Victoria
Ich mag es, wenn sich die Wolken an einem warmen Tag für einen kurzen Moment vor den Himmel schieben und die Sonne verdecken. Die Wärme lässt nach, und plötzlich ist alles um einen herum in ein völlig anderes Licht getaucht, eine andere Perspektive zeigt sich, neue Farben entstehen. Und wenn die Sonne dann erneut durchbricht, ist es, als wäre die Welt einige Sekunden stehen geblieben, als wäre einem die Schönheit des sonnigen Tages durch diese Unterbrechung erst klar geworden.
Danai scheint das ähnlich zu sehen, denn sie begrüßt das Ende der kurzen Schattenepisode mit einem wohligen Seufzer und schließt die Augen, als die Sonne wieder zum Vorschein kommt und uns die Gesichter wärmt. Es ist ein Freitag Ende Mai, nach dem Spring Break der erste richtig warme Tag des Jahres. Wir, das heißt Danai, Mia und ich, haben den gesamten Morgen damit verbracht, die ausladende Terrasse unseres Verbindungshauses mit dem Hochdruckreiniger zu bearbeiten und neu zu bepflanzen, um sie nach dem Winter endlich wieder vorzeigbar zu machen. Zur Belohnung stehen unsere Liegestühle jetzt in der Sonne und wir schlürfen Danais selbst gemachten Eiskaffee, ebenfalls der erste des Jahres.
»Mia, komm schon, es sind Semesterferien, wir haben acht Wochen frei. Lass die Lernerei doch mal für einen Tag sein.« Ich beschatte mein Gesicht mit der Hand, um zu unserer Verbindungsschwester hinüberzublinzeln, die ihre Unterlagen auf dem frisch gesäubertem Terrassentisch ausgebreitet hat und über ihrem Laptop brütet.
»Ich lerne gar nicht«, entgegnet sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken, »sondern feile an meiner Kolumne für die Youth, die muss ich morgen einreichen.«
»Ist das ein Kinderheft? So wie die Girl’s Life?«, wirft Danai naserümpfend ein. Auch wenn ich es durch Mias überdimensionale Sonnenbrille nicht erkennen kann, könnte ich schwören, dass sie die Augen verdreht.
»Nein, es ist ein seriöses Jugendmagazin. Und jetzt halt die Klappe, ich muss mich konzentrieren.«
Danai deutet ein Schulterzucken an und wendet sich mir zu. »Wie läuft’s mit der Themensuche für das letzte Essay vor den Finals?«
»Ganz gut, ich glaube, ich hab’s endlich«, erzähle ich und strecke die Beine aus. »Professor Nguyen hat mir gestern per Mail das Okay gegeben, es zum Semesterstart anzumelden.«
Danai seufzt. »Verdammt, ich muss langsam in die Gänge kommen. Ich habe noch überhaupt keine Ahnung, worüber ich schreiben will, und habe noch nicht mal einen betreuenden Professor.«
»Das wird schon«, beruhige ich sie, doch sie verzieht nur das Gesicht. Danai studiert wie ich Soziale Arbeit an der University of Washington, nach den Ferien werden wir beide dort unser letztes Semester antreten.
»Ich erzähle dir das schon seit Wochen«, meldet sich Mia von ihrem Arbeitsplatz aus zu Wort. »Langsam wird’s eng, meine Liebe.«
»Wolltest du nicht arbeiten?«, entgegnet Danai giftig und schneidet Mia eine Grimasse, was diese jedoch mit einer rüden Geste quittiert. Es gibt nichts, was Danai mehr hasst, als Mias Ich-hab’s-dir-doch-gesagt-Tonfall.
»Außerdem habe ich noch bis August Zeit, ich …« Weiter kommt sie nicht, denn in diesem Moment fliegt plötzlich ein Baseball in hohem Bogen durch die Luft und landet mit einem dumpfen Aufprall zwischen uns auf der Terrasse, wobei er Danais Eiskaffee haarscharf verfehlt. Der Ball schlägt noch mal auf, prallt gegen die Terassentür des Hauses und hinterlässt dort einen staubigen Abdruck auf dem Glas, das Mia kurz zuvor akribisch poliert hat.
