IRMIN BURDEKAT
Die, die, die Leude woll’n das krass serviert!
Fünf Sterne deluxe
Im Jahr 1978 eröffnet Ginny’s Restaurant Group das zehnte Lokal der Kette. Eine große Party in Barrie, zu der viele Mitarbeiter anderer Filialen eingeladen sind. Danach geht der Run auf das neue Haus los, stärker und anstrengender als je zuvor. Marlene bleibt einige Zeit, um der Store-Managerin zu helfen. Drei Tage nach der Neueröffnung schaut auch Russell Bayfield wieder vorbei. Er wird von Marlene kurzerhand in die Spülküche verfrachtet, wo er sich sein Feierabendbier redlich verdient. Am Ende sind es etliche Feierabendbiere, und die Heimfahrt nach Parry Sound ist unmöglich. Marlene hat ein großes Zimmer im Holiday Inn – mit zwei Betten. Aber in dieser Nacht brauchen sie nur eines. „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben… Und wenn man schon so redet und sie hat keins, na da ist es doch viel besser gleich, sie hat eins!“ Seit dieser Nacht hat Marlene ein Verhältnis, regelmäßigen Sex und einen nahen Menschen, der ihr guttut. Der ihr seit der ersten Begegnung gutgetan hat. Den sie schätzt, mag, ein wenig bewundert und der ihr die Freiheiten lässt, an die sie sich so sehr gewöhnt hat. Aber Frau Bayfield liegt auf der Lauer. Immer mit gespanntem Bogen. Bereit zu jeder Unterstellung. Russell hat inzwischen so lange die Wahrheit gesagt, dass es ihm nun nicht schwerfällt, die gleiche Darstellung als Lüge aufzutischen. Nein, er hat nichts mit Marlene. Wie oft soll er das noch wiederholen? Frau Bayfield wiederum ist sich nicht zu schade, Marlene aufzusuchen, ihr unangenehme Szenen zu machen und sie vor drastischen Folgen zu warnen. Am Ende nimmt Marlene die Drohungen ernst, verkauft ihr Haus und zieht nach Barrie. Von dort aus ist sie schneller in den umliegenden Filialen. 1983 sind es schon siebzehn.
Eric Johansson hat die Flotte vergrößert und den Fischfang neu organisiert. Drei Kapitäne wechseln sich auf den zwei neuen Schiffen ab. Die Waubuno II fährt nur noch selten raus. Wenn, dann mit Arnie als Kapitän. Einmal zusammen mit seinem Sohn, weil das Wetter gut und bloß ein kurzer Törn geplant ist. Als sie so im Steuerhaus zusammenstehen, allein unter Männern, sagt Arnie: „Wie müssen wir dem Herrgott danken, dass er uns Marlene geschickt hat. Wir waren arme Fischer, und nun? Können das viele Geld gar nicht ausgeben. Deine Eileen, so ein prächtiges Mädchen. Wie stolz uns das macht. Man soll es ja nicht sagen, trotzdem: Ich bin sehr glücklich… äh, wie alles gekommen ist, meine ich.“ Arnie Johansson mal sentimental, ohne das Grummeln im Bauch, das sich sonst einstellt, wenn er über seinen Sohn nachdenkt. Momente mit Seltenheitswert.
Aber das Glück ist ein launiges Geschöpf. Im Jahr 1987 stirbt Eric Johansson an Lungenentzündung, ausgelöst durch einen Pilz. Abgemagert und mit einer Immunschwäche, die nach ihm noch viele dahinraffen wird. Zuerst war es nur eine Grippe, die er nicht loswurde. Fieber, Schweißattacken und geschwollene Lymphknoten verlängern die Grippe, machen sie zu einer ernsten Krankheit. Dann die braun-bläulichen, knotenähnlichen Flecken. Keine antivirale Kombinationstherapie in Sicht, nur ein fürchterlicher Verdacht. Eric spricht mit Marlene. Sie fahren zusammen nach Toronto, wo es Eric in der Vergangenheit manche Nacht hingezogen hat, wenn es die Arbeit zuließ. Lose Freundschaften pflegen. You know what I mean?! Marlene und Eric hören von dem Spezialisten das Todesurteil, emotionslos überbracht, nicht ohne einen Schuss „von sowas kommt sowas“ in seinem Vortrag. Das Ehepaar ist geschockt und verlässt schweigend das Krankenhaus. Marlene hakt sich bei Eric ein, bleibt plötzlich stehen und sagt: „Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten: Resignation oder Auflehnung. Ich will mich lieber auflehnen, jede Sekunde mit dir genießen, das Leben bewusst leben und nicht dem Tod die Regie überlassen.“ Eric ist gerührt. Er umarmt Marlene und beugt sich so weit zu ihr herunter, dass sein Gesicht in ihren Haaren landet. Dann fragt er: „Und? Was ist der Plan?“ Marlene nimmt wieder Erics Arm und sagt: „Coffee Shop! Da – der Tim Hortons wird unser Planungszentrum. Kaffee, träumen, quatschen und dann Nägel mit Köpfen machen.“
Menschen haben die Fähigkeit, emotional von einem Extrem ins andere zu gleiten, ohne dabei den Widerspruch zu bemerken. Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt. So nennt man dieses unerklärliche Auf und Ab gerne, wenn man es sich nicht anders erklären kann. Kaum sitzen Marlene und Eric mit ihren schweren Porzellanbechern voll dünnem Kaffee an einem grade feucht abgewischten Resopaltisch, beginnt die „Himmelhochjauchzend-Phase“. „Gibt es eigentlich Orte, wo du schon immer mal hinwolltest?“, fragt Marlene und kommt gar nicht mehr dazu, Eric auch auf unerfüllte Träume anzusprechen. „Alaska! Alaska!“, sprudelt es aus ihm heraus, dazu seine Sehnsucht nach der Landschaft dort, den wilden Tieren und allem voran: „Nordlichter! Hast du schon mal Nordlichter gesehen? Davon träume ich schon, seit ich als Sechzehnjähriger den ersten Roman von Jack London gelesen habe. Ja, wenn ich in meinem Leben dort noch hinkäme, könnte ich in Ruhe sterben!“ Marlene nickt und wird ernst. „Hör zu Eric, wir machen die Tour, wir machen alles, was du willst, aber ich habe eine Bedingung: Wir werden nicht über den Tod reden. Nicht über deinen und nicht über irgendeinen anderen. Kommst du damit klar?“ Eric lächelt und sagt nur: „Du Verrückte. Ja, natürlich machen wir alles so, wie du es willst. Also wie immer.“ Darüber können beide lachen.
