Andreas Reinke

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Wege aus der Schulangst

Copyright © by Andreas Reinke und

Mathias Voelchert GmbH Verlag

Korrektorat: Nuka Matthies, Berlin

Verlagsredaktion: Mathias Voelchert GmbH

Umschlaggestaltung: Mathias Voelchert GmbH & Sead Mujić

Typografische Bearbeitung und Satz: Sead Mujić

Herstellung BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-935758-82-6

Wie auch als gedrucktes Buch mit der ISBN 978-3-935758-81-9

Copyright für die deutsche Ausgabe 2017

© by Andreas Reinke und Mathias Voelchert GmbH Verlag,

Windberg, edition + plus

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten. Reproduktion, Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, Wiedergabe auf elektronischen, fotomechanischen oder ähnlichen Wegen, Funk und Vortrag, auch auszugsweise, gerne mit schriftlicher Genehmigung der Copyrightinhaber.

Kontakt: mvg@mathias-voelchert.de

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Andreas Reinke:

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Inhalt

Vorwort

Mit Schule verbinde ich die Angst.

Versagen. Lehrer, Mitschüler, Noten. Ich. Ich habe Angst davor, mich selbst zu zeigen. Vor den Menschen, auf die ich täglich treffe, und davor, falsch zu sein. Nicht hineinzupassen.

Dies mag ein extremes Beispiel sein, aber ich bin nicht die Einzige.

Jedem von uns geht es ähnlich. Ich kenne keine Person an meiner Schule, die gern hingeht. Gründe dafür sind eben nicht nur die Unterrichtsinhalte und der Druck, sondern die Art und Weise, wie miteinander umgegangen wird. Das alles führt zu einer Menge Stress.

Wenn man etwas verändern oder bewegen möchte, reicht es nicht, nur festzustellen, dass es nicht gut ist, wie es ist. Die Frage nach dem Warum ist vonnöten.

Was wir Schüler im Unterricht (vor allem) vermissen, ist der Bezug zur Realität. Zum »echten« Leben. Dem Leben, das auf uns zukommt, wenn wir die Schule verlassen.

Wir wünschen uns, darauf bestmöglich vorbereitet zu sein.

Was braucht ein Mensch, um im Leben zu bestehen?

Diese Frage möchte ich Ihnen mitgeben. Denn die Inhalte des sogenannten »Lehrplans« sollten sich an DIESER Frage orientieren. Ich selbst habe noch nicht sehr viel Lebenserfahrung, aber eine Erkenntnis hatte ich. Meine Antwort auf obige Frage ist: Ein Mensch sollte sich selbst kennen.

Wir verlieren uns selbst in der Schule, weil wir kaum Zeit finden, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Da dies die wichtigste Voraussetzung ist, um sich selbst kennen zu lernen, fordere ich mehr Zeit für uns Kinder und Jugendliche, damit wir herausfinden können, wer wir sind und was wir sein wollen. Ein Kind muss die Möglichkeit haben, die eigenen Stärken zu entdecken und gleichzeitig mit »Schwächen« umzugehen beziehungsweise diese zu akzeptieren. Schule sollte dabei eine fördernde und unterstützende Rolle einnehmen, keine fordernde.

Die Schule ist ein Ort, an dem viele verschiedene Menschen aufeinandertreffen.

Dies birgt natürlich viele Konflikte in sich, ist aber an sich ja keine schlechte Idee, denn es gibt uns die Möglichkeit zum Austausch und zum Erleben einer Gemeinschaft. Es ist nur wichtig, dieses Aufeinandertreffen günstiger zu gestalten und zu begleiten, damit Konflikte nicht eskalieren, sondern gemeinsam bewältigt werden. Dann gäbe es auch weniger Mobbing, was an nahezu jeder Schule ein Problem ist, über das meistens hinweggesehen wird oder wofür nur oberflächliche Lösungen gefunden werden.

