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Christian Merlin

Die Wiener Philharmoniker

Christian Merlin

Die Wiener
Philharmoniker

Das Orchester und seine Geschichte
von 1842 bis heute

Band I

Aus dem Französischen
von Uta Szyszkowitz

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Eine Übersicht über die Konzerte der Wiener Philharmoniker seit ihrer Gründung 1842 ist unter http://www.wienerphilharmoniker.at/konzerte/archive abrufbar.

Bildnachweis

Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv (1–12, 14–17, 19–22, 24, 26–30, 32, 33, 35–41, 43–47, 49), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto L. Gillich (13), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto S. Frey (18), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Fayer (23, 31), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Löwy (25), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Broneder (34), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Votava (42), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Hanak (48, 51), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Fischer (50, 52, 53), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Terry (54, 57–59), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Vivianne (55), Benedikt Dinkhauser/Wiener Philharmoniker (56), Martin Kubik/Wiener Philharmoniker (60), Terry Linke/Wiener Philharmoniker (61), Jun Keller/Wiener Philharmoniker (62–64)

Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt. Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten Bilder nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.

Der Verlag dankt dem Historischen Archiv der Wiener Philharmoniker für die freundliche Unterstützung der Übersetzung aus dem Französischen.

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© 2017 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Dem Andenken meines Großvaters Charles Bernard, der niemals genau wusste, ob er in erster Linie Rumäne, Jude oder Österreicher war. Geboren in der Bukowina, nannte er sich, wenn er schon kein Wiener war, immerhin einen »Bukowiener«.

Inhalt

Einführung

ERSTER TEIL

Die Anfänge

1. KAPITEL

1842. Die ersten Philharmoniker

Erster Konflikt mit dem Dirigenten

2. KAPITEL

Die Holbein-Jahre

Die Vergrößerung des Orchesters

3. KAPITEL

1855–1866. Cornet und Eckert

Das Engagement von Josef Hellmesberger sen.

Der Beginn von Abonnementkonzerten und die neuen Statuten

Der Generationswechsel

4. KAPITEL

1869. Die Eröffnung des neuen Opernhauses

Der Kampf um Unabhängigkeit

Ein multiethnisches Orchester

Die erste massive Vergrößerung

Die Wiener Schule

5. KAPITEL

1870–1897. Von der Stabilisierung in die Gefährdung

Neue Gesichter

Der Eintritt von Josef Hellmesberger jun.

Die Bestellung von Arnold Rosé

Der Pensionsfonds

Der Generationswechsel und die Wiener Oboe

Von der Ventilposaune zur Zugposaune

Ein Orchester der Dynastien

Häufiger Pultwechsel

Die Erfindung der Wiener Pauke

6. KAPITEL

1897–1907. Die Reformen Mahlers

Das Zwischenspiel von Hellmesberger jun.

