strukturen gerichtet. Entsprechend dem humangeographischen Grundverständnis wird versucht, das Handeln der einzelnen Akteure eingebettet in übergeordnete Bezüge darzustellen.
Die Abbildungen sollen dabei nicht nur der simplen Illustration und Veranschaulichung dienen. Sie sind oftmals auch für ergänzende Details und ein vertiefendes Verständnis gedacht, das teilweise über den kompakten Text hinausführt.
Die Inhalte des Bandes stellen eine Erweiterung der Erstsemestervorlesung für Bachelor „Einführung in die Tourismusgeographie“ an der Universität Trier dar. Dementsprechend wendet sich der Band vor allem an Geographiestudierende in der ersten Hälfte des Bachelorstudiums. Dabei besteht eine gewisse Zweiteilung.
Der erste Teil ist mehr auf die Darstellung der Grundlagen des Tourismus aus tourismusgeographischer Perspektive gewidmet. Das Ziel ist es, die grundlegenden Begriffe und Elemente des Systems Tourismus sowie die zentralen Konzepte und Herangehensweisen der Tourismuswissenschaften für Geographiestudierende aus geographischem Blickwinkel aufzubereiten. Damit kann dieser erste Teil auch anderen, an den Grundprinzipien des Tourismus Interessierten einen kompakten Überblick bieten.
Der zweite Teil ist dann stärker auf spezifische tourismusgeographische Herangehensweisen bei der Destinationsanalyse ausgerichtet. Dort finden vor allem auch diejenigen, die einen Einblick in die destinations- und akteursorientierten Ansätze und Herangehensweisen der Tourismusgeographie gewinnen möchten, eine kompakte Darstellung mit exemplarischen Fallbeispielen.
Beim Verfassen eines solchen Studienbuches besteht die Herausforderung in der Kunst des Weglassens, ohne dadurch die zentralen Argumentationsrichtungen und Inhalte zu sehr zu verkürzen. Bei der Lektüre besteht demgegenüber die Herausforderung an die Leserinnen und Leser auch darin, trotz der kompakten, scheinbar runden Darstellung zu erkennen, dass es sich lediglich um einen ersten Einstieg in viele Themen handelt, die hier angerissen werden und sich dementsprechend auf die über eine Einführung hinausgehende Vertiefung der Themen mit ihren vielschichtigen Facetten einzulassen. Um das Einlassen auf eine vertiefende und differenziertere Auseinandersetzung mit den Themen zu erleichtern, sind am Ende der einzelnen Kapitel jeweils weiterführende Literaturhinweise aufgeführt. Dabei wurde insbesondere auch versucht, auf leicht im Internet zugängliche Quellen abzuheben, um die eigenständige weitergehende Auseinandersetzung mit den Einzelthemen zu ermöglichen.
Neben Aktualisierungen von Daten und Abbildungen wurde vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion der Aspekt Luftverkehr und Klimawandel etwas erweitert sowie das Overtourism-Phänomen neu aufgenommen.
Freising, im Frühjahr 2020 Andreas Kagermeier
Lernziele
In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet:
Welche wechselseitigen Bezüge bestehen zwischen dem Freizeit- und Tourismusmarkt und anderen Feldern bzw. Wissenschaftsdisziplinen?
Was zeichnet die spezifische Herangehensweise der Tourismusgeographie aus?
Wie kann der Begriff Tourist und der Freizeitbegriffs definitorisch gefasst werden?
Welche prinzipielle Herangehensweise zeichnet die Anwendung grundlegender angebotsseitiger und nachfrageseitiger theoretischer Konzepte aus?
Die Tourismuswirtschaft ist auf dem Weg, zu einer der Leitökonomien des 21. Jahrhunderts zu werden. Sowohl hinsichtlich der Wertschöpfung, d. h. dem Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt als auch der Beschäftigungswirkung hängt sowohl weltweit als auch in Deutschland größenordnungsmäßig etwa jeder zehnte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Die touristischen Aktivitäten tragen in etwa gleichem Umfang auch zur Wertschöpfung bei.
Gleichzeitig ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tourismus und Freizeit relativ jung und beginnt im Wesentlichen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Tourismuswissenschaft ist damit keine seit Jahrhunderten etablierte akademische Disziplin wie die Theologie, die Philosophie, die Medizin oder die Rechtswissenschaften. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tourismus und Freizeit wird aktuell gespeist aus unterschiedlichen Disziplinen, die jeweils spezifische Blickwinkel zu Analyse, Deutung und Gestaltung einbringen.