Sie beschließen, ab sofort Tag und Nacht zusammenzubleiben. Wenig später kaufen sie ein Wohn- mobil und gehen auf eine mehrmonatige Reise. Auf dem Trans-Canada Highway von Parry Sound bis ans Ende von Ontario, dann durch Manitoba, Saskatchewan, Alberta bis hoch in den Norden von British Columbia und hinein ins Yukon-Territorium. Allein für diese Strecke von über sechstausend Kilometern brauchen sie gut drei Wochen, weil nur Marlene fährt. Wenn sie am Steuer sitzt, ruht Eric aus. In den ersten Wochen klettert er noch hoch und legt sich in das Doppelbett über den Vordersitzen. Im Liegen kann er die Landschaft vorbeiziehen sehen und sich in Tagträumen verlieren. Nicht enden wollende Wälder und zwischendrin Seen, die, still eingebettet in die Einsamkeit, für Abwechslung sorgen. Die wenigen Häuser an der Straße sind oft eine Mischung aus Schrottplatz und Flohmarkt. Alles, was ihre Bewohner verkaufen wollen, landet am Straßenrand. Viele Autowracks stehen wie tote Zeitzeugen herum und haben nur noch eine Aufgabe: Sie müssen rosten, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.
Ab und zu kreuzen Elche den Weg, traben behäbig auf dem Asphalt und stören sich nicht an Marlenes Beschimpfungen. Auf jeden Fall reagieren sie nicht auf „Hau-ab-du-Blödmann“-Rufe, wenn der Fahrerin die massigen Körper Schrecken und Angst einjagen. Viel lieber ist es ihr, wenn Elche im See ruhig ihre Wasserpflanzenplantagen leer mampfen. Dann ruft sie: „Wieder einer!“, und Eric muss es bestätigen. Langes Schlafen während der Fahrt ist für ihn also nicht drin.
Sie essen fast nur noch im Wohnmobil. Erics Bewegungen werden langsamer und er verliert zusehends Gewicht. Er lächelt nur, wenn Marlene ihn auffordert, mehr zu essen. „Dein Körper braucht Vitamine, Mineralien, Spurenelemente, Enzyme und was es sonst noch alles gibt!“ Aber Eric schmeckt schon lange nichts mehr. Jeder Bissen ist eine stille Quälerei, die er vor Marlene verbirgt. Trotzdem gibt es auch immer wieder kraftvolle Momente. Wenn sie Themen finden, die ihn in Schwung bringen. Oder wenn er ins Erzählen gerät, von Dingen redet, die ihm wichtig sind.
Häufig kommt er auf Arnie zurück. Sein Vater ist die prägendste Persönlichkeit in seinem Leben gewesen. „Ich habe ihn als kleiner Junge bewundert, und je älter ich wurde, desto stärker wurde mein Verlangen, von ihm gemocht zu werden. Oder wenigstens anerkannt.