Neulich hatten wir in meiner Klasse mal wieder eine von vielen Diskussionen darüber, wie wir uns Schule wünschen würden, und natürlich nannten wir erstmal alle Dinge, die wir nicht in Ordnung finden. Ein Mädchen meinte, dass sie es unmöglich fände, dass »der Staat« wenig in Kultur und Bildung investiere. Ich muss ihr zustimmen.

Eine Tatsache, die wir immer wieder vergessen, ist, dass Schule auf einen sehr persönlichkeitsprägenden Lebensabschnitt fällt: Kindheit und Jugend. In der Zeit, in der wir erwachsen werden oder es werden sollten, formt sich mit uns die Zukunft der Gesellschaft.

Wie soll unsere Zukunft aussehen? Möchten wir eine Welt, in der die Menschen alles abschreiben und auswendig lernen, was ihnen gesagt wird, um es zeitnah wieder zu vergessen? Oder wollen wir Kinder zu Erwachsenen reifen lassen, die selbstständig und nachdenklich sind und Verantwortung übernehmen können?

Ist es wirklich wichtiger, dass jede/r von uns das Wissen der letzten zweitausend Jahre einmal durch sein Gehirn hat laufen lassen, als dass er/sie sich mit den Dingen beschäftigen kann, die ihn/sie wirklich interessieren und vielleicht eine berufliche Zukunft bedeuten können?

Unter Bildung wird meist das Aneignen von Wissen unter Leistungsdruck (und damit auch Angst) verstanden, und entsprechend einseitig ist der Schulalltag gestaltet. Einen viel größeren Raum sollte das soziale Miteinander einnehmen: Ich ging fünf Jahre lang in eine Schule, in welcher einige der Lehrer zuließen, dass man von ihnen nicht nur als »Stoffvermittler« etwas lernte, sondern auch als Menschen. Für viele hat das Leben an dieser Schule bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der Schüler und Lehrer voneinander lernten. In etlichen Bildungseinrichtungen ist das anders: Größtenteils existiert da diese harte Grenze zwischen Lehrern und Schülern. Das ist schade. Diese Zeit, besonders das Jahr, in welchem ich in die fünfte Klasse ging, ist für mich eine sehr prägende Zeit gewesen, ohne die ich sicherlich ein anderer Mensch wäre. Sicher: Wir versäumten während all dieser Diskussionen und Gespräche so manchen Lehrplaninhalt. Dennoch: Ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Wahrscheinlich mehr, als ich in den nächsten zwei Jahren, in der Zeit bis zum Abitur, lernen werde.

Lernen.

Meine Idealvorstellung von Schule: Lernen, wo meine Schwächen und Stärken liegen.

Lernen, sich gegenseitig zu akzeptieren und Gedanken auszutauschen.

Lernen, was ich und wie ich es will. In meinem eigenen Tempo.

Ich wünsche mir, dass sich etwas ändert, und um Dinge zu ändern, braucht es Menschen, die bereit sind, nicht nur umzudenken, sondern anders zu handeln.

Ich hoffe und bin mir sicher, dass dieses Buch einen Teil dazu beitragen wird.

Ich wünsche mir, dass Schule ein Ort ist, an dem ich gern bin.

Ein Ort ohne Angst.

Jorinde Becker (17),
ehemalige Schülerin von Andreas Reinke

Einleitung: Etliche, viele, manche, häufige …

Sind etliche Schulen acht von zehn Schulen? Wen meine ich mit der Formulierung viele Lehrer1? Und auf wen genau bezieht sich der Ausdruck manche Eltern? Erlaubt sein darf außerdem die Frage, wie häufig häufig nach meinem Ermessen wohl ist?