Die Neuordnung der Gruppen

Ein Rekord an Neuengagements

Erste Ansätze einer Internationalisierung

Die Wiener Komponente

Neue Methoden bei Neubesetzungen

Die Einführung der Böhm-Flöte

Harfennot

Der schwierige Umgang mit dem Personal

Pro und kontra Mahler

Die Wiener Identität

7. KAPITEL

1908–1917. Die Ruhe nach dem Sturm

ZWEITER TEIL

Die Erste Republik

8. KAPITEL

1918–1928. Schalk zwischen Tradition und Erneuerung

Erste Salzburger Festspiele und erste Tourneen

Eine aktive Einstellungspolitik

Die zweite massive Vergrößerung

Rückkehr zur Normalität

9. KAPITEL

1929–1938. Clemens Krauss

Burghauser gegen Krauss

Der Fall Odnoposoff

Das Engagement von Willi Boskovsky

Die Philharmoniker unter dem austrofaschistischen Regime

DRITTER TEIL

Der Nationalsozialismus

10. KAPITEL

1938–1945. Die Philharmoniker im Nationalsozialismus

Die Zwangspensionierung von jüdischen Musikern

Die Neueinstellungen vor einem tragischen Hintergrund

Das Ausscheiden von Odnoposoff

Furtwänglers Liste

Die Philharmoniker und das Exil

Die Opfer des Holocaust

Das Schicksal der »Mischlinge«

Der Status des Vereins unter dem NS-Regime

Jerger als Vorstand

Die dritte massive Vergrößerung des Orchesters

Die Philharmoniker im Krieg

Neue Fragen zum Wiener Stil

Reform der Rangordnung

VIERTER TEIL

Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

11. KAPITEL

1945–1955. Provisorium und Wiederbeginn

Die Philharmoniker als Volkssturmeinheit

Die zaghafte Entnazifizierung

Die Argumentation der inkriminierten Musiker

Eine angespannte Atmosphäre

Austritte und Wiedereintritte

Die Wiedereinladung Friedrich Buxbaums bei den Philharmonikern

Der Fall Schneiderhan

Die Trennung von Staatsoper und Volksoper

Konflikte bei den Schlagwerkern

Das Problem der Verjüngung

Spannungen mit dem Wiener Oktett

Willi Boskovsky dirigiert das Neujahrskonzert

Die Dirigenten

12. KAPITEL

1955–1992. Von der Wiederöffnung der Oper bis zur Orchestervergrößerung

Der Aufholprozess

Die Situation der Horngruppe

Die Rückkehrer aus der Volksoper

Die Verjüngung der Oboengruppe

Die Karajan-Methode

Die Intervention von Decca

Die Krise der Konzertmeister

Das Harfenproblem und die Frauenfrage

Die Affäre Hanzl

Die vierte Orchestervergrößerung und der Kampf um die Statuten

Eine spektakuläre Verjüngungsaktion

Das Engagement von Gerhart Hetzel

Neue Dirigenten

13. KAPITEL

1992 bis heute. Rückblicke und Ausblicke

Neue Mitglieder

Die Aufnahme von Frauen

Der Abschied einer Generation und die Internationalisierung

Ein Reiseorchester

Fazit

Ein wirtschaftlich-soziales Doppelmodell

Die künstlerische Unabhängigkeit

Mitgliederzahl und Rangordnung

Engagement, Beförderung und Rückstufung

Nationalität und Geschlecht

Familien und Dynastien

Die Weitergabe

Der Wiener Stil

Anmerkungen

Einige Besonderheiten der Wiener Philharmoniker

Glossar

Literatur

Personenregister

Einführung

Die Wiener Philharmoniker üben eine Faszination aus, die weit über den Kreis von Musikliebhabern und -kennern hinausgeht. Das liegt nicht nur daran, dass die Übertragung ihres Neujahrskonzerts an jedem 1. Januar von über 50 Millionen Fernsehzuschauern in über 90 Ländern empfangen werden kann. Es liegt auch an den Mythen, die sich um diese Künstlergemeinschaft ranken, eine Gemeinschaft, die aufgrund ihrer ganz besonderen Regeln einem eigenen Mikrokosmos, ja fast einer Geheimgesellschaft gleicht.

Verhältnismäßig gibt es bis heute nicht viele Bücher über die Wiener Philharmoniker.1 Die meisten sind jahrzehntealt, nicht immer akribisch, und zeichnen sich durch ihre hagiografische Haltung und Bereitwilligkeit aus, die unangenehmen Themen zu verschweigen: Noch im Jahr 2006 beschreibt der einstige Konzertmeister Walter Barylli in seinen Erinnerungen das große Glück, sehr jung in das Orchester eintreten zu können, da 1938 einige Posten vakant geworden waren, ohne zu erwähnen, warum diese Stellen plötzlich zur Verfügung standen …2 Erst 1992 erschien das bisher umfangreichste Werk: die Demokratie der Könige von Clemens Hellsberg3, Primgeiger und damaliger Historischer Archivar der Philharmoniker, deren Vorstand er einige Jahre später werden sollte. Sein Werk basiert auf der systematischen Nutzung der Archivbestände mit dem Wissen eines Insiders. Hellsberg war außerdem der Erste, der sich der Aufgabe der Erinnerung stellte, der Erste, der den im Nationalsozialismus verfolgten Philharmonikern Gerechtigkeit widerfahren ließ.

Angesichts dieser Veröffentlichungen taucht unvermeidlich die Frage auf: Warum noch ein Werk, wenn das Wesentliche bekannt ist? Weil es noch eine Arbeit gibt, die bisher nicht geleistet wurde. Wie die meisten Werke über Orchester wurden auch fast alle Studien über die Wiener Philharmoniker aus demselben Blickwinkel geschrieben: Sie gehen von den Dirigenten aus, die das Orchester nacheinander geleitet haben, vom Repertoire und von der Institution als solcher. Nie von den Musikerinnen und Musikern.

Selbst die vorbildliche Geschichte der Pariser Société des concerts du conservatoire von Kern Holoman verbannt die Liste der Orchestermitglieder in den Anhang, ohne diesen auszuwerten. Aufgrund meiner Überzeugung, ein Orchester existiere nur durch seine Mitglieder, habe ich mein Buch Au cœur de l’orchestre geschrieben, das sich mit dem inneren Leben eines Orchesters befasst. Danach erschien es mir angebracht, diese Methode nicht mehr allgemein, sondern bei einer ganz besonderen Vereinigung anzuwenden. Ich habe also die Perspektive umgedreht und als Ausgangspunkt nicht die Geschichte der Wiener Philharmoniker als Kollektiv, sondern die Geschichte der Musikerinnen und Musiker gewählt. Diese Vorgangsweise wird durch den deutschen Namen des Orchesters unterstützt: Anders als im Französischen und Englischen (Orchestre Philharmonique de Vienne, Vienna Philharmonic Orchestra), spricht man nicht vom »Wiener Philharmonischen Orchester«, sondern von den »Wiener Philharmonikern«, eine Benennung, die sich eindeutig auf die individuellen Musiker bezieht und nicht auf ihre Struktur. Mein Vorhaben war auch gerechtfertigt, da sich die Gründung des Orchesters auf ein Vereinsmodell stützt, das auf Unabhängigkeit und Selbstverwaltung setzt, ein Modell, in dem die Mitglieder selbst ihren Dirigenten wählen und sich als Bewahrer einer bestimmten Tradition des Interpretationsstils sehen.

Historiker nennen »Prosopografie« die Biografie einer Gemeinschaft auf Basis der individuellen Biografien ihrer Mitglieder. In diesem Sinne habe ich zunächst eine Liste aller Mitglieder des Orchesters seit seiner Gründung 1842 erstellt und für jedes einzelne eine Datei angelegt: Seltsamerweise hatte sich in Österreich noch nie jemand diese Mühe gemacht. »Der muss verrückt sein«, hat ein Wiener Archivar gesagt, als er von dem Projekt hörte. Irgendwie hat er recht. Auf dieser Basis habe ich eine Genealogie der Wiener Philharmoniker erarbeitet, sowohl hinsichtlich der Familienbeziehungen als auch der aufeinanderfolgenden Besetzungen der einzelnen Pulte. Die Archivrecherchen nahmen vier Jahre in Anspruch, da sie sich auf wenige Wochen im Jahr beschränken mussten, befindet sich doch das Zentrum meiner beruflichen Tätigkeit in Paris. Es stellte sich schnell heraus, dass das Historische Archiv der Wiener Philharmoniker über keine Personalakten verfügt. So wird in den Registern und Mitgliederlisten nicht die Rangordnung innerhalb einer Instrumentengruppe, sondern nur das Instrument erwähnt: Man erfährt etwa nicht, wer die »Solobratsche«, die »zweite Klarinette« oder das »dritte Horn« ist, und es wird nicht zwischen Paukisten und Schlagwerkern unterschieden. Aus einem einfachen Grund: Im Verein der Wiener Philharmoniker herrscht Ranggleichheit unter den Vereinsmitgliedern. Dagegen gibt es im Wiener Staatsopernorchester sehr wohl eine Rangordnung der Posten. Denn die Wiener Philharmoniker und das Staatsopernorchester sind ein Personenverband, doch mit verschiedenen Statuten.