Unsere Beziehung bekam den großen Knacks, als Kathleen starb. Er blieb immer mein Vorbild, und ich habe lange gelitten. Ich weiß gar nicht, wem von uns beiden meine Veranlagung zuerst auffiel. Als ich spürte, um wie viel mehr Männer mich sexuell erregen, war ich konfus und total allein. Bis ich die Situation annehmen konnte, vergingen Jahre, in denen ausgerechnet mein Vater sich von mir abwandte. Heute weiß ich natürlich, dass es ihm ähnlich ergangen ist wie mir. Er war einfach nicht in der Lage, etwas als natürlich anzusehen, was ihm unnatürlich und sündig erschien. Wir vereinsamten nebeneinander, unfähig, uns zu erklären oder nur miteinander zu sprechen. Scham und Unsicherheit hatten uns im Griff, wovon wir uns gemeinsam hätten befreien sollen – aber nicht konnten.“
Sie fahren knapp tausend Kilometer weiter nach Norden und erreichen Fairbanks, nach Anchorage die zweitgrößte Stadt im US-Bundesstaat Alaska. Dieser Ort ist eine Reise wert: die Abreise! Ein waldumrandetes Drecksnest, in dem sich die Einwohner kaum um die regelmäßigen Buschbrände kümmern. Sie vertrauen der Natur, die bisher jeden Brand in die Knie gezwungen hat. Einen halben Tag nördlich von Fairbanks gibt es die schwefelig heißen Quellen im Chena River Valley. Ein Frontalangriff auf jede nicht verstopfte Nase. Nur wer auf verfaulte Eier steht, kommt hier auf seine Kosten. Aber in der Nacht lohnt es sich, die Nase zu ignorieren und sich voll auf die Augen zu konzentrieren. Hier tanzen die Nordlichter nach geheimnisvollen Rhythmen. Mal superlangsam wie in Zeitlupe, dann aufgeregt wild und immer in sattem Grün. Leuchtende Ringe und wellenförmige Wolkenformationen. Wer dieses Himmels- phänomen der Stick- und Sauerstoffatome im Einfluss von Magnetfeldern das erste Mal erlebt, steht sprachlos da und schaut in den pechschwarzen Himmel, vor dem das Schauspiel die Beobachter in den Bann zieht. Eric, dick eingemummelt in Decken, liegt draußen auf dem Boden und glaubt, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein.
Ein paar Tage später erreichen sie den Denali-Nationalpark, wo sie von einem Ranger die Erlaubnis bekommen, mit ihrem Wohnmobil zum weit entfernten Teklanika River Campground zu fahren. Ein dünn bewaldetes Fleckchen an einem Flusstal, in dem sich Grizzlybären, Elche, Füchse, Karibus und Wolfsrudel ein Stelldichein geben. Marlene traut sich hier kaum heraus, weshalb sie beide stundenlang am Fenster sitzen und dem Treiben zusehen. Als sich nach einer kurzen Nacht der Morgennebel lichtet, ist der Blick frei auf den Mount McKinley, der inzwischen nur noch so genannt wird, wie ihn die Indianer vor tausend Jahren getauft haben: Denali, „der Hohe“, weil er der höchste Berg Nordamerikas ist. Majestätisch liegt er vor seinen Betrachtern und vermittelt eindrucksvoll, wie klein der Mensch ist. Hier, mit Blick auf den Denali, erinnert sich Eric plötzlich an Kathleen, erzählt, wie er sie bei einer ausgelassenen Party näher kennengelernt hat. „Warst du schon mal auf dem Fire Tower Mountain?“, habe sie gefragt und ihn dann dort hingelockt. Mitten in einer warmen Sommernacht, energiegeladen, erotisch und im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend. „Neun Monate später hatten wir Eileen, waren verheiratet, und alles hätte gut werden können.“ Marlene streicht über Erics Wange und sagt nur: „Alles ist gut!“
Nein, die Wahrheit ist – alles wird schlechter. Eric verliert fast täglich mehr Vitalität, kann inzwischen nicht mehr auf das Hochbett klettern und liegt die meiste Zeit im hinteren Teil des Wohnmobils auf dem großen Bett. Er schläft immer häufiger und wacht manchmal frierend auf. Dann legt sich Marlene zu ihm, umarmt ihn, sodass er sich geborgen fühlt. Vom Nationalpark ist es nur ein Tagestrip nach Anchorage. Hier kehren sie das letzte Mal gemeinsam ein. Sie finden ein schönes Restaurant, und Eric hat ein paar gute Stunden, in denen er sich munter fühlt, nach einem zweiten Glas Rotwein fragt und sich freut, mit Marlene zu lachen.
Als sein Zustand immer kritischer wird, fährt Marlene langsam Richtung Heimat. Inzwischen sind sie über vierzehntausend Kilometer gefahren, und es ist Anfang September. In der letzten Nacht stehen sie am Lake Superior. Pancake Bay heißt der Ort, an dem Eric noch einmal über das geliebte Wasser schaut, ehe er einschläft. Am nächsten Morgen kommt Marlene zu Eric ans Bett.
Die Wärmflaschen an den Füßen und in der Hüfte sind noch warm, aber Erics Stirn ist eiskalt. Die Augen, jetzt scheinbar noch tiefer in den Höhlen liegend als ohnehin schon, sind geschlossen. Sein Gesicht ist irgendwie starr, aber nicht verkrampft. Marlenes Hand geht zum Puls, dann an den Hals. Sie ist nicht überrascht, die Situation hat sie in den vorangegangenen Wochen immer wieder durchdacht. Aber nun sind es nicht mehr Gedanken, es ist kalte Realität. Noch sechs Stunden bis Parry Sound. Marlene fährt ihren toten Mann, der ihr bester Freund im Leben war, zurück an den Ausgangspunkt der Reise.