Auf den folgenden Seiten werde ich regelmäßig (regelmäßig?) von etlichen, vielen, manchen, bisweilen sogar unzähligen Schulen, Lehrern, Eltern und Schülern sprechen. Von Institutionen und Menschen, die nach meiner Einschätzung oft, manchmal oder immer dieses oder jenes tun beziehungsweise unterlassen. Ich kann den Lesern versprechen, mit meinen Formulierungen zu ringen und nur denjenigen grünes Licht zu erteilen, die ich für tragfähig halte. Damit ist indessen nicht geklärt, ob ich immer »richtig« liege. Der eine wird sagen »Ja, das stimmt!«, der andere »Nein, das stimmt nicht!« Wer hat Recht? Rechthaberei ist nicht mein Anliegen. Nach nunmehr vierzehn Jahren als Lehrer bin ich der Überzeugung (und selbst die muss nicht »stimmen«), dass Schulentwicklung und Rechthaberei im krassen Widerspruch zueinander stehen. Gewiss müssen insbesondere wir Lehrer Stellung beziehen und sagen, was wir denken und wofür wir stehen. Gleichwohl sollten wir uns regelmäßig daran erinnern – und zwar unabhängig davon, wie fundiert wir unsere Meinungen vertreten können und was im Schulgesetz steht –, dass wir nicht das Maß aller Dinge sind. Mehr denn je sind wir Lehrer aufgefordert, die Verantwortung für die Qualität des Miteinanders zu übernehmen, und das setzt nach meiner Überzeugung unbedingt voraus, eigene Wahrheitsansprüche zu disziplinieren. WIR geben den Ton an! Wenn wir uns – nach schier endlosen Zeiten der zermürbenden Diskussionen und der entwürdigenden »Falschmacherei« – öffnen wollen für den gleichwürdigen Dialog, müssen wir uns lösen von der Idee, allein aufgrund unserer Rolle DIE Wahrheit zu kennen. Ich selbst kenne nur eine Wahrheit, nämlich die, dass es speziell in Schulentwicklungsfragen keine absolute(n) Wahrheit(en) gibt. Unzählige Eltern und Schüler wehren sich heute gegen die schulische Definitionsmacht. Sie fragen nach, sie sagen »Nein!«, sie mischen sich ein. Wollen sie die Macht an sich reißen? Nein. Sie wollen in erster Linie »gesehen« und ernst genommen werden.

Wir alle konstruieren unsere Realitäten nicht aufgrund objektiver Wahrheiten, sondern vor dem Hintergrund erfahrungs- und umweltbedingter (bewusster und unbewusster) Deutungen. Das gilt natürlich auch für mich, und das will ich in der Auseinandersetzung mit dem Thema Schulangst berücksichtigen. Zwar arbeite ich seit geraumer Zeit als Lehrer, aber es wäre vermessen, zu glauben, ich könne auf Grundlage meiner Erfahrungen eine Art Schul-Schablone entwerfen. Ich weiß nicht, wie die Schulen in München, Schwerin oder Köln sind. Ich kenne keine Lehrer aus Bremen, Görlitz oder Wolfsburg. Mir sind keine Eltern aus Würzburg, Ulm oder Radebeul bekannt. Und Schülern aus Niebüll, Dresden oder Hannover bin ich auch noch nicht begegnet.

Zumindest nicht wissentlich.

Und dennoch schreibe ich ein weiteres Buch zum Thema Schule2. Ein Buch über etliche Schulen, viele Lehrer, manche Eltern und häufige Situationen. Wie komme ich dazu? Sollte ich nicht bei meinen Leisten bleiben und mich ausschließlich auf das konzentrieren, was ich in den letzten vierzehn Jahren selbst und konkret erlebt habe?

