Band 198
Jahrespublikation 2020
Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
ISBN 978-3-7117-3018-3
eISBN 978-3-7117-5437-0
Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter
www.wienervorlesungen.at
Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Wie Corona unser Leben
verändert
Picus Verlag Wien
Die Wiener Vorlesungen
Vorwort
Ulrike Guérot
Lackmustest für die europäische Solidarität
Georg Psota
Gemeinsam statt einsam:
Wie wir in der Krise psychisch gesund bleiben
Barbara Prainsack
Gesellschaft im Umbruch:
Was macht die Krise mit uns?
Erste Ergebnisse aus den Sozialwissenschaften
Christian Korunka
Arbeiten im Home Office:
Lernen aus der Krise
Die Autorinnen und Autoren
Vor mehr als dreißig Jahren wurde ein ebenso unverwechselbares wie hochkarätiges Wissenschaftsformat ins Leben gerufen: die Wiener Vorlesungen. Fächerübergreifend setzen sie sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen unserer Zeit auseinander und bereichern so den Kulturkalender der Stadt Wien um einen wichtigen Erkenntnisraum.
Als Forschungsstandort und Universitätsstadt hat die Stadt Wien eine Spitzenposition im mitteleuropäischen Raum inne und sieht es auch in ihrer Verantwortung, Impulsgeberin für aktuelle und zukunftsrelevante Fragestellungen zu sein. Die gesellschaftspolitische Relevanz von Wissenschaft steht dabei außer Frage: Bildung und Wissen sind wesentliche Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben und für eine funktionierende demokratische Zivilgesellschaft. Als ein sich ständig weiterentwickelndes Projekt der Aufklärung waren und sind die Wiener Vorlesungen »geistiger Initialzünder« für einen offenen und öffentlichen Diskurs, der nicht nur innerhalb wissenschaftlicher Zirkel geführt wird, sondern ein breites Publikum als Beitrag für eine offene Gesellschaft erreicht.
Auch nach drei Jahrzehnten geben die Wiener Vorlesungen Anstöße für Kontroversen und behandeln jene Themen, die für die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner besonders relevant sind.
Die Flexibilität der Veranstaltungsreihe Wiener Vorlesungen hat sich während des Corona-Shutdowns bestätigt. Es konnte der Beweis angetreten werden, dass das Wissenschaftsformat nicht nur inhaltlich beweglich, sondern auch organisatorisch flexibel ist. Mit großem Engagement und Kreativität wurde auf die Situation reagiert, das ursprünglich geplante Programm auf den Kopf gestellt und innerhalb von zwei Wochen nach dem völligen Lockdown des öffentlichen Lebens das neue Format »Wiener Vorlesungen online« gestartet, das an ausgewählten Donnerstagen eine Wiener Vorlesung digital zur Verfügung stellte, in der im April 2020 Expertinnen und Experten die Krisensituation aus verschiedenen Blickwinkeln betrachteten und ein Beitrag dazu geleistet wurde, den kritischen Blick zu schärfen, um auch in unübersichtlichen Zeiten Haltung zeigen und informiert Stellung beziehen zu können. Es wurde die Möglichkeit geschaffen, weiterhin in Verbindung zu bleiben, sozusagen von Wohnzimmer zu Wohnzimmer, und Wissenschaft nicht live, aber hautnah zu Hause zu erleben. Damit wurden die Wiener Vorlesungen Teil eines größeren Ganzen, mit dem das kulturelle Leben der Stadt auch unter widrigen Umständen weitergehen konnte. Das große Interesse an dem neuen Format bestätigte die Wichtigkeit, gerade in schwierigen Zeiten für die Möglichkeit zu sorgen, sich fundiert informieren zu können. Denn nur eine informierte Öffentlichkeit, die sich auf Fakten und zuverlässige Informationen und Wissenschaftskonzepte stützen kann, ist in der Lage, Ruhe und Vertrauen zu bewahren, um auch Ausnahmesituationen gut meistern zu können.
Im Fokus der Wiener Vorlesungen steht ab sofort mehr denn je die Kommunikation mit einem offenen und neugierigen Publikum. Es werden in Zukunft wieder prominente Denkerinnen und Denker im Sinne einer zeitgemäßen Wissenschaftsvermittlung eingeladen, ihre Erkenntnisse und Einsichten mit der Bevölkerung zu teilen und einen offenen Dialog zu führen. Dazu ist kein Studium nötig, das ideale Publikum hat kein Alter, keine Titel, aber eine große Wachheit und eine unbändige Neugier auf das Neue, das Unbekannte und brennende gesellschaftliche Fragen.
So bieten die Wiener Vorlesungen auch weiterhin einen faszinierenden Einblick in die Werkstatt der Wissenschaft, der die Vielfalt des Gesellschafts- und Geisteslebens unserer Zeit widerspiegelt und die Sicht auf die Differenziertheit und Diversität der Gegenwart schärft.
Veronica Kaup-Hasler
Stadträtin für Kultur und Wissenschaft
Mit ihrem Jahresschwerpunkt 2019 haben die Wiener Vorlesungen einen umfassenden Blick in die Zukunft geworfen, dabei wurde erneut deutlich, wie wichtig es ist, sich nicht nur mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch mit ihrer sinnvollen Vermittlung zu befassen.
Diese Frage der Wissensvermittlung und des Wissenstransfers sollte im Mittelpunkt des ersten Halbjahresprogramms 2020 stehen. Den thematischen Rahmen bildete dabei das Jahresthema »Die Zukunft der Stadt«, das als Folie vor dem Schwerpunkt angemessener Wissenschaftsvermittlung an verschiedenen Universitäten fungierte, denn ein lebendiger universitärer Austausch und Wissenstransfer sind wesentlicher Teil der Stadtkultur. Leider konnten nur zwei der Veranstaltungen wie geplant realisiert werden, die zweite im März 2020 bereits vor leeren Stuhlreihen als Livestream, da uns mit der Corona-Pandemie eine andere Realität einholte, auf die wir mit dem Format Wiener Vorlesungen online antworteten.
