KAPITEL 19

Die kleine Sippe verschwand im Dunkel der Nacht. Florence winkte ihnen nach, doch keiner drehte sich nach ihr um.

Ihr Wallach Koa drängte heimwärts. Ihm kam die Gegend inzwischen vertraut vor, und Florence meinte auch schon, die kleine Einzäunung für die Pferde ausmachen zu können. Die Sterne und eine dünne Mondsichel gaben gerade genug Licht, um die Umrisse des roten Sandsteinfelsens zu erkennen, an dem die kleine Hütte lag.

Sie überließ Koa die Führung und gab die Zügel frei. Sofort trottete er los, die Nüstern in den schwachen Wind gehoben, der nach Gras und Eukalyptus roch.

Wie seltsam war es, allein ohne Ernest hierher zurückzureiten. Sie vermisste ihn so sehr, dass es beinahe körperlich wehtat. Fünf Tage waren sie nun schon getrennt. Was Ernest wohl mit Tom vorhatte? Sie vermutete, dass es um eine Art kleine Traumreise ging. Eine Abwandlung der Initiationsriten, die jeder Junge an der Schwelle zur Mannwerdung durchlaufen musste. Als Außenstehender hatte Ernest keine davon absolviert und konnte deshalb an vielen Ritualen und Tänzen nicht teilnehmen.

Hoffentlich klappte alles.

Sie staunte noch immer darüber, dass Tom schlussendlich doch Vertrauen zu Ernest gefasst hatte. Immerhin hatte es lange genug gedauert.

Koa wieherte und trabte los. Aus der Umzäunung erklang die Antwort der zurückgelassenen Pferde und Mulis. Florence zweifelte nicht daran, dass sie in der Zwischenzeit gut versorgt worden waren. Zwei alte Aborigines, für die die Reise zu anstrengend gewesen wäre, hatten eingewilligt, sich um die Tiere zu kümmern. Die Alten hausten in einer Höhle nur wenige Minuten von der Hütte entfernt.

Florence gähnte.

Mit jedem Schritt, den das Pferd machte, kroch ihr die Müdigkeit mehr in den Körper. Als sie sich gerade fragte, wie sie noch all die notwendigen Dinge erledigen sollte, bevor sie sich in ihr Bett fallen lassen konnte, blieb Koa plötzlich stehen und riss den Kopf hoch.

Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Jetzt war sie hellwach.

Ihr Pferd weigerte sich weiterzugehen, dabei waren sie nur noch wenige Schritte vom Haus entfernt. Florence sprang aus dem Sattel und ging beklommen weiter. Koa folgte ihr unwillig und schien sich regelrecht hinter ihr zu verstecken.

Florence blinzelte, um ihre Sicht zu schärfen, doch in der Dunkelheit war kaum etwas zu erkennen. Jeder Schatten schien ein Eigenleben zu besitzen, bewegte sich, als sei er voller Schlangen.

Mittlerweile war Florence völlig verkrampft, die Furcht des Pferdes schien sich auf sie übertragen zu haben. „Hallo?“, rief sie, in der Hoffnung, die beiden Alten wären noch im Schuppen oder im Haus.

Als sie schließlich die Veranda erreichte, klebte ihr die Kleidung vor Schweiß am Körper, und ihr Herz klopfte so laut, dass sie nichts anderes mehr hörte als sein Trommelfeuer.

Zum Glück lag die Schachtel mit den Zündhölzern noch immer genau dort, wo sie sie verstaut hatte. Schnell war eines entzündet, und kurz darauf brannten die ersten beiden Lampen. Ihr Licht vertrieb die Schatten und auch etwas von ihrer Angst. Selbst Koa war wieder ruhiger.

Florence hängte beide Lampen auf und sattelte das Pferd mit schnellen Handgriffen ab. Ihr Gepäck stellte sie auf der Veranda ab. Mit einer Laterne in der Hand brachte sie den Sattel zum Schuppen, warf den Pferden noch etwas Heu hin und dann, endlich, war es geschafft.