Ich glaube nicht, alle Schulen, Lehrer, Schüler und Eltern kennen zu müssen, um behaupten zu dürfen, dass es etlichen Menschen an unseren Schulen aufgrund massiver Ängste schlecht geht. Zwei Fragen treiben mich um: Warum gibt es an unseren Schulen so viel Angst und Elend? Und: Wie kommen wir raus aus der Nummer? Während ich auf den nächsten Seiten einen kritischen, wenngleich (hoffentlich) wertschätzenden Blick auf unser Schultreiben riskiere, mute ich mir und den Lesern zu, eine Schule in Erwägung zu ziehen, die getragen wird von Werten wie Vertrauen, Gleichwürdigkeit, Empathie, Integrität und Dialog. Eine Schule, die Menschen in ihrem Sosein stärkt und nicht sagt: »So müsst ihr sein!« Eine Schule, in der Menschen wachsen dürfen und nicht schrumpfen müssen, um in den Augen anderer richtig zu sein. Ich will hervorheben, dass ich mit dem Wort Menschen nicht ausschließlich Kinder und Jugendliche assoziiere. Zu viel will ich an dieser Stelle nicht vorwegnehmen, doch will ich bereits hier meine Überzeugung andeuten, dass wir unsere Schulen erst dann weiterentwickeln können, wenn wir sie nicht ausschließlich vom Schüler her denken. Dieser Gedanke mag irritieren, schließlich scheint nichts naheliegender zu sein, als alles zu tun, um Kindern und Jugendlichen eine gute Schule zu ermöglichen. Unbedingt jedoch müssen wir in unsere Überlegungen einbeziehen, dass es uns – die Erwachsenen – auch noch gibt. Uns Lehrern, uns Eltern3, unserem Wohlergehen und den Beziehungen zwischen Lehrern und Eltern haben wir in der Vergangenheit deutlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar führen Lehrer und Eltern heute häufiger Gespräche als noch vor dreißig Jahren, nur geht damit nicht unweigerlich einher, dass die Qualität der Zusammenarbeit gestiegen wäre. Noch immer berichten Lehrer und Eltern von entwürdigenden Anschuldigungen und kräftezehrenden Kämpfen. Permanent wird der schwarze Peter von einem zum anderen gereicht. Mal haben die Lehrer Schuld, mal die Eltern. Das ist zwar in gewisser Weise normal, nur kommen wir so nicht weiter. Wie wollen wir eine Schule der Zukunft anbahnen, wenn Lehrer und Eltern kurzatmig und im Gegeneinander die letzten Kraftreserven mobilisieren? Das funktioniert nicht! Wenn wir »alle« sind, sind wir zumeist nicht offen für Dialog, für alternative Perspektiven, für interdisziplinäre Zusammenhänge. Dann berufen wir uns eher auf »das Alte«. Mit den alten Sichtweisen und Werkzeugen fühlen wir uns nicht unbedingt wohl, aber mit ihnen kennen wir uns zumindest aus.

Das, was ich in diesem Buch anspreche, ist das (vorläufige) Ergebnis langen Nachdenkens, intensiven Reflektierens, genauen Hinspürens, empathischen Zuhörens. Ich habe in den vergangenen Jahren viele Gespräche geführt mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, Lehrern und Schulleitern, und es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht Nachrichten bekomme von Menschen, die sich zum Schulthema äußern. Zum Teil erreichen mich überaus bewegende Zeilen, und es ist mir ein wichtiges Anliegen, einige Auszüge in mein Buch zu integrieren.4

Ich hoffe sehr, dass ich Ihnen sinnvolle Impulse und wohltuende Perspektiven anbieten kann. Egal, ob Sie Lehrer, Eltern oder ganz einfach interessiert sind. Mit Rezepten jedoch kann ich nicht dienen. Schulrezepte muss ich Ihnen schuldig bleiben. Machen Sie sich ein Bild, bleiben Sie kritisch und nehmen Sie bitte mein Bedauern darüber zur Kenntnis, dass es mir nicht immer gelingen wird, detailliertere Angaben als unzählige, viele, manche und häufige zu machen.