Die im ausgehenden 20. Jahrhundert stattgefundene intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Tourismus und Freizeit resultiert wohl aus der zunehmenden Verbreitung dieses Phänomens und dessen Bedeutung in unterschiedlichen Feldern. Gleichzeitig steht dahinter sicherlich auch die zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrage sowie die Tatsache, dass Tourismus Ende des 20. Jahrhunderts vom Anbietermarkt (die Nachfrage ist größer als das Angebot) zum Nachfragemarkt (das Angebot ist größer als die Nachfrage) geworden ist. Immer anspruchsvollere Kunden mit sich kontinuierlich ausdifferenzierenden Interessenslagen werden von einem zunehmenden Angebot umworben. Damit genügt es eben nicht mehr, dass Übernachtungsbetriebe „fließend kaltes und warmes Wasser“ anbieten, wie dies Mitte des 20. Jahrhunderts als Qualitäts- und Alleinstellungsmerkmal oftmals an Übernachtungsbetrieben angepriesen worden ist, um Kunden anzusprechen. Das Wissen um die Bedürfnisse der potentiellen Kunden sowie die Fähigkeit zur Erarbeitung von Angeboten, die diese adressieren, sind inzwischen entscheidende Wettbewerbsmerkmale für den erfolgreichen Markteintritt bzw. die Positionierung in einem sich akzentuierenden Wettbewerb geworden. Damit werden eben auch zunehmend gut ausgebildete Beschäftigte im Tourismusgewerbe benötigt, die sich den wechselnden Herausforderungen erfolgreich stellen können.
Mit der Entwicklung des Tourismus zum „Massen“-Phänomen verbunden sind aber auch negative Konsequenzen, wenn die Tragfähigkeit von Destinationen erreicht oder überschritten wird. Die „Grenzen des Wachstums“ betreffen dabei sowohl ökologische Aspekte als auch soziale Gegebenheiten. Vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsdiskussion besteht die Herausforderung darin, dass die (erwünschten) positiven ökonomischen Effekte nicht nur breit in den Destinationen streuen, sondern auch (unerwünschte) ökologische und soziale Effekte möglichst geringgehalten werden.
Freizeit- und TourismusforschungDie Vielzahl der Aspekte, die vom Tourismus berührt werden und von denen die touristische Entwicklung beeinflusst wird, hat FREYER in sechs Dimensionen zusammengefasst (vgl. Abb. 1).
An vorderster Stelle sind dabei sicherlich die wirtschaftlichen Gegebenheitenwirtschaftliche Gegebenheiten zu nennen. Das wirtschaftliche Niveau einer Gesellschaft (und auch die Art der Verteilung der ökonomischen Potentiale) ist eine zentrale Stellgröße für den Umfang und die Ausgabevolumina der touristischen Nachfrage. Aber auch das Niveau der Angebotsqualität und die Möglichkeiten zur Ausdifferenzierung des Angebotes werden von den ökonomischen Möglichkeiten in den Destinationen mit beeinflusst. In den hochindustrialisierten Ländern sind die Möglichkeiten der Aufbereitung von touristischen Potentialen im Allgemeinen deutlich größer als in den sog. Entwicklungsländern (vgl. Kap. 7)Entwicklungsländer. Gleichzeitig wird eine touristische Inwertsetzung – insbesondere in peripheren Räumen – oftmals als Möglichkeit gesehen, volkswirtschaftliche Impulse zu setzen und mangels anderer wirtschaftlicher Aktivitäten durch den Tourismus positive Einkommenseffekte zu generieren.
Freizeit und Tourismus als interdependente Phänomene (Quelle: eigene Darstellung nach FREYER 2011a, S. 46)
Die Rahmenbedingungen für Reisemöglichkeiten werden durch das Feld der PolitikPolitik mit beeinflusst. Dies betrifft nicht nur die Frage von Reisebeschränkungen (z. B. durch eine entsprechende Visapolitik), sondern auch die Möglichkeiten zu grenzüberschreitenden Investitionen in Form von ausländischen Direktinvestitionen oder die Vergabe von Fördermitteln (wie z. B. die europäischen Interreg-Fördermittel) bzw. steuerliche Rahmenbedingungen (Mehrwertsteuersatz für touristische Leistungen, Kerosinsteuer) und Abgaben (Luftverkehrsabgabe). Neben den übergeordneten politischen Zielen (z. B. Sicherheitsbedürfnis, Terrorismusabwehr) einer politischen Einheit sind die direkt auf den Tourismus bezogenen Zielsetzungen im Grundsatz einerseits darauf gerichtet, die Rolle des Tourismus als Wirtschaftsfaktor positiv zu begleiten und andererseits negative Auswirkungen des Tourismus zu vermeiden. Tourismuspolitik ist damit oftmals als ambivalent anzusehen.
Der Blick auf das IndividuumIndividuum bedeutet, dass dessen soziale und psychologische Disponiertheit als relevant für Nachfragepräferenzen angesehen wird. Gleichzeitig spielen die subjektiven Aspekte aber auch auf der Angebotsseite eine relevante Rolle, wie etwa die Einstellungen gegenüber übergeordneten Nachhaltigkeitsaspekten oder der Grad der Risikobereitschaft bzw. die Innovationsbereitschaft oder Kreativität bei der Produktentwicklung.