»Heilige Scheiße!« Danai rappelt sich aus ihrem Liegestuhl hoch, doch ich bin schon aufgestanden und hebe den Baseball auf. Zu unserer Rechten, von wo das Geschoss kam, erscheint der Kopf eines Mannes über dem angrenzenden Gartenzaun.
»Hey! Sorry. War keine Absicht!« Er schiebt die blühenden Äste unseres Kirschbaums zur Seite und stützt die Arme auf den Zaun, um besseren Halt zu finden. Der Höhe des Zauns nach zu urteilen ist er auf die mittlere Holzplanke geklettert. Ich gehe über den Rasen auf ihn zu. Der Fremde hat schwarzes Haar und dunkle, asiatisch anmutende Augen. Er trägt ein weißes T-Shirt und sein linker Arm ist vom Bizeps bis zum Handgelenk tätowiert. Ich habe ihn in der Nachbarschaft noch nie gesehen. Als ich vor ihm stehen bleibe, grinst er so breit und so herzlich, dass es ansteckend ist.
»Hey. Du hast uns fast zu Tode erschreckt«, sage ich und werfe ihm den Baseball zu, den er zwar fängt, dabei aber bedrohlich schwankt.
»Sorry«, wiederholt er und lässt den Ball auf seine Zaunseite fallen. »Mein Bruder hat’s übertrieben. Danke fürs Zurückgeben.«
»Keine Ursache.« Ich wende mich schon zum Gehen, als der Fremde mich aufhält: »Warte mal, äh, ist das hier ein Verbindungshaus?« Er deutet auf die weiße Holzfassade unseres Hauses, auf der auch auf der Rückseite die überdimensionalen griechischen Buchstaben Alpha und Omega angebracht sind.
Ich hebe die Brauen. »Ja, wir sind eine Schwesternschaft. Wieso fragst du?«
»Ach, nur so. Meine Brüder und ich räumen das Haus meines Großvaters aus, er ist vor Kurzem gestorben und na ja, meine Schwester und ihr Mann werden hier einziehen, sobald wir renoviert haben.« Seine Stimme klingt angenehm dunkel. Er fischt sich eine Kirschblüte aus den Haaren und schnippt sie zu Boden. Dabei streift sein Blick für einen kurzen Moment meinen.
»Keine Sorge, wir feiern hier nicht jedes Wochenende eine Hausparty, falls du auf die Lautstärke anspielst«, entgegne ich und vergrabe die Hände in den Taschen meiner Shorts, da meine neue Bekanntschaft anscheinend vorhat, mich in ein längeres Gespräch zu verwickeln.
»Okay, gut.« Wieder grinst er, wie um seine Unsicherheit zu überspielen. Dabei entblößt er eine Reihe gerader, perlweißer Zähne. »Ich meinte das gar nicht böse oder so, also nicht dass ich Vorurteile hätte …«
Seine Unbeholfenheit entlockt mir ein Lächeln. »Schon gut, so habe ich es nicht aufgenommen. Ich bin übrigens Victoria«, stelle ich mich dann vor und recke mich, um dem Mann die Hand zu schütteln. Seine Haut ist warm und sein Händedruck angenehm fest.
»Austin. Schön, dich kennenzulernen, Victoria.«
Austin. Ich mag den Namen, würde ich am liebsten erwidern, beiße mir aber auf die Zunge. »Gleichfalls. Tut mir leid, das mit deinem Großvater.«
Austin verlagert sein Gewicht, sodass der alte Zaun beunruhigend in seiner Verankerung hin und her wackelt.
»Ach, schon okay, er war alt und krank. Es war abzusehen.« Als hinter ihm ein Ruf ertönt, dreht er den Kopf. »Ich komme gleich!«, brüllt er zurück, ehe er sich wieder mir zuwendet. »Meine Brüder«, fügt er erklärend hinzu, und zwischen uns entsteht ein kurzes Schweigen.