Eines aber weiß ich ganz genau, und an diesem Punkt lasse ich nicht mit mir diskutieren:

In diesem Land (und in anderen Ländern) gibt es unglaublich viele wunderbare Menschen, die jeden Tag versuchen, ihr Bestes zu geben. Sowohl im privaten Umfeld als auch im beruflichen Bereich. Sowohl in der Familie als auch in der Schule.

Manchmal werde ich gefragt, ob es bei all den unterschiedlichen Individuen, Interessen und Rollenbeschreibungen einen großen gemeinsamen Nenner geben könnte. Etwas, was Pädagogen, Schüler und Eltern vereint.

Ja, da gibt es etwas: das Menschsein.

Das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen und unter anderem davon handelt dieses Buch.

Ich wünsche Ihnen viel Freude.

Grimma, im Oktober 2016


1 Zur besseren Lesbarkeit habe ich meistens darauf verzichtet, die Formulierungen »Lehrerinnen und Lehrer«, »Schülerinnen und Schüler«, »Schulleiterinnen und Schulleiter« usw. zu nutzen. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die das nicht mögen. Ich bitte um Nachsicht und betone, dass ich das »Innen« beim Schreiben mitgedacht und mitgefühlt habe.

2 Mein erstes Buch Das wird Schule machen – Kein Bildungssystem kann besser sein als seine Lehrer! wurde in der familylab-Schriftenreihe im Herbst 2015 veröffentlicht.

3 Ich bin Vater einer elfjährigen Tochter.

4 Mit Zustimmung derer, die ich zitiere …

Schulangst

»Die Phantasie der Angst ist jener böser, äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat.«

Friedrich Nietzsche

Wir haben an unseren Schulen – wohlgemerkt auf allen Ebenen – ein massives und bisweilen hervorragend getarntes Angstproblem. Lange Zeit hießen wir Angst an unseren Schulen willkommen. Sie stand sozusagen auf der Gästeliste und erfreute sich unter Pädagogen (und Eltern) zumeist größter Beliebtheit. Besonders jene Lehrer, die sich der Aufgabe verpflichtet sahen, Schüler gefügig und passgerecht zu machen, begrüßten es, wenn Kinder und Jugendliche aus Angst vor Sanktionen und Beschämungen den Kopf senkten. Das Schüren von Schulängsten zählte zum Repertoire der klassischen Lehrerautorität. Man könnte auch sagen: Klappern gehörte zum Handwerk. Also klapperten Lehrer, was das Zeug hielt, während Schüler zähneklappernd (oder zähneknirschend) darauf hofften, wegen »guter Führung« ungeschoren davon zu kommen. Wer die Klappe hielt, hatte ganz gute Chancen, in Ruhe gelassen zu werden. Die Vorlauten, die Abweichler, die Ungehorsamen mussten fühlen. Notfalls unter Zuhilfenahme des Stocks. Und wenn kein Stock zur Hand war – so berichtete uns unter anderem Arno Gruen5 aus seiner Schulzeit – beauftragte der Lehrer seine Schüler, einen passenden Stock zu besorgen.

Die Epoche des Stocks gehört glücklicherweise der Vergangenheit an. Ist damit auch das Phänomen Schulangst verschwunden? Meine Meinung: Nein. Schulangst steckt in jeder Pore unseres Schulsystems, erweist sich als äußerst wandlungsfähig und versetzt nicht mehr allein Kinder und Jugendliche in dauerhafte Alarmbereitschaft. Längst ist Schulangst zu einem Problem für Kinder, Jugendliche UND Erwachsene geworden. Immer mehr Schüler, Lehrer und Eltern leiden unter massiven Ängsten und destruktiven Angstbewältigungsstrategien. Etliche Verängstigte nennen das, was sie im Alltag antreibt, nicht Angst, sondern Motivation oder Ehrgeiz. Unter hohem Einsatz versuchen sie, über Fach-, Anpassungs- und Verdrängungsleistungen ihrer Angst (zum Beispiel vor Versagen, Wertminderung, Verletzungen, Bloßstellungen, Nichtzugehörigkeit, Fehlern, Abstieg, Imageverlust, Schuldzuweisungen, Respektlosigkeit, Bedeutungslosigkeit, Nichtbeachtung) den Nährboden zu entziehen. In ihrem Treiben, das die wenigsten Menschen mit massiver, existentieller Angst in Verbindung setzen würden, registrieren sie nicht, dass sie einem Angstungeheuer Nahrung zuführen, das Seelen aufisst.