Müde stieg sie die Stufen zur Veranda hinauf und griff nach dem hölzernen Knebel, mit dem die Tür verschlossen war.

Doch was war das? Das Holzstück steckte nicht in der Seilschlaufe.

Florence stutzte, doch dann dachte sie an die beiden Alten. Die Aborigines kannten keine festen Türen. Wahrscheinlich hatten sie neugierig in die Hütte gelugt und sie dann nicht wieder verschlossen. Florence stellte ihre Lampe auf einem Tisch ab und holte das zweite Licht und das Gepäck herein. Mit Ernests schwerer Kamera in den Händen erstarrte sie, als sie das Chaos im Zimmer entdeckte.

Mit weichen Knien stellte sie ihre Last ab und hob die Lampe. Ihr Arbeitstisch war verwüstet. Auch in den Regalen lag alles durcheinander. Zögernd ging sie zu den Kisten, in denen sie die Artefakte sammelten, die für Museen bestimmt waren. Dort das gleiche verheerende Bild: Zwei der zugenagelten Kisten waren aufgebrochen worden, die Gefäße und Behältnisse der Aborigines lagen achtlos verstreut daneben.

Das waren nicht die beiden Alten gewesen, sie hätten nicht derart gewütet. Diebe mussten hier gewesen sein, doch was hatten sie gesucht?

Florence sah zur Tür zurück, die noch immer einen Spaltbreit offen stand. Abschließen ließ sie sich nicht von innen. Warum auch? Sie waren mitten im Outback, einen halben Tagesritt vom nächsten Ort entfernt. An Einbrecher hatten sie nie auch nur einen Gedanken verschwendet.

Fröstelnd verschränkte Florence die Arme. Die Vorstellung, dass hier bis vor Kurzem noch Fremde herumgewühlt hatten, löste seltsame Gefühle in ihr aus. Als sei dieser Ort entweiht worden. Jemand hatte ihn beschmutzt.

Dies war doch ihr Zuhause, ihres!

Zögernd drehte sie sich um ihre eigene Achse, dann ging sie in ihr Schlafzimmer. Auch hier waren Kleidungsstücke herausgerissen worden und lagen verstreut umher, aber in dem kleinen Raum war niemand.

Nach und nach wich die Benommenheit. Sie versuchte sich nur noch auf eines zu konzentrieren: Sie wollte verhindern, dass es noch einmal geschah. Sie nahm eine Truhe und schob sie mit aller Kraft vor die Eingangstür. Sofort ging es ihr etwas besser. Mit einer zweiten, kleineren Kiste, die sie auf die erste hievte, klemmte sie die Klinke fest. Noch besser.

Doch erst als sie auch die Fensterläden von innen verschlossen hatte, die eigentlich nur dazu da waren, die Hitze auszusperren, konnte sie wieder freier atmen.

Florence sank auf einen Hocker und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Stille.

Das weiche Flattern eines Falters, der um die Lampen schwirrte, sonst nichts.

Der Druck in ihrer Brust ebbte ab und hinterließ einen schwachen Schmerz. „Nichts passiert“, flüsterte sie und dann noch einmal lauter: „Nichts passiert.“

Ihre Stimme verhallte ohne Echo und ließ ihr kleines Heim größer erscheinen, als es war.

Weil ich alleine bin, dachte sie gefasst. Eine Weile saß sie einfach nur da und lauschte angestrengt. Die Diebe waren wirklich fort. Sie konnte hören, dass die Pferde ruhig waren. Sie schnaubten leise, während sie ihr Heu fraßen.

Koa und die anderen Pferde würden sie warnen, wenn draußen jemand herumschleichen würde.

Mit einem Mal war ihre Entschlossenheit zurück. Sie wollte nicht länger herumsitzen. Worauf hätte sie auch warten sollen?

Aus der Kleidertruhe, die nur im oberen Bereich durchwühlt war, zog sie das Gewehr heraus, mit dem sie sonst hin und wieder Buschhühner geschossen hatte, und lud es.

Sie legte es auf den Tisch, die Mündung auf die Tür gerichtet, entzündete eine weitere Lampe und begann aufzuräumen.