Das Staatsopernorchester besteht aus Angestellten des österreichischen Staates mit der Verpflichtung, am Abend im Orchestergraben der Staatsoper zu spielen. Parallel dazu sind diese Musiker Mitglieder eines privatrechtlichen Vereins unter dem Namen »Wiener Philharmoniker« und spielen Symphoniekonzerte: Als solche beziehen sie kein festes monatliches Gehalt, sondern teilen sich die Einnahmen. Um Philharmoniker zu werden, muss man zuerst Mitglied des Orchesters der Wiener Staatsoper sein: Nur das Opernorchester verfügt über Planstellen, schreibt sie aus und hält Probespiele ab. Hier, im Opernorchester, sind die Funktionen hierarchisch geordnet. Ich habe mich daher bemüht, Zugang zu Verträgen, Probespielprotokollen und Dienstbüchern zu bekommen, um zu erfahren, wer wer ist, und vor allem, wer auf wen gefolgt ist. Das wussten die Mitglieder manchmal selbst nicht!

Vor der Veröffentlichung meiner Forschungsergebnisse in Form eines Buches für ein breiteres Publikum habe ich sie als Habilitationsschrift an der Sorbonne eingereicht und im Dezember 2014 erfolgreich verteidigt. Das Ziel war, eine neue Methode auszuprobieren, mit der die Geschichte eines Orchesters vollständig zu erfassen ist, in der Hoffnung, dass diese Vorgehensweise von anderen Musikhistorikern weiterverfolgt und weiterentwickelt wird. Band II dieses Buchs besteht daher in einem Register, in dem alle Mitglieder des Orchesters seit der Gründung mit ihren wichtigsten persönlichen Daten aufgelistet sind.

Möglicherweise läuft man mit dieser Methode Gefahr, die Orchestergemeinschaft auf eine Kette von Individuen zu reduzieren und die kollektive Dimension zu vernachlässigen. Es ist ja kein Zufall, dass eines der häufigsten Synonyme für das Wort »Orchester« der »Klangkörper« ist. Nun ist aber dieser Klangkörper auch ein sozialer Körper, der nicht nur über eine komplexe Organisation und Hierarchie verfügt, sondern auch ein kollektives Gedächtnis, ja, eine kollektive Identität besitzt. Der Soziologe Maurice Halbwachs hat zwischen 1932 und 1944 an seinem Werk La Mémoire collective gearbeitet, das durch seine Deportation und seinen Tod in Buchenwald 1945 unvollendet blieb.4 Unter den von ihm untersuchten Beispielen für kollektive Gedächtnisse wendete er besondere Aufmerksamkeit den Orchestermusikern zu, in einem separaten, 1939 erschienenen Aufsatz5, der die permanente Interaktion zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis aufzeigt. Halbwachs konzentriert sich an erster Stelle auf den Unterschied zwischen dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft im Allgemeinen und dem spezifischer Gruppen, in diesem Falle am Beispiel der Musiker. Er verweist auf den Walkürenritt, um zu zeigen, dass Wagners Musik im sozialen Gedächtnis eng mit der Vereinnahmung durch das Hitler-Regime verbunden ist, während die Rezeption in der Expertengruppe der Musiker durchaus nicht auf die NS-Assoziation beschränkt ist. Anschließend reflektiert Halbwachs über die Natur des musikalischen Gedächtnisses: Bei Musikern stütze sich das Gedächtnis auf den Klang und nicht auf den Sinn, der sich im Theater über das Wort erschließt. Diese Behauptung bedarf allerdings einer Nuancierung bezüglich der Wiener Philharmoniker. Sie sind in erster Linie ein Opernorchester, dessen Musikerinnen und Musiker die Texte der Libretti auswendig können, sodass ihnen eine auf der Bühne gesungene Replik oft als Hinweis für ihren Einsatz dient.

Dieser Begriff des »Klanggedächtnisses«, der für ein Orchester mit so hohem Anspruch auf eine tradierte, besondere Tonqualität von entscheidender Bedeutung ist, wird einer meiner Leitfäden sein. Denn er ist untrennbar mit der Weitergabe von jahrhundertealten Traditionen über Generationen verbunden. Dies geschieht durch den direkten Kontakt von alten und jungen Musikern, aber auch durch Anmerkungen im Notenmaterial: Meistens spielen die Musiker aus Stimmen, die schon lange im Besitz des Orchesters sind und dementsprechend vollgeschrieben sind. So findet man in den Hornstimmen der Elektra noch die handschriftlichen Notizen von Musikern, die das Werk unter Richard Strauss gespielt haben.

Ebenso wichtig wie der Begriff des kollektiven Gedächtnisses, doch ideologisch heikler, ist der Begriff »kollektive Identität«. Ihre Bewahrung steht im Zentrum aller Bemühungen der Wiener Philharmoniker. 1947 schrieb Solooboist Alexander Wunderer: »Wir sind die Nachkommen derer, die von Beethoven künstlerisch erzogen wurden. Über dem Klang unseres Orchesters haben Brahms und Bruckner ihre Symphonien geschrieben.« Der Cellist Friedrich Dolezal meinte 1990, »der Grund für den einheitlichen wienerischen Stil der Streicher scheine wohl im Unbewussten zu liegen. Man spielt nicht wienerisch, man ist es.«

Die beiden Aussagen ergänzen sich, widersprechen einander aber auch: Der eine Musiker spricht von einem Erbe, ohne zu erklären, wie es sich überträgt (Durch Unterricht? Durch Nachahmung? Durch Vererbung?), der andere von einer Mentalität, die etwas mit dem Genius Loci zu tun hat. In keinem Fall darf man den Identitätsbegriff für bare Münze nehmen, sondern muss herausfinden, wie er sich zusammensetzt. Beide Musiker sprechen vom einzigartigen Charakter ihres Orchesters im Vergleich zu allen anderen: Die Wiener Philharmoniker leiten sich in direkter Linie von Beethoven, Brahms und Bruckner ab und berufen sich auf die lebendige Tradition einer unnachahmlichen Spielweise. Dieser Anspruch wird in Phasen der Bedrohung stärker betont. So werden Faktoren wie Globalisierung, Vereinheitlichung der Tonqualität, Internationalisierung des Repertoires und die zunehmende Qualität der konkurrierenden Orchester wiederholt als Gefahren empfunden.