»Dieser Zaun hat auch schon bessere Tage gesehen.« Austin, der wieder das Wort ergriffen hat, streicht mit der Hand über den weißen Lack, der schon überall abblättert. Wieder sieht er mich an. Im Sonnenlicht wirkt das Braun seiner Augen wie flüssiger Honig, warm und irgendwie anziehend. »Habt ihr was dagegen, wenn wir den erneuern?«
Ich werfe meinerseits einen Blick über die Schulter, doch drüben auf der Terrasse sind Danai und Mia in eine Diskussion vertieft und beachten uns nicht. Ich räuspere mich. »Da müsste ich die anderen fragen, ich denke, da spricht nichts gegen. Sag Bescheid, wenn wir uns finanziell beteiligen sollen.«
Austin winkt ab. »Schon gut, das übernehmen wir.«
»Bist du sicher?«
»Klar. Okay, Victoria, ich klettere mal wieder runter, meine Beine werden taub. War schön, dich kennenzulernen. Vielleicht sieht man sich wieder.«
»Ja, bis dann. Schönes Wochenende.« Ich winke ihm zu, ehe sein Oberkörper hinter dem Zaun verschwindet und ich höre, wie er mit einem leisen Ächzen auf der anderen Seite landet.
Danai und Mia, die sich schon wieder wegen Danais Girl’s Life-Anspielung kabbeln, verstummen, als ich auf die Terrasse zurückkehre.
»Wer war das?«, fragt Mia und wirft einen skeptischen Blick zum Kirschbaum, wo Austin noch vor wenigen Augenblicken am Zaun gehangen hat. »Ist er der neue Nachbar?«
»Nein, er renoviert nur das Haus«, entgegne ich und nehme meinen Platz neben Danai wieder ein. Auch ich schaue noch einmal auf die Stelle, an der Austin eben verschwunden ist. Aus irgendeinem Grund hat sich ein seltsam warmes Gefühl in meiner Magengegend festgesetzt. »Er hat gefragt, ob es okay wäre, wenn sie den Zaun erneuern.«
»Komischer Typ«, bemerkt Danai und schlürft den letzten Rest ihres Eiskaffees. »Einfach so zu uns rüber zu spannen …«
»Fliegst du jetzt eigentlich in den Semesterferien nach Washington?«, frage ich, um das Gespräch von unserem unerwarteten Besucher wegzulocken. Danai streicht sich die Braids aus dem Gesicht und streckt sich, wobei sie ein tiefes Gähnen unterdrückt. »Glaube nicht. Ich muss endlich ein Thema für meine verdammtes Essay finden, Mom und Dad kann ich auch noch nach dem letzten Höllensemester besuchen. Und du? Fährst du nach Vancouver zu deiner Mom?«
»Nein, dieses Mal nicht, ich bin knapp bei Kasse. In den Ferien findet der Kinderschwimmkurs nicht statt und ich muss Extraschichten im Kino schieben.«
Danai hebt eine sorgfältig nachgezogene Augenbraue. »Vic, wenn du Geld brauchst, musst du nur was sagen, das weißt du doch«, sagt sie sanft. »Ich helfe dir aus, ist gar kein Problem.« Ich sehe meine beste Freundin an. Ihre schwarze Haut glänzt in der Sonne und in dem senfgelben Kleid, das bis knapp über ihre Knie reicht, sieht sie umwerfend aus. Danai kommt wie alle anderen Verbindungsschwestern aus einer wohlhabenden Familie und muss im Gegensatz zu mir nicht in zwei Nebenjobs schuften, um sich ihr Studium finanzieren zu können. Auch wenn es mir unangenehm ist, Geld von ihr anzunehmen, zahlt sie manchmal meinen Mitgliedsbeitrag für die Verbindung, wenn es eng wird. Auch darüber hinaus würde Danai mir, ohne mit der Wimper zu zucken, jederzeit einen Scheck ausstellen.
»Danke, das ist nicht nötig«, gebe ich zurück und lege eine Hand auf ihren Arm. »Du tust schon viel zu viel für mich.« Danai drückt meine Hand kurz und lächelt mir zu. Es ist ein trauriges Lächeln und ich muss den Blick abwenden, denn ich hasse es, wenn sie mich so ansieht.