5 Schiffer, Monika: Arno Gruen. Jenseits des Wahnsinns der Normalität. Biographie.

»Du spielst doch bloß Theater …« – Lehrer und Angst

»Ich glaube, dass viele Lehrer im Grunde Ihres Herzens Angst vor den Schülern haben. Vor allem die Härteren unter ihnen und die, die abfällig von ihren Schülern sprechen.«

Karolin Kaden, psychologische Beraterin

Nach meiner Einschätzung sind viele Lehrer unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle in einer Art Angstblase gefangen, die, obwohl sie sie daran hindert, gesunde und gesundheitsfördernde Lehrer zu sein, ein gewisses Maß an Sicherheit spendet und Stabilität verleiht. Sie ist der gewohnte Raum, in dem sie sich häuslich eingerichtet haben. Zumeist schon lange, bevor sie Lehrer geworden sind. Wer seit frühster Kindheit immer wieder die Erfahrung gemacht hat, nur unter bestimmten Voraussetzungen dazuzugehören und »gesehen« zu werden, ist möglicherweise auch als (berufstätiger) Erwachsener anfällig dafür, seine Angst vor Ab- und Zurechtweisungen mit Hilfe derjenigen Überlebensstrategien zu bekämpfen, die bereits im Kindesalter erlernt wurden. Menschen, die aufgrund ihrer Lebenserfahrungen die implizite Überzeugung gewonnen haben, dass sie im Miteinander mit anderen Menschen Gefahr laufen, angegriffen, angefeindet und ignoriert zu werden, werden aller Voraussicht nach auch im beruflichen Kontext regelmäßig auf Verteidigungsstufe »Defcon 1« gehen, um den »worst case« zu verhindern. Im Verteidigungsmodus sind im menschlichen Gehirn vor allen Dingen die Areale aktiv, die zuständig sind für Gefahrenabwehr. Im Körper wird unter anderem das Hormon Kortisol freigesetzt, das die Amygdala (Angstzentrum) aktiviert. Wenn der Eindruck entsteht, dass Leib und Seele bedroht sind, gehen innerhalb kürzester Zeit die archaischen Notfallprogramme »online«. Das Gehirn ist, noch bevor der bewusste Denkapparat differenzierte Einschätzungen vornehmen, intelligente Schlussfolgerungen ziehen und die Aufmerksamkeit willentlich steuern könnte, ausgerichtet auf Angriff, Verteidigung oder Erstarren (fight, flight, freeze). Archaische Notfallprogramme sind angesichts konkreter Bedrohungen (zum Beispiel durch einen beißwütigen Hund) durchaus sinnvoll und überlebenswichtig. Wenn es eng wird, müssen wir schnell sein. Würden wir »um die Ecke denken«, liefen wir Gefahr, »um die Ecke« gebracht zu werden. Notfallprogramme können sich jedoch destabilisierend auf Wohlbefinden, Beziehungen und kognitive Fähigkeiten auswirken, wenn Menschen ein Leben führen, in dem es um nichts anderes zu gehen scheint als ums nackte Überleben.