Drei Wochen bleibt sie bei Ginny und Arnie, beide weit über siebzig. Beide hatten sich auf ihre Goldene Hochzeit gefreut. Stattdessen gibt es ein Requiem für den geliebten Sohn, der es nicht mehr bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschafft hat. Niederträchtige Anteilnahme kommt aus der Gemeinde. Erics Tod ist ein Festival für tuschelndes Gesindel. Die Familie hält zusammen. Eileen, obwohl schwanger mit ihrem ersten Baby, kümmert sich um die Großeltern, ist jeden Tag im Haus, erledigt Einkäufe und fährt Ginny zum Arzt. Arnie macht keinen Schritt mehr vor die Tür. Er ist ein Wrack. Den Tod seines Sohnes wird er nicht verwinden. Noch stiller, noch in sich gekehrter und nur noch ein Knochen- gestell. Sein Gesicht zerfällt. Übrig bleibt zerfurchte Haut. Drei Tage vor seinem achtzigsten Geburtstag wacht er nicht mehr auf. Wie ein alter Indianer hat er sich zum Sterben gelegt, seiner Frau am Abend zuvor Lebewohl gesagt, ihr die raue Hand durchs Gesicht gestrichen und eine Rede gehalten. Eine Arnie-Rede: „War alles gut, Mutter! Good night.“
Für Eileen ist es ein Schock. Die zwei Männer, denen sie stolz ihr Kind in die Arme legen wollte, gibt es nicht mehr. Sie leidet am meisten, was Ginny und Marlene noch enger zusammenschweißt. Beide nehmen sich vor, die Trauer hinter sich zu lassen, um Eileen beizustehen. „Life must go on!“, ist der Tagesbefehl von Ginny. Es muss gelacht werden, sonst pflanzt sich Angst in das Ungeborene. „So ein Baby muss sich doch freuen, auf die Welt zu kommen!“, kommandiert Ginny.
Magdalena hat ihre Hotelfachschule in der Schweiz hinter sich, in etlichen anderen Gastronomiebetrieben gearbeitet und macht nun endlich, was sie schon seit Jahren will: Sie kommt ins Geschäft der Familie, wird zunächst stellvertretende Restaurantleiterin im Groß- betrieb in Ottawa, um dann in die Geschäftsleitung einzusteigen. Ginny Rook’s Famous Fish Restaurant gibt es inzwischen dreimal in der Hauptstadt.
Ein Jahr nach Erics Tod kommt es zu einer denkwürdigen Diskussion zwischen Marlene und Russell. Seit zehn Jahren haben sie nun ein Verhältnis miteinander. Ist es überhaupt ein Verhältnis? Mal treffen sie sich in einem Hotel irgendwo dort, wo es Filialen von Ginny’s Res- taurants gibt, dann abends für ein, zwei Stunden in der Verwaltung der Firma. In Marlenes Büro steht eine große Ledercouch. Hier klappt es nur, wenn Marlene oben bleibt. Ihr ist das Leder zu kalt. Ab und zu kreuzen sich in der Nacht irgendwo im Land ihre Wege und Russells Van wird zum Liebesnest. Die neumodischen Funktelefone in ihren Autos helfen, Verabredungen zu treffen. Sie telefonieren viel, oft mehrmals täglich. Zuerst geht es ums Geschäft. Das Zeichen, um abzuklären, ob sie gerade allein im Auto sind, ist „By the way…“. Fängt ein Satz so an, bedeutet es, ich bin allein im Wagen. Reagiert der andere nicht ebenfalls mit einem „By the way, hi hi hi“, wissen beide, dass sie nicht ungestört reden können. Dann bleibt es beim sachlichen Business-Talk.
Auf der Concession & Hospitality Expo in Chicago, ein Pflichttermin für Systemgastronomen, haben sie offi- ziell zwei verschiedene Hotels gebucht, inoffiziell ein Appartement im Hilton Tower. Dort, nach einem langen Messetag, öffnet Russell bedächtig eine Flasche Dom Pérignon, während sich Marlene frisch macht. Frisch für das übliche Miteinander, zu dem es manchmal wochenlang nicht kommt. „Sag mal, Liebes, wenn ich mich scheiden lasse, heiraten wir dann?“ Marlene trocknet ihre Haare, geht in einem weißen Frottee-Bademantel langsam auf Russell zu und sagt: „Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“ Russell versteht nicht oder will nicht verstehen. Marlene setzt sich, nimmt ihr Glas und sagt: „Eure Scheidung ist ganz allein deine Sache. Die hat mit mir nichts zu tun. Willst du dich scheiden lassen, ja oder nein? Wenn du geschieden sein solltest, haben wir eine neue Situation. Ich kann dir heute nicht sagen, was dann mit uns passiert. Das müssen wir auf uns zukommen lassen.“ „Also, du willst mich gar nicht heiraten?“, fragt Russell, hörbar enttäuscht. „Habe ich das gesagt? Ich will nur nicht einen Deal. Du lässt dich nur scheiden, wenn… Trenne die beiden Themen einfach voneinander. Die Scheidung ist eine Angelegenheit zwischen dir und deiner Frau. Ich bin auf jeden Fall kein Fangnetz, kein doppelter Boden, keine Rückversicherung und schon gar nicht der Grund. Das meine ich.“ „Du willst dich nicht zu mir bekennen, schließe ich daraus? Mhhh. Damit habe ich nicht gerechnet. Liebst du etwa immer noch deinen deutschen Schüler und hältst dich für ihn frei?“, fragt er provozierend und bekommt schlechte Laune. „Der deutsche Schüler ist nebenbei der Vater meiner Tochter. Und ich war so ‚frei‘, dass ich zwanzig Jahre die Ehefrau eines Mannes war, der mir viel bedeutet hat“, entgegnet Marlene etwas schärfer. „Hör’ doch auf mit Eric. Das war doch ein Schattenspiel.“ „Russell, die Beziehung zu meinem Mann ist meine Sache! Und die Beziehung zu deiner Frau ist dein Ding.“ „Was läuft denn dann zwischen uns?“, will Russell nun vorwurfsvoll wissen. „Du bist mein Lover. Der Mensch, mit dem ich gerne Sex habe. Reicht dir das nicht? Bisher war das doch offenbar genug.“ „Bisher warst du verheiratet!“ „Du bist es immer noch!“ Das Appartement hat zwei King- size-Betten. Genau richtig für diese Nacht.