»Ich kann es nicht leiden, wenn du Geldsorgen hast, Süße. Wenn’s eng wird, kommst du zu mir, okay?«
»Okay«, räume ich widerwillig ein und greife nach der Sonnenmilch neben meinem Liegestuhl, um nicht weiter darüber reden zu müssen. Im Gegensatz zu Danai und Mia, die einen beneidenswerten Teint hat, muss ich mich alle halbe Stunde in Sonnenmilch ertränken, um nicht zu einem Hummer zu mutieren. Blasse Haut und rotes Haar sind für mich inzwischen keine Schönheitsmakel mehr, auch wenn das lange anders war. Trotzdem ist die Sonne nach wie vor mein Feind, so bedauernswert ich das auch finde.
»Was habt ihr am Wochenende so vor?«, frage ich, als Mia ihren Laptop endlich zuklappt und ihre Unterlagen zusammenräumt, während ich meine Haut mit Sonnenmilch einreibe. Ein paar Stunden draußen haben ausgereicht, um die Sommersprossen auf meinen Armen förmlich explodieren zu lassen. Es kommt mir vor, als würden es jeden Sommer mehr werden.
»Morgen früh treffe ich mich mit Kyle im Renner’s, diesem neuen Coffeeshop«, beginnt Mia zu erzählen. »Und danach habe ich Grace, Jacky und Maddie versprochen, mit ihnen shoppen zu gehen. Grace will sich einen Bikini für Kalifornien kaufen, Jackson nimmt sie über die Ferien mit zu seinen Eltern.«
»Wie bezaubernd«, murmelt Danai und verdreht die Augen, was Mia glücklicherweise nicht mitbekommt. Grace, Jacky und Madison, drei weitere Mitglieder unserer Schwesternschaft, sind nicht gerade Danais und meine Seelenverwandte, doch wir müssen wohl oder übel miteinander auskommen, da wir nun mal unter demselben Dach wohnen. Insgesamt leben wir zu sechst in einem der Alpha-Omega-Alpha-Verbindungshäuser, zumindest im Moment. Zu Beginn eines neuen Herbstsemesters kann es immer sein, dass eine Füchsin, wie neue Verbindungsschwestern genannt werden, zuzieht oder jemand das Verbindungshaus wechselt. Jacky, die wie Grace und Madison Jura studiert, ist die Letzte, die im Frühjahrssemester neu dazukam. Die anderen Mädels leben wie ich schon seit unserem ersten Semester im Haus an der Burke Avenue, fußläufig vom Campus der Universität.
»Und du triffst dich mit Kyle, im Ernst?«, fährt Danai fort und über ihrer Nase erscheint eine kleine Falte. »Leidest du an Amnesie oder so was? Hast du vergessen, dass dich der Typ auf dieser Spring-Break-Party einfach abserviert hat?«
»So war das gar nicht«, hält Mia mit mäßig fester Stimme dagegen, jedoch ohne Danai anzusehen. »Außerdem ist das meine Sache, du hast dich da nicht einzumischen, wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Danai öffnet schon den Mund, um eine empörte Antwort zu geben, als ich beschließe, dem aufkommenden Streit Einhalt zu gebieten. »Lass es gut sein, D.«, komme ich ihr energisch zuvor, sodass sie mir zwar einen düsteren Blick zuwirft, den Mund jedoch wieder schließt.
»Und du, Vic?«, fragt Mia, als wäre nichts gewesen, und setzt sich zu uns auf eine der freien Liegen in die Sonne. Wie ich ist sie in Shorts und Top gekleidet und bindet sich das schulterlange dunkle Haar zu einem Zopf im Nacken zusammen.
»Ich muss arbeiten«, murmele ich verdrießlich und versuche, nicht daran zu denken, wie schrecklich es sein wird, einen ganzen Samstag im muffigen dunklen Kino verbringen zu müssen.
»Und ich muss ein Thema für meine Arbeit finden«, meint Danai und sieht dabei mindestens so unmotiviert aus wie ich. Mia beißt sich auf die Lippe. »Es ist schon komisch, zu wissen, dass ihr nur noch ein Semester hier sein werdet«, sagt sie und ihr Blick pendelt nachdenklich zwischen uns beiden hin und her. Danai stöhnt und vergräbt das Gesicht in den Händen.