Ich begegnete in der Vergangenheit Kollegen, denen ihre Arbeit als Lehrer wie ein Überlebenskampf vorkam. Ihr erstes Anliegen schien darin zu bestehen, irgendwie durchzuhalten. So erging es wohl auch Frau Dimmer, die ich eines Tages an ihrem Lehrerspind antraf. Sie hielt einen Brief in der Hand und sagte mit leiser Stimme: »Noch fünfzehn Jahre.« Ich fragte, was es mit der Angabe »fünfzehn Jahre« auf sich habe. Etwas gedankenverloren blickte sie auf ihren Rentenbescheid und erklärte: »Noch fünfzehn Jahre bis zur Pension.«

Die meisten Lehrer und Nicht-Lehrer meinen, als Professioneller dürfe man ganz einfach keine Angst haben. Das sei unprofessionell und führe zu Autoritätsverlust. Angst gehöre nach allgemeiner Denk- und Gefühlsart nicht ins Portfolio eines Lehrers und dürfe keinen Einfluss nehmen auf die Arbeit des guten Wissensvermittlers. Ich kann dieser Einstellung nichts abgewinnen. Mehr noch: Ich halte sie für gefährlich. Zu behaupten, dass Lehrer nicht vom Angstvirus befallen wären beziehungsweise befallen werden sollten, bedeutet meiner Meinung nach, ein allgegenwärtiges Schulproblem zu leugnen, zu verfestigen und zu streuen. Unzählige Lehrer werden von massiven Ängsten geplagt und verstärken diese dadurch, dass sie sie entsprechend erlernter Muster bekriegen, umbenennen, nicht wahr- und annehmen. Sie fürchten sich hinter einem Schutzwall aus Scheinenwollen und zur Schau gestellter Autorität vor kränkenden und konfliktreichen Begegnungen mit Schülern, Eltern, Kollegen, Schulleitern. Aus Angst vor Grenzverletzungen, Autoritätsverlust und Fehlern sind sie eher mit restriktiven Verteidigungsmechanismen, defensiven Präventionsmaßnahmen und aggressiven Fremdzuschreibungen beschäftigt, als sich empathisch den eigenen und nach meiner Überzeugung sehr alten Ängsten zuzuwenden. Vor dem Hintergrund alter Prägungen prägen sie heute diejenigen, die in der normopathischen Welt Schule gezwungen sind, sich erwartungsgemäß anzupassen.6 Schüler müssen sich den Normen und der Definitionsmacht ihrer Lehrer unterordnen. Wenn der Schwimmlehrer der Meinung ist, dass Björn aus der zweiten Klasse eigentlich keine Angst vor dem Schwimmunterricht hat, sondern lediglich »Theater spielt«, um sich »zu drücken«, hat Björn sehr wahrscheinlich mehrere Probleme: Er ängstigt sich auch weiterhin vor dem Schwimmunterricht (und dem Schwimmlehrer); ihm wird nicht geglaubt; er weiß nicht, wie er mit der angstbesetzten Situation umgehen kann; er denkt, dass mit ihm und seinem subjektiven Erleben etwas im Argen liegt. Björn befindet sich in einer Notlage und wäre unbedingt darauf angewiesen, dass ihm mitfühlende Erwachsene Sicherheit spenden. Stattdessen wird er allein dadurch verunsichert, dass ihm die Absicht unterstellt wird, er würde lediglich »Theater spielen«. Möglicherweise wird Björn im Laufe der Zeit lernen, »Theater zu spielen«, »mit dem Strom zu schwimmen«, »sich zusammenzureißen«, seine Gefühle abzuspalten, seinen inneren Impulsen zu misstrauen, sich zu deprimieren (»deprimere«: unter anderem niederdrücken). Zum Zwecke der überlebensnotwendigen Anpassung droht sein Selbstwertgefühl (»Was weiß ich über mich, und wie verhalte ich mich dem gegenüber?«) Schaden zu nehmen.7