Mit der Dimension RaumRaum wird einerseits der evidente Aspekt berührt, dass Tourismus immer auch mit Bewegungen im Raum verbunden ist, wenn sich Touristen aus den Quellmärkten in die Zielgebiete begeben. Die Frage nach Einzugsbereichen und der Bewältigung der Verkehrsströme sind damit offensichtlich relevant bei der Beschäftigung mit touristischen Phänomenen. Da touristische Angebote aber im Allgemeinen nicht abgelöst von den Destinationen als „Foot Loose Industry“ geschaffen werden, sondern an ganz konkrete räumlich verortete Potentiale gebunden sind, können aus der (intendierten oder realisierten) touristischen Inwertsetzung oder Nutzung auch Raumnutzungskonflikte mit anderen Nutzungsansprüchen (z. B. Landwirtschaft oder Wohnen) resultieren. Die kann die Ressource „Raum“ als Flächeninanspruchnahme genauso betreffen wie z. B. die Konkurrenz um die Ressource „Wasser“ (insbesondere in Gebieten mit prekären hydrologischen Regimen). Im positiven Sinne kann touristische Erschließung aber auch als Faktor der Regionalentwicklung gewünscht sein oder fungieren.
Der Bezug zwischen der ökologischenÖkologie Dimension und dem Tourismus besteht offensichtlich darin, dass die touristische Nutzung immer auch mit der Inanspruchnahme von Ressourcen bis hin zu deren ÜbernutzungÜbernutzung verbunden ist. Die sog. TragfähigkeitsgrenzeTragfähigkeitsgrenze (Carrying Capacity) kann damit auch einen limitierenden Faktor für die touristische Inwertsetzung darstellen. Dies betrifft nicht dabei nicht nur z. B. Trittschäden in sensiblen Ökosystemen oder die negativen Auswirkungen der Erschließung von alpinen Regionen für den Skitourismus. In einem weiteren sozial-ökologischen Sinn kann hierunter auch eine von den Einwohnern als negativ empfundene Konzentration von Touristen im städtischen Raum subsummiert werden (Crowding bzw. Overtourism). Das Verhindern des Überschreitens von physischen oder perzeptionellen Tragfähigkeitsgrenzen bzw. eine möglichst verträgliche Nutzung von natürlichen Ressourcen ist – im Wechselspiel mit der politischen Dimension – eines der Zielsetzungen von nachhaltigenNachhaltigkeit Tourismuskonzepten.
Gleichzeitig kann eine touristische Nutzung aber auch zum Schutz von Ökosystemen beitragen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn in den sog. Entwicklungsländern die touristische Nachfrage nach (Foto-)Safaris dazu führt, dass die lokale Bevölkerung den Wert des Schutzes von Wildtieren indirekt dadurch erkennt, dass diese eine Erwerbsgrundlage darstellen, weil Besuche internationaler Touristen Einkommen generieren. Aber auch die Kulturlandschaft mit traditionellen ökologisch angepassten landwirtschaftlichen Praktiken (Streuobstwiesen, Wacholderheiden oder bestimmte andere Sukzessionsstadien) wird teilweise aufgrund der touristischen Nachfrage geschützt, da diese einen Attraktivitätsfaktor z. B. für den Wandertouristen darstellt.
Dass die Normen einer GesellschaftGesellschaft die Wertigkeit von Freizeit im Verhältnis zur Arbeitsethik mit beeinflussen, ist ebenfalls offensichtlich. Die Bezeichnung Deutschland als „kollektiver Freizeitpark“ durch den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl bei seiner Regierungserklärung am 21. Oktober 1993 ist zum geflügelten Wort dafür geworden, dass aus seiner Sicht der Stellenwert der Freizeit in der Gesellschaft zu hoch sei und der Stellenwert der Erwerbsarbeit wieder gesteigert werden sollte. Fragen der Work-Life-Balance und der Stellenwert von freier Zeit schlagen sich nicht nur in konkreten Tarifvereinbarungen nieder, sondern beeinflussen auch den Umfang und die Art der Freizeitgestaltung. Gleichzeitig ist die gesellschaftspolitische Diskussion, welchen Stellenwert wir dem Schutz der natürlichen Umwelt oder Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit zumessen, auch eine relevante Größe. Aber auch die Frage, wie eine Gesellschaft mit dem (materiellen und immateriellen) kulturellen Erbe umgeht, kann durch die touristische Nutzung beeinflusst werden, sei es dadurch, dass materielles kulturelles Erbe (auch) aufgrund der touristischen Nachfrage erhalten oder restauriert wird, oder dass bestimmte Praktiken und Riten wegen ihrer Anziehungskraft auf Touristen gepflegt werden. Umgekehrt kann die touristische Nachfrage durch die Kommerzialisierung und Folklorisierung von gesellschaftlichen Praktiken aber auch zu deren Degradierung und Kommodifizierung beitragen. Gleiches gilt auch für soziale Normen und Verhaltensweisen. Insbesondere im Kontext des sog. „Entwicklungsländertourismus“ wird die Frage nach den negativen Auswirkungen der touristischen Erschließung auf traditionelle Normensysteme intensiv diskutiert.