»Erinnere mich doch nicht daran! Ich bin überhaupt nicht darauf vorbereitet. Ich weiß nicht mal, ob ich danach noch den Master machen will oder nicht.«
»Wenn du den Master dranhängst, kannst du dein Zimmer ja behalten«, räumt Mia vergnügt ein und ihre Augen leuchten auf. »Das wäre super, ich habe noch drei Semester vor mir und bleibe wahrscheinlich noch eine ganze Weile hier wohnen.«
Danai nimmt die Hände vom Gesicht. Ihre blauen Nägel haben kleine Kerben in der Haut hinterlassen. »Ja, schon. Aber Vic ist Ende des Jahres definitiv weg.« Sie zieht eine Schnute und ich spüre ihren Blick auf mir. Augenblicklich schnürt sich mir die Kehle zu und ich starre auf die Sonnencreme in den Händen.
»Ich find’s ja auch nicht toll«, murmele ich, ohne meine Freundinnen dabei anzusehen. »Mein Plan war schon immer, nach meinem Studium zurück nach Vancouver zu gehen und dort als Sozialarbeiterin anzufangen. Es ist einfach das Richtige für mich.« Außerdem kann ich es mir nicht leisten, noch den Master dranzuhängen, selbst wenn ich wollte, setze ich in Gedanken nach.
»Ist ja auch in Ordnung.« Danai lächelt mir zu. »Wir können uns trotzdem ab und an sehen. Vancouver liegt schließlich nicht am anderen Ende der Welt. Außerdem weiß ich, dass du insgeheim die Tage zählst, bis du dieses Verbindungshaus endlich verlassen kannst.«
Ich winke ab. »So schlimm ist es gar nicht. Es ist nur manchmal nicht ganz meine Welt.«
»Meine schon.« Mia schnappt mir meinen Eiskaffee weg, in dem inzwischen kein Eis mehr übrig ist. »Ich verstehe das, Vic. Wir bleiben trotzdem Freundinnen, okay?«
»Natürlich. Also, worum geht’s in deiner Kolumne für die Youth?«
Am frühen Abend, als auch Grace, Madison und Jacky zu Hause sind und Danai und ich Kochdienst haben, versammeln sich alle in der geräumigen Wohnküche. Wir schaffen es nicht jeden Abend, zusammen zu essen, aber wir versuchen es zumindest einmal wöchentlich zu tun, um uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten und Verbindungsthemen zu besprechen. Während wir uns über Danais Spezialcurry hermachen, erzählt Grace von ihren Urlaubsplänen mit Jackson, einem der Quarterbacks der Huskies, mit dem sie seit dem letzten Semester zusammen ist.
»Er will mich mit zu seinen Eltern nach Santa Monica nehmen!« Sie schüttelt so heftig den Kopf, dass ihre blonden Locken nur so umherhüpfen und sie vor lauter Aufregung mit dem Ellbogen gegen meinen Arm prallt. »Oh, entschuldige, Vic. Jedenfalls besuchen wir seine Eltern, fahren dann ins Disneyland und sehen uns zum Abschluss noch irgendeinen Nationalpark an, den Jackson mir unbedingt zeigen will.« Sie strahlt. »Das wird super!«
»Wow, muss was Ernstes sein, wenn er dich direkt seinen Eltern vorstellen möchte«, schaltet Danai sich mit erhobenen Brauen ein und deutet mit der Gabel auf Grace. »Ging das von ihm aus oder hast du den Besuch vorgeschlagen?«
»Es ging von ihm aus, ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass er mich fragen würde«, entgegnet Grace. Sie ist so aus dem Häuschen, dass sie Danais Skepsis nicht einmal bemerkt. Ihre Augen leuchten und die Röte auf ihren Wangen kommt nicht nur von ihrem Rouge.
»Freut mich für dich, Grace, die Reise wird sicher toll«, sage ich, denn ich halte es für besser, meine ehrliche Meinung über Jackson Shaw lieber für mich zu behalten. Wie viele seiner Teamkollegen der Huskies stolziert er durch die Uni, als gehöre sie ihm allein und als würden alle Normalsterblichen seines Respekts nicht würdig sein. Ich habe ein solches Verhalten schon in der Highschool verabscheut, aber gleichzeitig keine Lust, deswegen beim Abendessen eine Grundsatzdiskussion zu starten. Grace und ich leben nun einmal in zwei völlig verschiedenen Welten und das ist in Ordnung.