Laut dem Soziologen Guy Michaud wird »die kollektive Identität von den Mitgliedern einer Gruppe subjektiv wahrgenommen. Sie entsteht durch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe und definiert sich vor allem durch ihre Opposition zu anderen und dadurch, dass sie sich von anderen unterscheidet.«6 Tatsächlich stehen die Philharmoniker in regelmäßigen Zeitabständen vor der Frage, ob sie ihren Spielstil ändern sollen, um sich der Zeit anzupassen, oder nicht. Sie berufen sich auf eine idealisierte Tradition, die sich jedoch ihrerseits im Lauf der Geschichte gewandelt hat, und haben in Wahrheit Angst, ihre Einzigartigkeit zu verlieren.

Im Lauf meiner Recherchen kam ich zu der Überzeugung, dass die Wiener Philharmoniker ursprünglich eine multikulturelle, multiethnische Vereinigung waren, der die Integration vieler Teilgruppen der Bevölkerung der Habsburgermonarchie unabhängig von deren kultureller Identität gelang. Erst später lief das Orchester Gefahr, die »Wiener Identität« sehr eng aufzufassen, was mitunter an Chauvinismus, Ausgrenzung und übersteigertes Selbstwertgefühl grenzte. In den letzten Jahren entwickelte es sich wieder verstärkt zu einer integrativen Gemeinschaft und knüpfte an den Geist der Gründungsjahre an.

Als roter Faden dieses Buches dient die Entwicklung des Personenstandes des Opernorchesters in quantitativer wie personeller Hinsicht. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen ist eine regelmäßige Zunahme der Mitgliederzahl zu beobachten, mit einigen auffälligen Schlüsselphasen: 1869, 1922 und 1964. In diesen Jahren vergrößert sich das Orchester jeweils um circa 20 neue Stellen. Zu anderen Zeiten sind aufgrund massiver Abgänge Vakanzen auszufüllen. Das war nach dem Ersten Weltkrieg der Fall und vor allem nach dem »Anschluss« 1938, als es durch die nationalsozialistischen Säuberungen zu Vakanzen kam, die es sonst nie gegeben hätte. Manchmal, zum Beispiel unter der Direktion von Gustav Mahler in den 1900er Jahren oder unter Clemens Krauss zu Beginn der 1930er Jahre, wurden Schlüsselpositionen neu besetzt, um, wie es hieß, die Spielqualität zu verbessern. Denn immer wieder stellte sich im Lauf der Geschichte des Orchesters mehr oder weniger diplomatisch die Frage, wie sich die Traditions- und Senioritätspflege mit den steigenden spieltechnischen Erwartungen vereinen lässt, die an ein herausragendes Orchester gestellt werden.

Die großen Impulse für die Entwicklung der Wiener Philharmoniker gingen, besonders was die Anzahl der Musiker anging, von der Oper aus, deren Spielbetrieb vom Orchester getragen wird: Daher ist der Eindruck nicht falsch, hier eher die Geschichte des Orchesters der Wiener Oper zu lesen als die der Wiener Philharmoniker. Das Schicksal der Philharmoniker ist untrennbar mit dem der Oper verbunden: Je mehr das Orchester in der Oper eingesetzt wird, desto spürbarer wird der Personalbedarf, besonders wenn die Anzahl der Konzerte zur gleichen Zeit steigt. Zudem wird es bei jeder Vergrößerung des Opernorchesters für die Philharmoniker schwieriger, Neuankömmlinge in ihre Reihen aufzunehmen: Da ihre Organisation auf der Teilung der Einnahmen unter den Vereinsmitgliedern beruht, verringert sich der pro Kopf ausgeschüttete Betrag, je größer das Orchester wird … Die Philharmoniker sind zwar eine demokratische, aber keine philanthropische Gesellschaft.

Die Geschichte der Stellenbesetzungen ist zugleich Spiegelbild der allgemeinen Geschichte. Besonders während der österreich-ungarischen Monarchie stellt sich die Frage nach der Wiener Identität, einer übernationalen und multikulturellen komplexen Konstruktion. Ich habe versucht, alles über die Herkunft jedes Musikers in Erfahrung zu bringen, um herauszufinden, ob man bei der Stellenvergabe regionalen Präferenzen folgte. Gerade für die Zeit der Monarchie war dies eine schwierige Aufgabe. Erstens, weil vor dem Erwachen der Nationalitäten am Ende des 19. Jahrhunderts die Tatsache, ob ein Musiker aus Böhmen, Mähren oder Ungarn kam, nicht entscheidend war und das Völkermosaik der Habsburgermonarchie relativ unübersichtlich ist. Zweitens, weil nicht immer genügend zuverlässige Kriterien zur Verfügung standen. Der Familienname ist nicht immer ein Beweis für die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe: Viele seit Generationen eingebürgerte Wiener tragen einen tschechischen Namen, ebenso wie zahlreiche Moldauer oder Galizier ihre Namen eingedeutscht haben. Auch der Geburtsort ist nicht entscheidend: In Böhmen geboren zu sein, hieß noch lange nicht, dass man Tscheche oder Deutsch-Böhme war. Von den 736 Musikern, deren Geburtsort bekannt ist, sind 365, die Hälfte, in Wien geboren. Was also ist unter der viel beschworenen Wiener Identität zu verstehen? Vielleicht das, was Étienne Balibar eine »fiktive Ethnizität«7 nennt und Hartmut Esser »fiktive Abstammungsgemeinschaften«.