Wer will denn alles gleich ergründen!
Sobald der Schnee schmilzt, wird sich’s
finden.
An ihrem einundvierzigsten Geburtstag, so ist es schon lange vereinbart, übernimmt Magdalena die Geschäftsleitung von Ginny’s Restaurant Group. Marlene zieht sich aus dem Tagesgeschäft zurück. Sie will reisen, lesen, zur Ruhe kommen und ihr Inneres sortieren. Es gibt so viel Unverdautes in ihrem Leben. All die Todesfälle, die, wie so häufig, immer zur falschen Zeit kamen. Schicksalsschläge, die nachbereitet werden müssen, damit keine harten Narben bleiben. Sie ist jetzt Ende fünfzig. Was will sie aus ihrem Leben noch machen? Ein Großmutter-Einsatz scheidet leider aus. Eileen hat die perfekte Schwiegermutter für ihren Sohn und Magdalena will keine Kinder. Sie ist seit vielen Jahren mit einem brotlosen Künstler „zusammen“, der die bürgerliche Welt schon allein vom ästhetischen Standpunkt aus ablehnt. „Geld killt Kreativität“ ist seine These, weshalb er sich von Magdalena immer nur ein kleines bisschen unterstützen lässt, um seine Schaffenskraft nicht zu gefährden. Magdalena dagegen ist Managerin mit Haut und Haaren. Sie liebt die kreativen Gestaltungsmöglichkeiten einer Unternehmerin. Ihr gelingt es wie ihrer Mutter, Menschen zu motivieren. Alle zwei Wochen fährt sie zu ihrem Freund, verbringt dort zwei Tage, taucht ein in die spannende Welt des spielerischen Individualismus und flieht dann wieder guter Dinge in ihre Welt.
Magdalena liebt ihr Leben. Marlene ist davon gerade ein Stück entfernt. Aber sie wird sich ihr Glück zurückholen. So der Plan. Und Pläne werden bei Marlene ohne jegliche Zweifel einfach umgesetzt.
Dennis Pretorius war wieder mal im Bahnhof. Hacke- dickedun. Er kam jetzt häufiger. Immer voll. Nuschelte einem die Ohren zu und schmiss eine Lokalrunde nach der anderen, was als einziges eine gute Sache war. Er hatte offensichtlich fette Probleme, redete aber so einen Stuss, dass niemand verstand, worum es eigentlich ging. Ich schon gleich gar nicht. Ich bin Wirt für alle, nicht für undurchsichtige Einzelfälle. Habe mich nicht weiter um ihn gekümmert. Außerdem war ich mit der Miete höchstens einen knappen Monat in Verzug. Zur Arminia kam er auch nicht mehr. Er fährt jetzt immer zur Borussia nach Dortmund. VIP-Lounge. Vollidiot!
Grazyna Sulewska setzt den Patienten in den Rollstuhl. Sie hat ihm wieder den alten Trainingsanzug angezogen, den sie vor einiger Zeit in seinen Kleiderschränken gefunden hatte. Dunkelblau, mit drei leuchtend weißen Streifen von den Schultern die Arme hinab. Sigrid sieht es aus dem Augenwinkel, schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Die grüne Decke um Hüften und Beine muss sein. So hat sie es in Polen gelernt, und warum abweichen von festen Regeln? Nur, weil es ein schöner warmer Frühlingstag ist? Da müsste man ja nachdenken. Sie erledigt hier einen Job, Gedanken sollen sich andere machen. Es kostet schon genug Kraft, das Gefährt abzubremsen, damit es nicht den Hausberg hinab in Fahrt gerät und sich selbstständig macht.
Verflucht, da steht mal wieder jemand im Weg. Geradezu unverschämt. Sieht die Person nicht, dass sie mitten auf dem Bürgersteig stehen geblieben ist? Glotzt den Patienten an, als wäre er ein Zootier. Nein, die Frau glotzt nicht, sie starrt. Starrt wie der Patient. Aufgerissene Augen und das Gesicht nicht unter Kontrolle. Leute gibt’s! Grazyna muss doch tatsächlich vor der Neugierigen anhalten. „Kennen Sie Mann?“, fragt die Pflegerin ungehalten. „Was soll glotzen?“ „Ja, ich kenne den Herrn. Herr Pretorius, nicht wahr?“, sagt Marlene Johansson, geborene Lendruscheit. Manfred Pretorius sagt nichts, weil er es nicht kann. Obwohl er will. Aber seine Augen, seine zitternden Lippen, sein Gesicht sprechen, nein schreien geradezu. „Herr Pretorius plemplem, Demencja, nicht verstehen Sie.“ Oh doch, Herr Pretorius versteht. Und Marlene sieht es. Aber Grazyna steht hinter dem Patienten und sieht nichts. „Wohnt die Familie noch oben auf dem Ginsterberg?“ „Ja, großes Haus mit rote Tür!“ Marlene geht auf Manfred zu, nimmt seine Hand und fühlt, wie diese zu ihr spricht. Gerade so wie einst in der Kirche. Gerade so wie damals. „Ich werde die Familie besuchen kommen. Heute Nachmittag. Richten Sie es bitte aus!“ Marlene drückt die Hand noch einmal fest, gibt die alten Morsezeichen und geht dann abrupt zur Seite. Aus dem Blickfeld von Werther, der aufgewühlt zurückbleibt. Ebenso aufgewühlt wie Marlene. Sie hätte jetzt keine Sekunde länger dort stehenbleiben können, muss sich sammeln und überlegen.