»Danke.« Grace strahlt und lehnt sich mit einem zufriedenen Seufzer auf ihrem Stuhl zurück.
»Vic, Danai, ist es okay für euch, wenn in den kommenden Wochen ein paar Mädels vorbeikommen, um sich eure Zimmer anzusehen? Wir müssen sie ja ab Februar neu vermieten«, wechselt Madison das Thema und stapelt ihren leeren Teller auf Jackys. Maddie, die sich in unserem Haus um die Verwaltung kümmert und diesen Posten sehr ernst nimmt, zückt wie immer sogleich ihr Handy, um sich Notizen zu machen. Mit der anderen Hand fährt sie sich durch ihren makellosen karamellbraunen Pixie-Haircut.
»Ich habe mich immer noch nicht entschieden, ob ich den Master mache«, sagt Danai in aller Seelenruhe, Maddies Augenverdrehen gekonnt ignorierend. »Also schreib bitte erst mal nur einen neuen Platz im Haus aus.«
»In Ordnung«, flötet Maddie hörbar gereizt und tippt die Notiz in ihr Handy.
»Du kannst gern Mädels zum Vorbeischauen einladen«, schalte ich mich an Maddie gewandt ein. »Du brauchst auch nicht Bescheid sagen wann, geht einfach in mein Zimmer, das ist schon okay.« Das scheint Maddie zu besänftigen.
»In Ordnung. O Mann, es ist sooo schade, dass du gehst, Vic!«
»Richtig schade«, pflichtet Jacky ihr bei, und wie Danai zuvor zieht auch sie einen Schmollmund. Dabei fällt ihr eine krause Haarsträhne in das kleine, runde Gesicht. »Du wirst uns fehlen.«
»Ach, ihr findet im Handumdrehen eine neue Mitbewohnerin«, winke ich ab.
»Nur keine, die so ist wie du«, murmelt Mia von der anderen Seite des Tisches aus und stützt den Kopf in die Hände. Wieder rumort das schlechte Gewissen in meiner Magengegend und ich seufze.
»Willst du den Master denn definitiv nicht machen?«, erkundigt sich Grace. Sofort flammt Ärger in mir auf. Eigentlich weiß jede am Tisch genau, was für ein nervenzehrender Kampf es für mich ist, genug Geld für meine Unkosten zusammenzukratzen, und das jedes Semester aufs Neue. Schließlich haben alle meine Mitbewohnerinnen es nun fast drei Jahre lang aus erster Hand mitbekommen. Sie wissen, dass meine Mom eine geschiedene Frau ist, die für meinen kleinen Halbbruder sorgen und gleichzeitig Schichten im Krankenhaus schieben muss. Es ist ihr unmöglich, mich finanziell zu unterstützen, und mein Dad meldet sich nur in Form zweier unpersönlicher Grußkarten pro Jahr, zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag. Doch ich glaube, Grace kommt es in ihrer privilegierten Welt nicht einmal in den Sinn, dass so etwas wie finanzielle Probleme überhaupt existieren könnten. Also reiße ich mich zusammen und setze ein stählernes Lächeln auf. »Nein, ich habe andere Pläne. Ich möchte ins Berufsleben und wieder zurück nach Vancouver zu meiner Mom. Sie kann meine Unterstützung gut gebrauchen.«
»Mit einem Masterabschluss würdest du mehr verdienen, oder?« Madison runzelt die Stirn und erneut muss ich meinen Zorn über die Gedankenlosigkeit meiner Verbindungsschwestern runterschlucken.
»Mag sein, ja. Aber ich kann mich auch hocharbeiten. Uniabschluss ist Uniabschluss, für den Berufseinstieg wird es reichen.«
»Wenn du meinst.« Grace, für die das Thema somit beendet zu sein scheint, steht auf, um sich ans Abräumen zu machen. Ich tue es ihr nach und bin erleichtert, dass dieses Gespräch endlich ein Ende hat.