Insgesamt gesehen handelt es sich beim Phänomen Tourismus um eine gesellschaftliche Praxis, die eine Vielzahl von Wechselbeziehungen mit unterschiedlichsten Feldern aufweist (die untereinander ebenfalls in Bezug stehen). Dementsprechend verwundert es nicht, dass sich eine Vielzahl unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Das Spektrum reicht dabei von Wirtschaftswissenschaften (mit dem betriebswirtschaftlichen und dem volkswirtschaftlichen Blickwinkel), der Soziologie und den Politikwissenschaften über die Pädagogik und Psychologie, die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie bis hin zu Jura, Kunstgeschichte, Umweltwissenschaften und der Mobilitätsforschung. Dabei bringt jede (Mutter-)Disziplin ihre spezifischen Blickwinkel und Ansätze in die jeweilige Freizeitpädagogik oder Tourismussoziologie mit ein. Gleichzeitig stehen die unterschiedlichen Teildisziplinen in einem intensiven Wechselspiel und Austausch. Tourismus wird von einem Tourismussoziologen eben nicht nur aus rein soziologischer Sicht betrachtet und analysiert, sondern der tourismussoziologische Blickwinkel steht im Wechselspiel mit den spezifischen Analyseansätzen von Freizeitpädagogen, Tourismuspsychologen oder eben auch Tourismusgeographen. In der Tourismusforschung verschwimmen die traditionellen Disziplingrenzen, sodass von einem transdisziplinären Feld gesprochen werden kann. Ob sich aus diesem Konglomerat unterschiedlicher disziplinärer Ansätze der „Mutter-Disziplinen“, der aktuell mit dem Terminus „TourismuswissenschaftenTourismuswissenschaften“ beschrieben wird, mittelfristig eine eigenständige Disziplin, die Tourismuswissenschaft entwickeln oder ob das Phänomen Tourismus auch längerfristig als Gegenstand aus den „Mutter-Disziplinen“ heraus behandelt wird, ist eine offene Frage.
Die geographische Herangehensweise ist geprägt von der Orientierung auf das Wechselspiel von menschlichem Handeln und der räumlichen Umwelt. Je nachdem welche der beiden geographischen Hauptrichtungen, die Humangeographie oder die Physischen Geographie im Mittelpunkt stehen, ist der Fokus mehr auf die Analyse der naturräumlichen Gegebenheiten oder Prozesse (Physische Geographie) oder das Handeln des Menschen im Raum (Humangeographie) ausgerichtet. Auch wenn tourismusgeographische Aspekte mit einem physisch-geographischen Analyseansatz behandelt werden (insbesondere die Umweltwirklungen von touristischen Phänomenen wie z. B. die Erosion von Skipisten oder die Analyse der klimarelevanten tourismusbedingten Emissionen), liegen die Wurzeln der tourismusgeographischen Beschäftigung stärker im Bereich der Humangeographie (bzw. der Wirtschafts- und Sozialgeographie). Das Handeln des Menschen im Raum steht damit im Mittelpunkt. Motive und Hintergründe für menschliches Handeln, deren Differenzierung aber auch Beeinflussung sind damit genauso Gegenstand der Tourismusgeographie wie die Analyse der räumlichen Effekte dieses Handeln und eine dem Nachhaltigkeitsparadigma verpflichtete Gestaltung.
Charakteristikum der tourismusgeographischen Herangehensweise ist es damit, touristische Phänomene nicht nur isoliert aus dem Blickwinkel z. B. einer betriebswirtschaftlichen Optimierung oder einer sozialpsychologischen Deutung zu sehen. Vielmehr wird eine stärker integrative, übergreifende Perspektive angestrebt, die – auch in intensivem Austausch und mit Bezug auf die anderen „Tourismuswissenschaften“ – das Phänomen Tourismus stärker holistisch versteht. Gleichzeitig versteht sich Tourismusgeographie in weiten Teilen als anwendungsorientiert und gestaltungsbezogen. Nicht nur die in theoretisch-konzeptionellen Ansätzen wissenschaftlich fundierte Analyse, sondern auch der Anspruch, zur Lösung von Herausforderungen und der Optimierung von Gestaltungsansätzen beizutragen zeichnet tourismusgeographisches Arbeiten vielfach aus.