Nahrungsvorräte fehlten. Mehl und Wurst waren um die Hälfte reduziert, doch die Diebe hatten die Mikroskope nicht angerührt und auch den Spiritus zurückgelassen, nachdem ein, zwei Schlucke sie wohl von dessen Ungenießbarkeit überzeugt hatten.

Auf dem Boden, zusammengeknüllt in einem Winkel, fand sie ein Stück Unterwäsche. Es sah feucht aus. Im letzten Moment zog sie ihre Hand zurück und zerrte es stattdessen mit einem Stöckchen aus dem Zunderholzvorrat ins Licht. Ihr Verdacht bestätigte sich. Angeekelt starrte sie auf die weißlichen, zum Teil noch feuchten Flecken.

Dem Brechreiz nahe, stopfte sie die Unterwäsche in den Ofen, dann setzte sie sich davor. In ihrer Kehle brannte Magensäure. Sie schluckte mehrfach, um das scharfe Brennen zu lindern, doch es hatte sich festgesetzt, zusammen mit der Vorstellung, was hier in ihrer Abwesenheit geschehen war.

Warum nur war Ernest jetzt nicht hier?

Sie streckte sich nach der Lampe und zog sie näher zu sich heran, damit ihr tröstendes Licht sie einhüllte.

Wie ein schützendes Halbrund lag es nun um sie und zeichnete eine Grenze auf den Boden. Florence im Licht, dahinter die Dunkelheit mit all ihren Schrecken.

Heute Nacht würde sie nicht in ihrem Bett schlafen können. Sie würde überhaupt nicht schlafen können. Wie gebannt schaute sie immer nur nach unten. Hell. Dunkel.

Doch was war das?

Fast schon hinter ihr, dort, wo sie das Licht mit ihrem Körper abschirmte und die klare Linie zwischen Licht und Dunkel diffusem Grau wich, war ein Fleck. Wie ein Geschwür ragte er in den hellen Lichtkegel auf dem Boden.

Florence umklammerte die Lampe und drehte sich ein Stückchen. Schon bevor sie in die Richtung geleuchtet hatte, wusste sie, was der Fleck war.

Blut. Dunkelrot vertrocknet, vom Holz aufgesogen. Sie drückte die Faust auf den Mund, doch da kam kein Schrei aus ihrer Kehle, den sie ersticken musste.

Es war viel Blut, sehr viel, und wenn sie genau hinsah, konnte sie auch den schmierigen Abdruck eines nackten Fußes sehen, der in Richtung Tür wies. Die Einbrecher hatten den Alten etwas angetan. Womöglich waren sie irgendwo, hielten sich versteckt und waren schwer verletzt. Florence wollte sie suchen, auch jetzt zur Nachtzeit. Aber ihre Angst hielt sie zurück. Sie konnte sich nicht rühren.

Draußen erschraken plötzlich die Pferde und galoppierten los. Das Donnern ihrer Hufe trieb Florence einen eisigen Schauer über die Haut.

Kam dort jemand?

***

Kurzbeschreibung:


Die mutige Reise einer Forscherin Ende des 19. Jahrhunderts und eine bewegende Dreiecksgeschichte:

Cambridge, Mai 1880 / Die 27-jährige Florence Niles ist Wissenschaftlerin durch und durch - doch als Frau darf sie ihre Leidenschaft und Interessen für ferne Länder und Kulturen nicht frei ausleben. Auf Umwegen bekommt die Völkerkundlerin dann die lang ersehnte Chance: Sie geht eine Zweckehe mit dem wohlhabenden Ernest Furnish ein und plant mit ihm eine Forschungsreise nach Australien. Doch noch während der Überfahrt lernt sie einen attraktiven Schweden kennen, der die Zukunftspläne der sonst so zielstrebigen Forscherin gehörig durcheinanderbringt und bald nicht nur ihre Expedition gefährdet ...

"Südsternjahre" ist eine ergreifende Lovestory und zugleich die Entwicklungsgeschichte einer außergewöhnlichen Frau,die ihrem Herzen folgt!