Die historischen Ereignisse treten mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Kaiserreiches, mit dem Austrofaschismus, vor allem mit dem »Anschluss« und während des Nationalsozialismus in den Vordergrund. Gerade die Konsequenzen des Jahres 1938 sind für das Orchester einschneidend, sowohl in menschlicher als auch in kultureller Hinsicht. Mit neuer Schärfe wurde die Frage aufgeworfen, welche Stellung die österreichischen Musiker Deutschland, dem »verfreundeten Nachbarn«, gegenüber einnehmen sollten.

Ich war gerade in Wien, als es im Dezember 2012 zu einer Polemik um Medienaussagen des grünen Abgeordneten Harald Walser kam. Der Vorwurf, die Philharmoniker hätten ihre NS-Vergangenheit verschleiert, war zum Teil zutreffend, zum Teil ungerecht. Zutreffend insofern, als Österreich im Allgemeinen viel milder als Deutschland mit der Vergangenheitsbewältigung umgegangen war und es vorgezogen hatte, heikle Fragen beiseitezuschieben und sich mehr als Opfer denn als Mittäter darzustellen. Ungerecht insofern, als man sich bei dem Angriff auf Clemens Hellsberg ein falsches Ziel gewählt hatte, denn dieser hatte 1992 als Erster den Opfern des Holocaust ein Kapitel seines Werkes über die Philharmoniker gewidmet. Die Polemik hatte zwei positive Folgen: die Entdeckung von bislang unbekannten Dokumenten über die Orchestergeschichte während des Zweiten Weltkrieges in einem Depotraum der Wiener Philharmoniker im Keller der Staatsoper sowie die Bestellung einer Historikerkommission unter Oliver Rathkolb, der als anerkannter Spezialist für die NS-Zeit damit beauftragt wurde, die Rolle des Orchesters während des Nationalsozialismus unter die Lupe zu nehmen.

Die Zusammensetzung des Orchesters wird noch komplexer, wenn man den Anteil der jüdischen Mitglieder in Betracht zieht. Denn die jüdische Bevölkerungsgruppe wurde weder als eigene Nation noch als Tschechen, Ungarn oder Bukowiner angesehen: Man denke an Kafka, der sich überall fremd fühlte, ein Deutscher in den Augen der Tschechen, ein Jude in den Augen der Deutschen. Meinem eigenen Großvater erging es nicht anders: Er wurde 1903 in Bukarest von jüdischen Eltern geboren, die aus Czernowitz stammten, und fragte sich sein ganzes Leben lang, ob er vorrangig Jude, Rumäne oder Österreicher sei; er sprach besser Deutsch als Rumänisch. Die 1932 erhaltene französische Staatsbürgerschaft wurde ihm im Zweiten Weltkrieg vom Vichy-Regime entzogen, was ihn mit Ehefrau und kleiner Tochter in den Untergrund zwang, um dem Holocaust zu entkommen.

Ich bin mir somit wie kaum ein anderer bewusst, dass es im Grunde indiskutabel ist, Individuen nach ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit einzuordnen. Aber es schien mir wichtig, zumindest bis 1945 den Anteil der jüdischen Musiker bei den Wiener Philharmonikern festzustellen: nicht um einen genetisch bedingten Spielstil hervorzuheben, sondern um den Stellenwert der jüdischen Bevölkerung innerhalb des Wiener Kulturlebens bis zu ihrem gewaltsamen Ausschluss 1938 zu untersuchen und herauszufinden, inwieweit die Orchesterbesetzung Wiener Kultur und Mentaliäten reflektierte … Trotz lückenhafter Quellen bemühte ich mich, den Anteil von Juden, Böhmen, Ungarn und anderen Bevölkerungsgruppen Trans- und Cisleithaniens statistisch festzuhalten. Meine Aufstellungen sind zwar noch unvollständig, können aber als Grundlage für künftige Forschungen dienen.

Diese Recherchen erschließen darüber hinaus die Möglichkeit, den Begriff des »Wiener Stils« näher zu untersuchen. Mittels genealogischer Annäherung kann man sich mit der Bedeutung von Tradition, Erbe und Weitergabe auseinandersetzen: durch die Nachbesetzung der Stellen, die oft familiär bestimmt war, aber auch durch den Instrumentalunterricht. Auch über die Auswertung der Protokolle der philharmonischen Versammlungen und Komiteesitzungen und die manchmal mehr als turbulenten Beziehungen des Orchesters zu seinen Dirigenten lässt sich dem Mythos und der Realität des labilen Begriffs »Wiener Stil« auf die Spur kommen. Denn was sich viele als angeborene Eigenschaft vorstellen, kam mir im Lauf meiner Forschungen immer mehr wie eine pure Konstruktion vor.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass mein Werk keinen Anspruch auf absolute Objektivität erheben kann. Die Deutungen, die in beiden Bänden zum Ausdruck gebracht werden, spiegeln letzten Endes meinen Standpunkt wider und beruhen neben klaren Fakten auf kritischem Urteil und persönlicher Stellungnahme.