Box 1 | Von der FremdenverkehrsgeographieFremdenverkehrsgeographie zur TourismusgeographieTourismusgeographie
Die Tourismusgeographie ist keine statische wissenschaftliche Teildisziplin. Wie alle Wissenschaften hat sie im 20. Jahrhundert eine Reihe von Paradigmenwechseln erfahren, die einerseits den übergeordneten wissenschaftlichen und politischen Kontext spiegeln und andererseits von den Wandlungen in der (Human-)Geographie beeinflusst sind. Auch wenn es bereits frühere Ansätze zur Beschreibung des „Fremdenverkehrs“ – wie das heute als Tourismus beschriebene Phänomen bis in die 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum oftmals genannt worden ist – gegeben hat, gilt die Arbeit von POSER aus dem Jahr 1939 als für die weitere Entwicklung der konzeptionellen Ansätze prägend. In seinem Werk „Geographische Studie über den Fremdenverkehr im Riesengebirge“ stehen – in der Tradition der damaligen Geographie – die physiognomisch wahrnehmbaren Veränderungen und Überprägungen in der Kulturlandschaft im Mittelpunkt. Die Fremdenverkehrsgeographie zielte auf die Beschreibung der als Fremdenverkehrslandschaften bezeichneten Zielgebiete ab und fokussierte damit vor allem auf die räumlichen Auswirkungen.
Die Weiterentwicklung zur „Geographie der Freizeit und des FremdenverkehrsGeographie der Freizeit und des Fremdenverkehrs“ wurde in den 1960er und 1970er Jahren geprägt von der „Münchner Schule der Sozialgeographie“ (vgl. RUPPERT 1962, MAIER 1970 oder RUPPERT & MAIER 1970). Deren Zielsetzung wird von KULINAT & STEINECKE rückblickend beschrieben als: „Analyse und Erklärung von Raumstrukturen …, die im Bereich des Freizeit- und Fremdenverkehrs durch sozialräumliche Verhaltensweisen und Umweltbewertungen, durch Standortbildung und (natur‑)geographische Standortfaktoren, durch Wirkungen der Freizeit- und Standortbildung sowie durch planerische Steuerung entstanden sind“ (1984, S. 4). Damit rückt das Individuum als aktiver Faktor im Wechselspiel mit der Umwelt stärker in den Mittelpunkt und gleichzeitig wird die zielorientierte planerische Gestaltung des Raumes explizit thematisiert.
In den späten 1980er Jahren setzt sich die Bezeichnung als „Geographie der Freizeit und des Tourismus“ oder „Freizeit- und Tourismusgeographie“ durch. Die Ersetzung des Begriffes „Fremdenverkehr“ durch den des „Tourismus“ signalisiert dabei nicht nur einen simplen Begriffswechsel zu dem international gebräuchlichen Terminus, der auch in anderen Kontexten vollzogen worden ist (so hat sich der ehemalige Deutsche Fremdenverkehrsverband als Bundesverband der regionalen Tourismusorganisationen 1999 in Deutscher Tourismusverband umbenannt). Vielmehr ist damit – wie auch in anderen Bereichen der Humangeographie – der Wandel von einer stärker deskriptiven Herangehensweise an räumliche Phänomene zu einer analytisch-erklärenden Zielsetzung, bei der die handelnden Individuen und Systeme in ihrem Wechselspiel mit der Umwelt im Mittelpunkt stehen, verbunden.
In diesem Band werden, dem weiten Verständnis von Tourismus (nicht nur auf mit Übernachtungen verbundene Aktivitäten) folgend (vgl. 1.1.3), die beiden Begriffe „Freizeit- und Tourismusgeographie“ sowie „Tourismusgeographie“ synonym verwendet.
An dieser Stelle soll kein umfassendes definitorisches Kompendium ersetzt werden. Diese sind in unterschiedlichen Lexika tourismuswissenschaftlicher Begriffe verfügbar (vgl. z. B. KIEFL, BACHLEITNER & KAGELMANN 2005; FUCHS, MUNDT & ZOLLONDZ 2008 oder die tourismusgeographischen Stichwörter in BRUNOTTE et al. 2001). Gleichwohl erscheint es wichtig, einige grundlegende Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit dem Tourismus oftmals eine lebensweltliche Verwendung finden, für den Kontext dieser Einführung aber auch für den fachwissenschaftlichen Gebrauch in der gebotenen Kürze zu fassen.
Scheinbar trivial scheint die Frage, wer oder was ein Tourist ist, wird dieser Begriff doch im alltagssprachlichen Gebrauch von fast jedem verwendet, wobei allerdings auch unterschiedliche begriffliche Fassungen existieren. Eine der klassischen Annahmen ist, dass ein Tourist auch in seinem Zielgebiet übernachtet, d. h. nur der Übernachtungsreiseverkehr als Tourismus verstanden wird. In früheren Zeiten wurde auch versucht, über die zurückgelegte Distanz zwischen Touristen und Naherholungssuchenden zu unterscheiden, wobei manchmal – in Analogie zum Verkehrswesen – die Grenze bei 50 km gezogen wurde. In manchen Ländern der sog. Entwicklungsländer werden als Touristen nur Besucher aus dem Ausland verstanden.