Die Vorteile der digitalen Wissensvermittlung nutzen die Wiener Vorlesungen ohnehin: Die meisten Veranstaltungen konnten bereits bisher per Livestream verfolgt werden und sind auch nachträglich immer auf der Website abrufbar. Somit kann zeitgleich, aber auch zeitversetzt an der Diskussion brandaktueller Fragestellungen partizipiert werden. Die Wiener Vorlesungen sind jederzeit und für alle, die Zugang zum Internet haben, kostenlos verfügbar.
Die Auseinandersetzungen aus den vier Online-Vorlesungen im April 2020 sollen auch in Form dieser Sammelpublikation zugänglich bleiben. Einerseits als Erinnerung an ein Gemeinschaftserlebnis, das sich in unser kollektives Gedächtnis einprägen wird, andererseits als Vision, die Erkenntnisse aus dieser einschneidenden Zeit auch für die Zukunft nutzbar zu machen.
Wie mit einer Lupe vergrößerte die Pandemie die Wahrnehmung politischer, psychischer, sozialer, beruflicher Verfasstheit und machte Unzulänglichkeiten, aber auch Fähigkeiten deutlich.
Während in der ersten Vorlesung im neuen Format Ulrike Guérot ein Plädoyer für ein solidarisches Europa in Zeiten der Krise und den Zusammenhalt der Europäischen Union gehalten hat, stand in der zweiten Vorlesung mit Georg Psotas Hinweisen für die Aufrechterhaltung der psychischen Stabilität der Mensch und die Bedeutung eines Gemeinschaftsgefühls im Zentrum sowie die Herausarbeitung der positiven Momente einer konstruktiven Krisenbewältigung.
Mit Barbara Prainsacks Präsentation einer länderübergreifenden sozialwissenschaftlichen Studie zum Verhalten der Menschen in der Ausnahmesituation wurde in der dritten Vorlesung gezeigt, dass das gemeinsame Erleben durchaus solidarischer macht, aber auch gesellschaftliche Ungleichheiten noch deutlicher zutage treten. Solidarischere Gesellschaftssysteme und eine größere Konsumbewusstheit sind zwei Hoffnungen am Ausgang der Pandemie. Den Abschluss im April machte Christian Korunka mit einer Vorlesung zur für viele Menschen neuen Arbeitssituation im Home Office und wie diese Erfahrungen auch weiterhin genutzt werden können.
Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie ausgesprochen wichtig die Orientierungsleistung von seriösem Wissen ist. Die schier nicht mehr zu überblickende Vielfalt des Informationsangebots wirft Selektions- und Glaubwürdigkeitsproblematiken auf, die durch vertrauenswürdige Wissenschaftsvermittlungsformate abgefedert werden können und die dabei unterstützen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und somit die Maxime aus der Aufklärung umzusetzen, die durch die Notwendigkeit der vernünftigen Kontrolle dieser Angebotsfülle heute noch viel zentralere Bedeutung als früher hat.
Im Zeichen der Covid-19-Pandemie erfüllten die Wiener Vorlesungen erneut den demokratiepolitischen Auftrag, die wesentlichen Probleme der Gegenwart darzulegen und zu analysieren und kommentieren, die wir heute für morgen bewältigen müssen.
Daniel Löcker
2. April 2020
Der Wiener Historiker Wolfgang Schmale hat in einer linguistischen Langzeitstudie1 über die Verwendung des Begriffs Solidarität in sechs europäischen Staaten gezeigt, dass es um die europäische Solidarität immer dann besonders schlecht bestellt ist, wenn am lautesten nach ihr gerufen wird. So wie zum Beispiel jetzt in Zeiten von Corona. Signifikante Ausschläge nach oben beim Gebrauch des Wortes »Solidarität« in verschiedenen europäischen Zeitungen, so Schmale in seiner Messung über die Jahre 1800 bis 2000, zeigen, dass eigentlich Krieg in der Luft lag, wann immer in Europa nach Solidarität gerufen wurde. Kurz nach den messbaren Ausschlägen liegen historische Daten bzw. Ereignisse wie etwa die von 1848, 1872, 1914 oder 1932. Vor dem Hintergrund dieser Studie müsste man sich derzeit große Sorgen um Europa machen. Jacques Delors, der ehemalige Kommissionspräsident, hat sich gerade zu Wort gemeldet: »Le manque de solidarité européenne fait courir un danger mortel à l’Union européenne.«2 Europa ist in tödlicher Gefahr!
Um aus den meist blutigen europäischen Ereignissen mangelnder Solidarität Lehren zu ziehen, wurde ab 1950 zunächst die Europäische Gemeinschaft von Kohle und Stahl gegründet, aus der dann über eine jahrzehntelange politische Entwicklung schließlich die EU geformt wurde, in der wir heute leben – vielleicht sollte man lebten sagen? Inklusive Binnenmarkt, Schengen-Abkommen, Euro, Erasmus, Lissabonner Vertrag und vielen anderen Dingen mehr.
Am 9. Mai 2020, in weniger als zwei Monaten, wird die große alte Dame EU siebzig Jahre, wenn nicht auch sie vorher an Corona stirbt. Es könnte ein trauriger Geburtstag werden. Frieden, Freiheit, Wohlstand für ganz Europa, diese Versprechen hatte sie jahrelang abgegeben, vor allem aber jenes »Nie wieder Krieg«ein