Ich möchte von ganzem Herzen jenen Personen danken, die mir bei meiner Arbeit geholfen haben. An erster Stelle Clemens Hellsberg, dem langjährigen Vorstand der Wiener Philharmoniker, der meinem Projekt seine Aufmerksamkeit schenkte und mir seine Freundschaft. Ebenso seinem Nachfolger Andreas Großbauer, dessen uneingeschränkte Unterstützung die deutschsprachige Ausgabe dieses Buches möglich machte, und Wolfgang Plank als immer hilfsbereitem und warmherzigem Leiter des Historischen Archivs der Wiener Philharmoniker. Staatsoperndirektor Dominique Meyer, einem großen Verehrer »seines« Orchesters, der mich in jenen Depotraum im zweiten Untergeschoß der Staatsoper begleitete, ohne sich vor dem Staub zu fürchten. Karl Tautscher, Orchesterinspektor der Staatsoper, der mir die Schränke seines Büros öffnete, mir einen Tisch und einen Sessel hinstellte, damit ich die bis ins Jahr 1948 zurückreichenden Dienstverzeichnisse des Orchesters studieren konnte. Dem Notenarchivar der Philharmoniker, Andreas Lindner, der mir großzügigerweise Einblick in die von ihm ausgearbeiteten Musikerlisten gewährte, sodass ich nicht bei null beginnen musste. Hana Keller und ihrem Mitarbeiter Thomas Helesic im Österreichischen Staatsarchiv, die mir durch ihre Vorbereitungen die Arbeit unglaublich erleichtert haben. Lynne Heller und ihrem Mitarbeiter Erwin Strouhal, die für mich alle von späteren Philharmonikern besuchten Klassen an der Akademie für Musik und darstellende Kunst zwischen 1909 und 1940 durchgesehen haben. Ich danke auch Otto Biba für den freundlichen Empfang im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Ebenso wie Ingeborg Birkin, die immer bereit war, die Ergebnisse ihrer Forschungen zur Verfügung zu stellen. Und dem Musikkritiker Walter Dobner, der mir Zutritt zum nicht öffentlich zugänglichen Archiv von Willi Boskovsky verschafft hat, dessen Nachlassverwalter er ist.

Ganz speziell danke ich auch den ehemaligen Musikern des Orchesters, die mit mir ihre Erinnerungen geteilt haben: Franz Bartolomey, Wolfram Görner, Werner Hink, Roland Horvath, Günter Lorenz, Reinhard Öhlberger (der sich auch als aufmerksamer Lektor entpuppte), Peter Schmidl sowie den aktiven Musikern, die mir geduldig alle meine lästigen Fragen beantwortet haben: Gotthard Eder, Dieter Flury, Josef Hell, Martin Kubik, Raimund Lissy, Herbert Mayr, Wolf-Dieter Rath, Lars Michael Stransky, Christoph Wimmer. Viktor Velek, der alles über in Wien tätige tschechische Musiker weiß. Friedemann Pestel, der die deutsche Übersetzung mit kaum zu überbietender Akribie und Gründlichkeit inhaltlich geprüft hat, und last, but not least Silvia Kargl, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Historischen Archivs der Wiener Philharmoniker, die sich – unsere geografische Entfernung überbrückend – als eine unerschöpfliche Quelle von Auskünften, eine immer hilfsbereite Unterstützerin, eine geistreiche Gesprächspartnerin und vor allem eine gute und treue Freundin erwies.

ERSTER TEIL

Die Anfänge

1. KAPITEL

1842. Die ersten Philharmoniker

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die einzigen professionellen und fest engagierten Orchester in Wien die Theaterorchester und die Hofmusikkapelle, abgesehen von einigen wenigen noch existierenden Privatorchestern von Adligen. Keines dieser Orchester veranstaltete selbstständig Konzerte: Alle wurden von Fall zu Fall engagiert. So griff auch Ludwig van Beethoven für die Uraufführung seiner 1. Symphonie am 2. April 1800 im Burgtheater auf das Hofopernorchester zurück und für die 5. und 6. Symphonie am 22. Dezember 1808 auf das Orchester des Theaters an der Wien. Auch für die Uraufführung seiner 9. Symphonie hatte er das Opernorchester engagiert, aber durch einige Mitglieder des Orchesters der Gesellschaft der Musikfreunde verstärkt. Dieser 1812 gegründete Verein war der einzige Konzertveranstalter in Wien, beschäftigte jedoch hauptsächlich Amateurmusiker, denen manchmal Berufsmusiker an den ersten Pulten zugeteilt wurden. Der erste Versuch, eine Gesellschaft für professionelle Symphoniekonzerte zu gründen, war der »Künstlerverein«, der 1833 von Komponist Franz Lachner gegründet wurde. Er war damals Kapellmeister der Hofoper im Kärntnertortheater. Seine Absicht, mit dem Opernorchester im Großen Redoutensaal der Hofburg vier Abonnementkonzerte zu veranstalten, war eine Vorwegnahme der späteren philharmonischen Konzerte, es blieb bei einer einmaligen Umsetzung.

1842 kam der entscheidende Anstoß von Otto Nicolai (1810–1849): Das Kernstück österreichischer Kultur geht auf einen Preußen zurück. Der brillante Dirigent und spätere Komponist der Lustigen Weiber von Windsor war 1841 vom damaligen Pächter des Kärntnertortheaters, Carlo Balochino, auf den Posten des ersten Hofopernkapellmeisters berufen worden. Da er feststellen musste, dass Wien kein ständiges professionelles Symphonieorchester besaß, kam ihm die Idee, das Opernorchester, dessen Leiter er war, in ein Konzertorchester zu verwandeln. Die meisten der noch heute gültigen Grundprinzipien standen von Anfang an fest: ein demokratisch gewähltes Orchesterkomitee, eine Konzertsaison zusätzlich zum Operndienst (anfangs mit einer variierenden Zahl an Konzerten), die Pflege des klassischen Repertoires (Beethoven war erst 15 Jahre tot, und zwei der ersten Philharmoniker, der Fagottist Theobald Hürth und der Hornist Eduard Lewy, waren noch an der Uraufführung der 9. Symphonie beteiligt gewesen). Zugleich stellten die Konzerte einen nicht unbeträchtlichen Nebenverdienst für die schlecht bezahlten Musiker dar. Die soziale Komponente ist von Anfang an vorhanden, wie man in den Memoiren des Politikers Ludwig Ritter von Przibram nachlesen kann: »Die Gage eines Angehörigen dieses Körpers, dem alle Meister, Richard Wagner nicht ausgenommen, den ersten Rang zuerkannten, stand tief unter der Stufe, die heute als Existenzminimum eines Amtsdieners gilt. Eine Aufbesserung erreichten nur diejenigen, welche zugleich eine Stelle in der zum Kirchendienst bestellten Hofkapelle erlangten.« Das Thema der Entlohnung der Opernorchestermitglieder blieb die ganze Orchestergeschichte hindurch heiß umstritten und bildete wiederholt den Gegenstand erbitterter Gehaltsverhandlungen in der Oper und Konflikte mit der Theaterverwaltung, die die Zunahme an Konzerten als schädlich für die Dienstverpflichtungen in der Oper ansah.