Manfred ist auf einmal tatsächlich gelähmt. Herr Gott, genau jetzt wäre doch der Zeitpunkt, die wochenlange Maskerade zu beenden. Die Stimme in Gang zu bringen, aufzustehen. Aber auf einmal ist die Schwäche echt, durchläuft sein Blut den Körper, als hätte man es mit Kohlensäure angereichert. Das Zittern zieht von den Lippen in die Beine. Kurz darauf ist es in den Händen. Er atmet stoßweise und beginnt zu schwitzen. „Ruhig! Tief ein- und ausatmen! Klare Gedanken fassen! Nicht gerade in diesem Moment das Bewusstsein verlieren. Konzentration! Was hat sie mir gesagt? Die Hand, da war doch ihre Hand. Viermal schnell gedrückt. Al-les-wird-gut! Alles wird gut, hat sie gesagt.“ Alles wird gut!
Die rote Tür. War die früher schon rot? Marlene erinnert sich nicht. Sie ist auch nie durch diese Tür ins Haus gekommen. Die Klingel löst einen Dreifachgong aus, der durchs ganze Haus schallt. Unaufgeregt bellt ein Hund und es klingt, als ahme er den Gong nach. Dutschke ist kein normaler Kläffer. Dutschke hat Substanz! Eine elegante Dame öffnet. Sie ist sorgfältig geschminkt, ihre blonden Haare haben kaum einen Ansatz. Fachmännisch gefärbt. Sie trägt eine mit aufwändigen Applikationen bestickte Jeans, Pumps und eine schlichte Bluse. Jil-Sander-mäßig. Wer so daherkommt, muss nicht lächeln, wenn eine fremde Frau vor der Tür steht. Ein schneller Blick sagt ihr: keine Konkurrenz. Undefinierbarer Kleidungsstil, vielleicht nicht billig, aber schon mal gar nicht teuer.
„Guten Tag, mein Name ist Johansson. Ich bin eine alte Nachbarin und kenne Herrn Pretorius noch aus Kindertagen. Sagen Sie, wäre es möglich, dass ich ihn eine Runde spazieren fahren darf? Ich weiß, er wird mich wohl nicht erkennen. Aber vielleicht tut es ihm gut. Sie sind sicherlich Frau Pretorius, wie ich annehme?“ Marlene kann lächeln. Diese einzige Begegnung der Frauen werden beide in ewiger Erinnerung behalten. Frau Pretorius ahnt es nur jetzt noch nicht.
Besser kann es gar nicht kommen. Wenn diese alte Nachbarin sich um Manfred kümmert, kann die Polin in der Zeit im Haushalt helfen. Eine gute Idee. „Czeslawa! Machen Sie mal meinen Mann fertig und bringen Sie ihn herunter. Ziehen Sie ihm was Ordentliches an! Haben Sie mich verstanden?“ Aus dem oberen Stockwerk kommt eine Stimme, die Frau Pretorius zufriedenstellt. „Es wird einen Moment dauern. Wollen Sie hereinkommen?“ „Ach, es ist so schöne Luft hier draußen, ich bleibe besser vor der Tür. Vielen Dank.“ Auch das ist geradezu wunschgerecht für die Hausherrin. Es huscht ein kleines Lächeln für zwei, drei Sekunden durch ihr Gesicht, dann zieht sie sich zurück. Bis der Treppenlift endlich unten ist, vergehen Minuten. Dutschke hat sich in die Tür gelegt, nachdem seine Geruchsprobe an Marlene keine versteckten Leckerlis hat vermuten lassen. Er beobachtet Marlene eher teilnahmslos, dann zieht er sich zurück, um nicht zum Mitlaufen aufgefordert zu werden. Zu warm heute.
Drei Stufen muss der kranke, apathische Mann selber laufen. Marionettenhaft. Ohne jegliche Körperspannung. Aber Czeslawa hilft, greift unter die Arme, führt. Dann sitzt der Junge Fabrikant in seinem Rollstuhl. Pflichtbewusst zeigt Czeslawa den Umgang mit der Bremse und schiebt den Rolli schon mal auf den Bürgersteig. Sie streichelt ihrem Patienten über den Arm, beugt sich zu ihm herunter, wünscht ihm viel Spaß und verabschiedet sich lächelnd.