Die United Nations World Tourism OrganisationUnited Nations World Tourism Organisation (UNWTOUNWTO) ist eine internationale Organisation, die sich im Auftrag der UN neben der Bereitstellung von internationalen Tourismusstatistiken auch mit international relevanten Aspekten des Tourismus (z. B. Krisenmanagement, Biodiversität) beschäftigt. Diese hat 1993 – vor allem für die Angleichung der internationalen Tourismusstatistiken einen Katalog von Begriffen unter dem Namen „Standard International Classification of Tourism ActivitiesStandard International Classification of Tourism Activities (SICTA)“ (SICTASICTA (Standard International Classification of Tourism Activities)) beschlossen. Dort findet sich auch die inzwischen weltweit weitgehend akzeptierte Definition des Begriffes „Tourist“.
Box 2 | UNWTO-Definition des Begriffes „TouristTourist“
„A visitor is a traveller taking a trip to a main destination outside his/her usual environment, for less than a year, for any main purpose (business, leisure or other personal purpose) other than to be employed by a resident entity in the country or place visited. These trips taken by visitors qualify as tourism trips. Tourism refers to the activity of visitors” (UNWTO 2008, S. 10).
In dieser Definition sind im Wesentlichen drei Aspekte enthalten:
OrtsveränderungOrtsveränderung: Ein Tourist ist eine Person, die sich im Raum von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt bewegt. Allerdings gibt es keine Mindestentfernung oder das Überschreiten von (seien es kommunalen oder nationalen) Grenzen als Voraussetzung.
Zeitliche BefristungZeitliche Befristung: Die Bewegung im Raum ist zeitlich befristet, dauerhafte Migrationen (sei es durch einen freiwilligen Umzug oder eine Zwangsmigration durch Flucht oder Vertreibung) zählen damit nicht als touristische Aktivität. Gleichzeitig wird keine Mindestaufenthaltsdauer, sondern nur ein Maximum von einem Jahr angegeben.
ZweckZweck: Die Motive für die Raumveränderung können unterschiedlicher Art sein, wobei die UNWTO neben den Hauptzwecken von freizeitmotivierten und Geschäftsreisen, die möglichen anderen Motive nicht weiter eingrenzt. Eine religiös motivierte Pilgerfahrt (egal ob zur nahegelegenen Marienkapelle oder nach Mekka) zählt damit ebenso als touristische Aktivität wie der Aufenthalt zu einem Sprachkurs im Ausland. Ausgeschlossen sind lediglich Fahrten von Berufspendlern zum Hauptort der Berufsausübung (auch wenn diese über eine nationale Grenze hinweg erfolgt).
Für die statistische Erfassung werden darüber hinaus noch ausgeklammert die Raumveränderung von Diplomaten und Angehörigen von Streitkräften, aber auch von Nomaden, Flüchtlingen und Transitreisenden.
Die Differenzierung von Touristen primär für statistische Zwecke (vgl. Abb. 2) folgt weitgehend diesen Grundvorgaben des UNWTO. So wird einerseits oftmals unterschieden zwischen freizeitorientierten Touristen und anderen Motiven (wobei hier dann vor allem der Geschäftsreiseverkehr erfasst wird, während andere Motive nur sehr begrenzt statistisch fassbar sind). Von Freizeitaktivitäten werden aus touristischer Sicht nur diejenigen erfasst, die außerhalb der eigenen Wohnung stattfinden, während häusliche Freizeitbeschäftigungen nicht berücksichtigt sind. Sowohl beim freizeitorientierten als auch beim Geschäftsreise-Tourismus werden die Besucher oftmals unterschieden in Tagestouristen und Übernachtungstouristen. Da bei einer der wichtigsten sekundärstatistischen Quellen der Tourismusforschung, der sog. „Reiseanalyse“ (vgl. FUR div. Jg.) lange nur Reisen mit mindestens 4 Übernachtungen erfasst wurden, wird oftmals auch noch zwischen Kurzurlauben (1 bis 4 Tage) und Urlauben unterschieden.
Differenzierung von Tourismus für statistische Zwecke (Quelle: eigener Entwurf)
Gleichzeitig ist in Abbildung 2 mit den grauen Pfeilen angedeutet, dass die vermeintlich klare statistische Erfassung der MotiveMotive der Realität oftmals nicht gerecht wird. Die grauen Pfeile im rechten Teil der Graphik sollen darauf hinweisen, dass auch Geschäftsreisen oder primär aus anderen, nicht freizeitbezogenen Motiven unternommene Reisen (wie z. B. Kuren, Pilgerreisen oder Sprachkursaufenthalte) zu gewissen Teilen auch freizeitorientierte Komponenten aufweisen können (genauso wie umgekehrt auch primär freizeittouristische Aufenthalte natürlich auch partiell berufliche Aspekte inkludieren können).