Beim ersten Konzert der Wiener Philharmoniker am 28. März 1842 im Redoutensaal zählte das Orchester 64 Mitglieder. Der Almanach für Freunde der Schauspielkunst von 1843 gibt für das Jahr 1842 allerdings eine Anzahl von 70 Musikern im Orchester des »k. k. Hoftheaters nächst dem Kärntnertor« an. Möglicherweise waren nicht alle Stellen besetzt, was durch die Bemerkung des Gründers Otto Nicolai gestützt wird, er habe die Streicher verstärken müssen, indem er sich an »einige andere Künstler aus der Stadt« gewendet habe. Es kann aber auch sein, dass entgegen der Formulierung des Gründungsdekrets, nach der »das sämmtliche Orchester-Personal« beim Gründungskonzert auftrat, einige Musiker der Oper nicht oder nicht sofort zu den Philharmonikern gehörten.

Dies trifft zum Beispiel auf den Geiger Joseph Mayseder zu, einen der wichtigsten Wiener Musiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mayseder, 1789 geboren, war schon im Alter von elf Jahren im Augarten aufgetreten und hatte in Anwesenheit Beethovens im Schuppanzigh-Quartett gespielt, bevor er 1810 Konzertmeister des Hofopernorchesters, 1816 Mitglied der Hofmusikkapelle wurde und 1835 den Titel »kaiserlicher Kammervirtuose« verliehen bekam. Man kann daher vermuten, dass er 1824 bei der Uraufführung der 9. Symphonie von Beethoven am ersten Pult mitwirkte. Bis 1858 erscheint der Name Mayseders ohne Unterbrechung auf den Listen des Opernorchesters mit dem Titel »Solospieler«, und zwar unmittelbar nach den beiden »Orchesterdirektoren« Georg Hellmesberger und Franz Grutsch. Demnach bestand damals noch ein Unterschied zwischen den Konzertmeistern, die nicht selten mit Dirigierverpflichtung vom Pult aus betraut wurden, und den rangniederen Solospielern, denen die Violinsoli zukamen. In den Dokumenten der Philharmoniker scheint Mayseder genauso wenig auf wie in ihrem Mitgliederverzeichnis. Der Komponist von 63 im Druck erschienenen Werken, der für die Eleganz seines Spiels gerühmte Virtuose, der als einer der Pioniere der Wiener Geigenschule gilt (so es sie gibt), muss einen Sonderstatus genossen haben und als Komponist, Kammermusiker und Solist in der Oper zu beschäftigt gewesen sein, um Mitglied der neuen philharmonischen Gesellschaft zu werden. Er war aber sehr wohl beim Gründungskonzert beteiligt, denn er ist es, der das Violinsolo der von der Sopranistin Jenny Lutzer gesungenen Mozart-Arie Non temer, amato bene spielte.

Das Orchester hatte 1842 folgende Besetzung beziehungsweise folgenden Stellenplan: 10 Primgeiger (12 Planstellen in der Oper), 7 Sekundgeiger (10 Planstellen in der Oper), 5 Bratschisten (6 Planstellen in der Oper), 5 Cellisten (6 Planstellen in der Oper), 5 Kontrabassisten (6 Planstellen in der Oper), 1 Harfenist, 3 Flötisten, 3 Oboisten, 4 Klarinettisten, 3 Fagottisten, 6 Hornisten, 4 Trompeter, 4 Posaunisten, 4 Schlagwerker (2 Paukisten und 2 Schlagwerker). Insgesamt sind es 64 Philharmoniker (anstatt 70 gemäß dem Stellenplan der Oper). Damit ist man weit entfernt von der idealen Zahl von 16 ersten Geigen, die sich Nicolai für die Konzerte vorgestellt hatte, desgleichen von den 15 Primgeigern und 15 Sekundgeigern, die in einer Anmerkung aus dem Jahr 1843 erwähnt werden: daher der notwendige Rückgriff auf Substituten für die ersten philharmonischen Konzerte. Im Lauf der 1840er Jahre bemühte sich die Oper, die reale und die im Stellenplan vorgesehene Zahl in Einklang zu bringen: So kam man 1845 auf 67 Mitglieder, durch die Einstellung eines sechsten Bratschisten und eines sechsten Cellisten sowie durch die Schaffung einer Stelle für die Tuba, die damals noch Bombardon hieß. In den Stellenplänen wird der Tubist nicht eigens erwähnt, sondern zusammen mit den Posaunen.