In der Leistungsgesellschaft »Schule« ist es normal, Ängste zu verharmlosen und/oder über Anpassung, Leistungen oder Maßnahmen zu »zähmen«. Entscheidend ist nicht, wie es den Menschen geht und was sie fühlen. Entscheidend sind Abläufe und Ergebnisse. Sollte besagter Björn zukünftig am Schwimmunterricht teilnehmen, ohne »Theater zu spielen«, hat der Pädagoge zielgerichtet gehandelt. Damit geht jedoch nicht unweigerlich einher, dass Björn einen konstruktiven Weg gefunden hat, mit seiner Angst umzugehen. Björn wird nicht ewig in der zweiten Klasse bleiben. Irgendwann wird er zwölf Jahre alt sein und unter Umständen dadurch auffallen, dass er Mitschüler verängstigt und unter Druck setzt. »Eigenartig«, werden seine Lehrer sagen, »bisher hat sich Björn doch immer an die Regeln gehalten.« Dass auffällig gewordene Schüler Krisen auf der existentiellen Ebene durchleben, findet in etlichen Schulen entweder kaum Beachtung oder wird kategorisch in Richtung Elternhaus delegiert. Viele pädagogisch Professionelle meinen, dass die Probleme ihrer Schüler nichts mit ihnen und ihren Einflüssen zu tun hat. Schließlich sind sie die Professionellen. Wenn es schief geht, muss es an den Schülern beziehungsweise deren Eltern liegen. Meiner Ansicht nach haben viele Lehrer eine panische Angst davor, vor der eigenen Haustür zu kehren und sich einzugestehen, dass sie auch als Lehrer ganz normale Menschen mit biographisch bedingten Reiz-Reaktions-Mustern sind.

In der gegenwärtigen Schul-Diskussion geht es mir viel zu sehr um Konzepte, Strukturen und Finanzen. Ich möchte diese Aspekte keineswegs verleugnen – sie sind ohne Frage wichtig –, jedoch will ich betonen, dass Schulentwicklung an dem Punkt beginnt, an dem die Verantwortlichen Verantwortung für sich und die Qualität des Miteinanders übernehmen. Ich hoffe inständig, dass der Tag kommen wird, da Lehrer und Schulleiter sagen können: »Es ist uns nicht gelungen, mit dem Schüler einen guten Kontakt aufzubauen. Wir müssen uns fragen, was die Krise des Schülers mit uns und unserem Einfluss zu tun haben könnte. Welche Botschaft verbirgt sich hinter dem Symptom?«

In der Traditionsschule gilt das Gesetz der Normalität. »Unnormale« Kinder und Jugendliche müssen möglichst geräuscharm normalisiert werden. Etliche »unnormale« Heranwachsende geraten in die Fänge übergriffiger (und hoch motivierter) Lehrer, die aufgrund ihrer eigenen Entfremdungsgeschichte nicht wissen und spüren, dass ihr Tun das Potential hat, junge Menschen ins Gefühlschaos zu stürzen beziehungsweise in die Gefühlsarmut zu treiben. Für viele Pädagogen ist es schlicht und ergreifend normal, Gefühle auszuschalten und abzuwerten. In sich und in ihren Schülern.

Wenn ich auf Lehrer treffe, aus denen Sätze strömen wie zum Beispiel »Du spielst doch bloß Theater!« oder »Du musst doch keine Angst vor der Klassenarbeit haben! Schließlich hast du doch geübt, oder?« oder »Du hast Angst vor der Klassenfahrt? Dafür gibt es doch gar keinen Grund! Nun stell dich mal nicht so an!« oder »Sei ein Mann!« oder »Liebe Eltern, Sie müssen keine Angst haben. Ihre Kinder müssen da durch!«, zucke ich zusammen. Wahrscheinlich zucke ich auch deswegen zusammen, weil ich selbst weiß, wie beängstigend und ungeheuerlich Angst werden kann, wenn sie nicht da sein darf, reglementiert, verdrängt und bekämpft wird.


6Normopathie.Das Geschenk des Lebens,Das Mögliche verwirklichen. Perspektiven der Humanistischen Psychologie.