Für die weitere Differenzierung von Ausprägungen des Tourismus kann nach STEINGRUBE (2001) zwischen unterschiedlichen TourismusformenTourismusformen unterschieden werden. Die Festlegung von Tourismusformen „greift auf sichtbare, äußere Erscheinungen oder auf nur zum Teil sichtbare Verhaltensweisen sowie auf die nicht sichtbare Reisemotivation zurück, um die Vielfalt der touristischen Nachfrage zu gliedern“ (2001, Band 3, S. 358f.). Wie anhand der Beispiele in Tabelle 1 sichtbar wird, erweist sich die Vielfalt von unterschiedlichen Tourismusformen als offenes Konzept, bei dem je nach Betrachtungswinkel und Interessenslage Teilbereiche der konkreten touristischen Praxis ausgegliedert werden können. Dabei sind die verwendeten Kriterien „frei wählbar, nicht immer überschneidungsfrei, sie müssen nicht die Gesamtheit aller Touristen erfassen und sie müssen einander nicht ausschließen, sondern können auch miteinander kombiniert werden“ (STEINGRUBE 2001, Band 3, S. 359).
Abgrenzungskriterien | Beispiele möglicher Tourismusformen |
Motivation | Urlaubs-, Geschäfts-, Bildungs-, Gesundheitstourismus |
Jahreszeit | Sommer-, Wintertourismus |
regionale Herkunft | Binnen-, Ausländer-, Incoming-Tourismus |
soziale Gruppe | Frauen-, Jugend-, Seniorentourismus |
Einkommen | Sozial-, Luxustourismus |
Beherbergung | Hotel-, Campingtourismus |
Verkehrsmittel | Fahrrad-, Auto-, Flugtourismus |
Landschaftsform | maritimer, alpiner Tourismus |
Distanz | Naherholung, Ferntourismus |
Dauer | Ausflug, Kurzurlaub, Langzeittourismus |
Aktivität | Ski-, Rad-, Golftourismus |
Unterschiedliche Tourismusformen (Quelle: STEINGRUBE 2001, Band 3, S. 358)
Bereits bei diesen ersten Schritten der Annäherung an touristische Begrifflichkeiten wird deutlich, dass es sich um eine offene Disziplin handelt, bei der die Phänomene oftmals nicht einfach zu fassen sind. Gleichzeitig wird sichtbar, dass es ein dynamisches Feld ist, das nicht – wie z. B. das Set der chemischen Elemente – ein abgeschlossenes Konstrukt darstellt, sondern sich kontinuierlich weiterentwickelt. So werden unter dem Begriff des Dark Tourism in jüngerer Zeit entstehende Angebotsformen zusammengefasst, bei denen die „Faszination des Schreckens“ als Attraktor fungiert (QUACK & STEINECKE 2012). In den letzten Jahren sind unter dem Stichwort der „Entschleunigung“ neue Formen des sog. Slow TourismSlow Tourism entstanden (vgl. ANTZ, EILZER & EISENSTEIN 2011). Auch die Entdeckung von kulinarischen Angeboten als Element der Positionierung von Destinationen (vgl. KAGERMEIER 2011b) steht für den permanenten Innovationsprozess im Tourismusmarkt, in dem die definitorische Fassung für die wissenschaftliche Analyse oftmals der konkreten Praxis hinterherhinkt. Die Entstehung neuer Formen wird ja nicht wie z. B. in der Pharmazie von Wissenschaftlern in Labors entwickelt, sondern entsteht im Wechselspiel zwischen Anbietern und Nachfragern in der konkreten touristischen Realität. Die Rolle der Tourismuswissenschaften beschränkt sich nicht auf das analytische Nachvollziehen der konkreten touristischen Praxis. Es werden auch Grundlagen für Produktinnovationen über die Analyse von übergeordneten Trends, auf der Basis von Produkt-LebenszyklenProdukt-Lebenszyklen oder Markt- und Wettbewerbsanalysen, vorbereitet und begleitet – oftmals vom konkreten Handeln von Innovatoren auf der Angebots- und Nachfrageseite stimuliert.
Bei der Festlegung von Tourismusformen wurde bereits auf den Begriff der FreizeitFreizeit als zentrales Motiv für viele Tourismusformen Bezug genommen. Dies geschah im Bewusstsein, dass es sich auch bei diesem Begriff um einen alltagssprachlich verwendeten Ausdruck handelt, dessen genauere inhaltliche Fassung für die wissenschaftliche Verwendung ebenfalls nicht einfach ist. Alltagssprachlich wird „Freizeit“ als zumeist positiv besetzter Begriff verwendet. Als Realdefinition kann Freizeit umschrieben werden als „Zeit für Etwas“ (zum Faulenzen, Spielen, Basteln, Bummeln, Kochen, Beschäftigung mit Kindern, Ausschlafen). Dabei kann dieser subjektiv ganz unterschiedlich gefasst werden. Für den Einen kann Kochen eine gerne und freiwillig ausgeübte Freizeitbeschäftigung sein, während für jemand anderen Kochen eine unangenehme Pflicht darstellt.