Der Weg am Talbach ist inzwischen asphaltiert. Eine parkähnliche Landschaft. Naherholungsgebiet. Von hier aus kann man auf den Kamm des Teutoburger Waldes laufen. Marlene spricht nicht. Ihre linke Hand landet, seit sie außerhalb der Sichtweite des Hauses sind, zuerst auf der Schulter, dann am Hals von Manfred. Ihre Finger streicheln seine Haut. Auf einmal kommt seine Hand hoch und greift nach ihrer.
Wieder reden die Hände miteinander. Wortlose Verständigung, überbordende Freude und immer noch Liebe. Marlene schiebt den Rollstuhl vor eine Parkbank. Sie setzt sich und ihre Augen beginnen miteinander zu sprechen, bis sie sagt: „Was ist mit dir?“ Sofort bekommt Werther feuchte Augen. Dann sagt er: „Wo warst du?“
Kann man sich über zwei Mal dreiundvierzig Jahre Leben in kurzer Zeit austauschen? Man kann. Und die Zeit ist auch nicht kurz. Inzwischen sitzen sie hier seit mehr als zwei Stunden. Manfred spricht langsam, aber mithilfe der Hände und Augen entstehen Bilder, die Marlene erkennen kann. In der Mitte des Bildes von Marlenes Leben ist eine Tochter. Manfred hat eine Tochter, und die Achterbahn der Gefühle geht wieder in eine Sturzfahrt über. „Magdalena? Und sie weiß von mir?“ Natürlich, Marlene hat ihr Leben offen, ohne Geheimnisse gelebt.
Irgendwann fragt sie aber: „Soll ich dich zurückbringen?“ Nein, Manfred will nicht mehr zurück. Niemals mehr. „Ich wohne bei Emmy. Sie ist inzwischen Witwe und wieder in das Haus ihrer Eltern gezogen. Von ihr wusste ich auch ein paar Details von dir. Was man so in der Stadt erzählt. Wahrscheinlich bin ich deshalb hier.“ Marlene lacht und sagt: „Komm, auf zu Emmy.“ Werther will aus seinem Rollstuhl aussteigen und laufen, aber er ist noch zu wackelig auf den Beinen. Erst kurz, bevor sie am Ziel sind, beginnt er, von Marlene gestützt, zu gehen.
Es strengt ihn an. Sein Kiefer schmerzt. Der Hals brennt. Er hat so viel geredet wie seit zwei Monaten nicht mehr, in denen er nur Selbstgespräche geflüstert hat.
Emmy freut sich mit den beiden, ist aber pragmatisch genug, um auf ein Problem hinzuweisen. „Manfred wird doch sicherlich vermisst. So sieht es ja nach einer Entführung aus!“ Es ist eine Entführung. Aber der Entführte will um jeden Preis entführt bleiben. Er will auch nirgends anrufen. Die Damen kommen dafür auch nicht infrage. So kommt die Idee, Dr. von Pattberg zu beauftragen. Er ist Rechtsanwalt und Notar, für den Jungen Fabrikanten eine Vertrauensperson. Aber der Mann hat Prinzipien. Ohne eine Inaugenscheinnahme seines Mandanten will er nicht tätig werden. Immerhin macht er sich auf den Weg. Ihm ist die Situation spürbar unangenehm, geradezu suspekt. Dr. von Pattberg ist die Inkarnation der Korrektheit. Äußerlich und innerlich. Er hat die eingebaute Distanz zu allem und jedem. Bevor er jemanden verteidigt, führt er Untersuchungen durch, macht sich ein Bild. Sein Bild! Und nur das zählt.
„Wie, Sie haben nur gespielt? Ihre Gattin hat bereits meinen Rat für eine Entmündigung eingeholt. So geht das alles nicht!“ Der Jurist will Klarheit, unumstößliche Fakten, kein Gewäsch. Am Ende willigt er ein, auf dem Hausberg Bescheid zu geben. Abgesprochen ist, den Aufenthaltsort von Herrn Pretorius vorerst nicht bekanntzugeben. Eine weitere Besprechung in den Kanzleiräumen wird für übermorgen vereinbart.
„Sagt mal, was haltet ihr davon in unser Haus am Dümmer zu fahren? Da wart ihr doch mal, erinnert ihr euch? Dort wäret ihr ungestört. Oder wollt ihr lieber ins Hotel?“ Nein, der Dümmer ist eine geradezu Euphorie auslösende Idee. Marlene kichert und fragt: „Gibst du uns Graubrot, Rama und Erdbeermarmelade mit?“ Dieser historische Mix ist gar nicht einmal so weit weg von dem tatsächlichen Carepaket, das Emmy einpackt. Morgen werden sie einkaufen, Marlenes Kreditkarte heiß laufen lassen.
Auf dem Hausberg herrscht helle Aufregung. Allerdings nur bei Czeslawa. „Wo ist Patient?“ Sigrid hat Freude daran, sich cool zu geben. „Der wird schon noch auftauchen.“ Aber er taucht nicht auf. Nach der Tagesschau wird auch Sigrid nervös. Die Nervosität wird angefacht durch Dennis. Michael kommt dazu und kann es nicht fassen: „Wie, ihr habt überhaupt noch nicht gesucht?“ Dennis schießt durch den Kopf, wofür er den Alten und seine Unterschriften in nächster Zeit dringend braucht. „Wie kann man so blöde sein? Gibst ihn einer Frau mit, die du gar nicht kennst? Das ist doch wohl nicht wahr!“ Die Runde beratschlagt, was man tun könnte, sollte oder müsste. Ohne Ergebnis. Lediglich Czeslawa wird vor die Tür gejagt. Sie soll suchen, damit man für alle Fälle schon mal ein Alibi hat. Dann schlägt die Bombe ein.