Rebecca Maly

Südsternjahre 3

Australien-Saga

 

Edel Elements

BUCH 3

KAPITEL 14

Florence fühlte sich sterbensmatt und glaubte, sich nie wieder davon zu erholen. Sie lag ohne Mückennetz und ohne Zelt nur mit einigen Decken auf dem Felsenboden.

In der Windstille der Höhle stieg der Rauch des Feuers beinahe senkrecht nach oben. Hin und wieder riss die heiße Luft Funken mit empor. Florence verfolgte deren Flug, bis sie verglommen.

Ernest lag neben ihr und atmete langsam und tief. Es tat gut, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Er berührte sie nicht, doch sein Atem strich hin und wieder über ihr Gesicht und gab ihr das Gefühl, nicht alleine zu sein.

Tom lag auf der anderen Seite des Feuers. Nachdem er sich anfangs geweigert hatte, eine Decke anzunehmen, schlief er jetzt fest eingewickelt, sogar der Kopf war bedeckt. Von Zeit zu Zeit zuckte er im Schlaf und gab leise gequälte Geräusche von sich, die besser zu einem Tier gepasst hätten als zu einem Menschen.

Tom hatte ihr heute das Leben gerettet, daran bestand kein Zweifel. Dennoch war er ihr seitdem nicht wie ein Retter erschienen, sondern eher wie ein rasender Wolf, der sich unter eine Schafherde gemischt hatte. So viel Hass war in seinen Augen gewesen, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn auch sie Opfer seiner Raserei geworden wäre.

Florence wollte nicht daran denken. Sie wollte an gar nichts denken. Warum konnte ihr Verstand nicht einfach ihrem Körper gehorchen und sich endlich zur Ruhe begeben? Die vergangenen Stunden waren so anstrengend gewesen, dass ihr alles wehtat. Ihr Rücken schmerzte vom Heben der Kisten, und in ihren Armen wechselte ein enervierendes Kribbeln mit Taubheit.

Es war so still in der Höhle, so unendlich still, als gäbe es wirklich Geister an diesem Ort, die jedes Geräusch vertrieben. Aus ihrer Position konnte sie die Zeichnungen an den Wänden nicht sehen. Aber einige hatte sie verinnerlicht, und so meinte sie, die schlanken Figuren dennoch erahnen zu können, die ihre Arme schützend über sie hielten.

Und unter dem Eindruck wachsender Geborgenheit dämmerte sie langsam in den Schlaf hinein.

Cover

Jemand drückte ihre Hand. Das Zwielicht der Dämmerung warf Schattenspiele in die Höhle. Sie hatte also doch geschlafen, oder der Morgen war schneller gekommen als gedacht.

Ernest drückte ihre Hand erneut. Florence wandte träge den Kopf, um ihn anzusehen. Mit seinem Blick schien er ihr etwas sagen zu wollen, auf etwas hinzuweisen, und dann bemerkte sie, dass er mit der Rechten seine Waffe gefasst und nur halb unter der Decke verborgen hatte.

Florence war mit einem Schlag hellwach. Alles in ihr verkrampfte sich. War es denn noch nicht vorbei? Hatte das Blutvergießen von gestern nicht gereicht?

Ihre Gedanken rasten.

War der entflohene Angreifer mit Verstärkung zurückgekehrt, um den Tod seiner Kameraden zu rächen? Florence wagte nicht, Ernests Blick zu folgen, und doch wandte sie wie magisch angezogen den Kopf.

Sie hätte alles erwartet, nur diesen Anblick nicht. Am Eingang der Höhle standen zwei Eingeborene. Ein üppiger weißer Bart und dichte weiße Haare umrahmten den Kopf des linken Mannes wie eine Löwenmähne. Der andere schien nicht viel jünger, doch sein Haar war dunkel mit nur wenigen grauen Strähnen. Beide standen so still, als seien sie aus dem Fels geborene Statuen von Männern, wie Florence sie zuvor einzig auf verblichenen Fotografien und Zeichnungen gesehen hatte.