FASTENMEIER, GSTALTER und LEHNIG (2001) haben bei einer bundesweiten Befragung zum subjektiven FreizeitbegriffFreizeitbegriff, subjektiver unter anderem geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung dessen, was als Freizeitbeschäftigung angesehen wird, festgestellt. Zu mehreren Tätigkeiten sollten die Probanden auf einer Skala von 0 (= kein Freizeitcharakter) bis 10 (= hoher Freizeitcharakter) angeben, welchen Grad des Freizeitbezugs die entsprechenden Tätigkeiten besitzen. Die sich dabei ergebenden Mediane sind in Tabelle 2 dargestellt.
Tätigkeiten | Median weiblich | Median männlich |
Töpfern Friseurbesuch Einkauf im Baumarkt Fahrzeug reparieren Schaufensterbummel Textilien kaufen | 8 6 1 1 8 5 | 5 3 3 4 6 3 |
Skala: 0 = kein Freizeitcharakter bis 10 = hoher Freizeitcharakter |
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Einschätzung des Freizeitbezugs von Tätigkeiten (Quelle: Fastenmeier, Gstalter & Lehnig 2001, S. 27)
Plausibel und nachvollziehbar – und sicherlich auch manche klischeehaften Vorstellungen und Stereotype bedienend – ergab sich bei dieser Untersuchung, dass z. B. ein Friseurbesuch oder ein Schaufensterbummel für weibliche Befragte einen höheren Freizeitbezug aufweist, während männliche Befragte einer Fahrzeugreparatur oder dem Baumarktbesuch einen höheren Freizeitbezug zusprechen.
In der wissenschaftlichen Fassung des Begriffes wurde lange Zeit ein sog. „negativer FreizeitbegriffFreizeitbegriff, negativer“ verwendet. Dies bedeutet, dass Freizeit als „Restgröße“ angesehen wurde, die sich ergibt, wenn von den 168 Stunden einer Woche die Arbeitszeit und täglich etwa 11 Stunden für die physiologische Regeneration (Schlafen, Körperhygiene) und hauswirtschaftliche Tätigkeiten (Kochen, Putzen und alltägliche Einkäufe) abgezogen werden. Hintergrund dieser Herangehensweise war, dass die Zunahme der „freien Zeit“ als Folge der Reduzierung von tariflich festgelegten Wochenarbeitszeiten quantitativ gefasst werden konnte.
Inzwischen wird in der Freizeit- und Tourismuswissenschaft weitgehend ein „positiver FreizeitbegriffFreizeitbegriff, positiver“ verwendet, der versucht, die Freizeit entsprechend dem lebensweltlichen Verständnis als frei verfügbare Zeit zu verstehen. Dieses Verständnis geht zurück auf OPASCHOWSKI (1990). Es vermeidet einerseits die allein auf die Arbeitszeit bezogene Sichtweise als „Restkategorie“. Andererseits wird darauf verzichtet, Freizeit intersubjektiv einheitlich festlegen zu wollen. Es wird anerkannt, dass das Freizeitverständnis von jedem Individuum subjektiv unterschiedlich verstanden werden kann.
OPASCHOWSKI differenziert die Lebenszeit in drei Bereiche, die sich durch den Grad an Wahl‑, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit unterscheiden (vgl. Abb. 3):
„der frei verfügbaren, einteilbaren und selbstbestimmbaren DispositionszeitDispositionszeit (= ‚freie Zeit‘ – Hauptkennzeichen: Selbstbestimmung);
der verpflichtenden, bindenden und verbindlichen ObligationszeitObligationszeit (= ‚gebundene Zeit‘ – Hauptkennzeichen: Zweckbestimmung);
der festgelegten, fremdbestimmten und abhängigen DeterminationszeitDeterminationszeit (= ‚abhängige Zeit‘ – Hauptkennzeichen: Fremdbestimmung)“ (OPASCHOWSKI 1990, S. 86).
Unterschiedliche Freiheitsgrade bei Dispositions-, Obligations- und Determinationszeit (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an OPASCHOWSKI 1990, S. 86)
Ähnlich wie bei den touristischen Motiven ist es damit das Individuum mit seiner subjektiven Perzeption, das für sich entscheidet, welchen Grad an freier Entscheidung es wahrnimmt. Damit wird auch hier in der Tourismuswissenschaft ein intersubjektiv nicht eindeutig festlegbares Begriffsverständnis akzeptiert.
Nicht nur die konkreten Ausprägungen des Phänomens Tourismus haben sich vor allem im 20. Jahrhundert grundlegend verändert, sondern auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Dementsprechend werden im Folgenden ausgewählte Entwicklungslinien und Konzepte vorgestellt.