Dr. von Pattberg meldet sich und verlangt nach Sigrid. Es ist mittlerweile nach zweiundzwanzig Uhr. Er macht es kurz, staubtrocken und lässt keine weiteren Fragen zu. Dann wünscht er einen guten Abend und stellt in Aussicht, sich in den nächsten Tagen – „Nachdem ich mich mit meinem Mandanten besprochen habe!“ – erneut und ausführlicher zu melden.
Menschen, die man mit Karacho ins Ungewisse schickt, haben eines gemeinsam: Sie rotten sich zusammen und überhäufen einander mit Vermutungen, Interpretationen und sinnlosen Vorschlägen, was zu tun sei. Genau so geht es in den nächsten Stunden auf dem Hausberg zu. Sigrid „wusste es“ immer. Dennis glaubt an den Einfluss außer- irdischer Mächte. Michael meint, er müsse „als Freund“ sofort zu ihm. „Wenn er jetzt Hilfe annimmt, dann nur von mir“, da ist er sich sicher. Seine Theorie über den Rückfall in das alte Bewusstsein ist nicht einmal falsch. „Der muss eine Begegnung gehabt oder irgendwas gesehen haben, das ihn schlagartig zurückgeholt hat. Wenn wir nur wüssten, wer diese Frau Jansen ist. Hieß sie wirklich Jansen?“ Ja, Sigrid ist sich ziemlich sicher. Ebenso wie Dennis: „Hier gab es nie irgendwelche Jansens in der Nachbarschaft. Mutter, da hast du dich garantiert verhört!“
Es wird spät auf dem Hausberg. Dennis hat die letzte von zwölf Flaschen Bier mit auf sein Zimmer genommen. Michael will lieber nicht im Haus schlafen und bestellt ein Taxi. Sigrid hat Einschlafstörungen, obwohl sie, ohne es zu merken oder merken zu wollen, eine Flasche Châteauneuf-du-Pape geleert hat.
Am nächsten Tag erklärt Herr Dr. von Pattberg der gnädigen Frau noch einmal, dass er nicht Diener zweier Herren sein könne. Sigrid Pretorius versteht das nicht. „Wieso, Herr Doktor, Sie haben mich doch auch beraten, als es darum ging, wie es mit meinem Mann weitergehen soll. Da war ich doch auch ‚Partei‘, wie Sie so schön sagen?“ „Da musste ich aber von einer nicht mehr vorhandenen Geschäftsfähigkeit Ihres Gatten ausgehen. Das stellt sich jetzt anders dar. Ihr Mann ist klar bei Verstand und regelt seine Angelegenheiten in seinem Sinne. Als sein Anwalt bin ich ganz allein ihm verpflichtet. Frau Pretorius, ich darf Sie bitten, auf meine Beratung in dieser Angelegenheit verzichten zu wollen. Es steht Ihnen frei, ebenfalls einen Anwalt Ihres Vertrauens aufzusuchen.“ In dem Moment wittert Sigrid die Gefahr. „Manfred kocht sein eigenes Süppchen“, denkt sie. „Na, die Suppe werde ich ihm schön versalzen!“, nimmt sie sich vor und schaut mal eben in einen Spiegel. Sie sieht eine Frau mit leicht zusammengekniffenen Augen, zum Sprung bereit. Die Schlammschlacht Pretorius gegen Pretorius kann beginnen.
Zufällig traf ich Tante Emmy auf der Straße, als ich Ché-Daniel vom Kindergarten abholte. Sie war in Eile, aber wir gingen bis zur Kreuzung bei der Leineweber Bäckerei nebeneinander her. Frau Schalkowski fragte meinem Sohn Löcher in den Bauch, und er antwortete bereitwillig. Sie sprach ihn auf seinen kleinen Arminia-Schal an, den sie ganz entzückend fand. Leider hat mein Sohn noch kein Zugehörigkeitsgefühl für den einzigen Fußballclub, dem man sich mit Haut und Haaren verschreiben muss. Jedenfalls dann, wenn man hier geboren wurde. Mein Sohn, der Doofmann, sagte glatt: „Den muss ich tragen, Papa will das. Ich hätte viel lieber einen von Bayern München.“ Emmy Schalkowski lachte sich schlapp, versprach ihm so einen Schal (nur über meine Leiche!) und sagte dann: „Wartet mal einen Moment, bin gleich wieder da.“ Sie verschwand in dem Bäckerladen und kam mit einer Tüte Rosinen-Milchbrötchen wieder raus. „Hier, kleiner Mann, für dich. Die haben meine Kinder immer geliebt!“
Rosinenbrötchen und Bayern-Schal in Aussicht – Ché-Daniel war im siebten Himmel. Ich habe aber sofort erzieherisch eingegriffen. „Mit Bayern-Schal kommst du nicht in den Bahnhof. Nix Cola, nix Flipper. Leute mit Bayern