Auch einen Harfenisten gab es erst seit Kurzem: Bis dahin hatte es aufgrund der Seltenheit des Instruments im Opernrepertoire genügt, fallweise externe Musiker heranzuziehen. Doch die zunehmende Häufigkeit der Opern Donizettis, Bellinis und Meyerbeers im Spielplan, in denen es immer mehr Harfensolos gab, rechtfertigte eine feste Stelle. Der Erste auf diesem Posten war der Mailänder Antonio Zamara, ein Star seines Instruments und Gründer der Wiener Harfenschule, die später von seinem Sohn Alfred und seiner Tochter Theresa weitergeführt wurde. Da Meister seines Instruments eine Rarität waren, konnte er ein überdurchschnittliches Gehalt aushandeln. Seine Starallüren und Disziplinlosigkeit wurden allerdings nicht toleriert. Als er am 23. Dezember 1862 unentschuldigt fehlte, rügte ihn die Direktion: »Wo bliebe denn die Ordnung in einem großen Kunstinstitute wie die k. k. Hofoper, wenn jedes Mitglied bloß nach Bequemlichkeit oder freiem Willen handelte?«

Bereits in der ersten Saison der Philharmoniker kam es zu Streitereien, die sich durch die ganze Geschichte des Orchesters zogen, darunter der Konflikt zwischen den Vorrechten des Dirigenten und den Unabhängigkeitsbestrebungen der Musiker. So kam es am 14. November 1843 zu einem heftigen Streit zwischen Nicolai und Solohornist Eduard Lewy, einer wichtigen Stütze des Orchesters. Er konnte sich zwar rühmen, bei der Uraufführung von Beethovens 9. Symphonie das vierte Horn gespielt zu haben, war aber offenbar mit 46 Jahren nicht mehr ganz auf der Höhe seines Könnens. Für das Konzert am 26. November wollte Nicolai ihn austauschen, denn auf dem Programm standen mit dem Rondo Per pietà aus Così fan tutte und der Eroica zwei Werke mit äußerst schwierigen Hornpartien. Der Streit eskalierte derart, dass Nicolai gegen den Hornisten Anzeige erstattete und seinen Rückzug aus dem Komitee und von den philharmonischen Konzerten forderte, indem er sich auf Artikel 13 der im Oktober 1842 beschlossenen Statuten bezog: »Wer sich den Anordnungen des Kapellmeisters oder des Orchester-Directors widersetzt, wird sich dadurch von der Theilname an diesem Unternehmen ausschließen.« An diesem Artikel sollten sich die Geister scheiden, denn er stand zwar in den ersten Statuten des Orchesters, wurde jedoch in der zweiten Fassung 1862 ausgelassen. Lewy schlug vor, an seiner Stelle seinen Sohn Richard spielen zu lassen. Dieser war damals 16 Jahre alt und wäre sofort bereit gewesen, den Platz seines Vaters einzunehmen. Das war der erste Versuch einer dynastischen Besetzungspraxis, die niemals aufgegeben wurde. Nicolai lehnte jedoch ab, worauf der dritte Hornist Eduard König bei dem Konzert die erste Stimme spielte.

Erster Konflikt mit dem Dirigenten

Die Tatsache, dass der Dirigent das letzte Wort behielt, war nicht nur ein Hinweis auf den jähzornigen Charakter Otto Nicolais – Kehrseite seines leidenschaftlichen Engagements –, sondern auch der erste konkrete Ausdruck eines kulturellen Gegensatzes, der sich im Lauf der Geschichte des Orchesters öfter wiederholen sollte: jener zwischen preußischer und österreichischer Mentalität, wie sie nationale Klischees und sozialpsychologische Stereotype konzeptualisiert haben. Nicolai, der Georg Hellmesberger vorwarf, sich von seinem Hornkollegen nicht distanziert zu haben, hatte in der Tat nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem Orchesterdirektor, den er zwar für rechtschaffen und pflichtbewusst, aber als Künstler für zu nachlässig und gemütlich hielt.

Die Demokratie bei den Philharmonikern steckte damals noch in den Kinderschuhen, denn das Komitee stand unter dem Einfluss des Dirigenten. Erst später erkämpften sich die Philharmoniker mehr Unabhängigkeit und wählten aus ihrer Mitte Funktionäre mit genügend Rückgrat, um ihre Entscheidungen durchzusetzen. Ein Vorfall ist typisch für diese ersten Versuche: Als 1843 der Geiger Friedrich Brandstetter starb, schlugen die Philharmoniker vor, den Einnahmeüberschuss aus dem Konzert vom 22. April 1843 seiner Witwe zukommen zu lassen. Aber Nicolai antwortete, das sei seine Entscheidung und nicht die des Orchesters: Tatsächlich zahlte er später dem Bratschisten Mathias Meyer 25 Gulden und 37 Kreuzer aus, damit dieser das Geld der Witwe Brandstetters übergeben konnte. Doch die Beziehungen zwischen Nicolai und den Musikern waren seit dem Vorfall mit Lewy vergiftet.

Als Nicolai 1845 aus gesundheitlichen Gründen Konzerte absagen oder verschieben musste, mischte sich auch die Presse ein. Ein Artikel vom 27. Februar im Spiegel verkündete gar das Ende der philharmonischen Konzerte in Wien und berichtete über die »kleinlichsten Streitereien« zwischen dem Direktor und dem Orchester, dessen Mitglieder als »ungeratene Söhne« präsentiert wurden. In seiner Antwort vom 11. März stellte Nicolai bedauernd fest, eine solche journalistische Darstellung gösse nur Öl ins Feuer, versuchte, die Lage zu entschärfen, und hob wiederholt seine gute Beziehung mit dem »Orchesterpersonal« hervor, an dessen »Spitze er stehe«8. Anscheinend vergaß er bei seiner ungeschickten Formulierung, dass die Mitglieder des Orchesters keine Untergebenen waren, sondern dass er von ihnen gewählt worden war. Die Antwort des Orchesters ließ nicht lange auf sich warten: Der tschechische Solocellist Ägid Borzaga stellte klar, dass der wahre Verantwortliche für die momentane Situation Nicolai sei, der mithilfe seiner Anhänger überall verkünde, das Orchester könne ohne ihn nicht spielen. Das Streben nach Autonomie im Orchester war nicht mehr aufzuhalten. Dafür spricht auch ein weiterer Vorfall im Februar 1845: Nicolai wurde krank und musste darauf verzichten, das März-Konzert zu dirigieren. Zu seinem großen Ärger sagte das Orchester das Konzert nicht ab, sondern spielte unter dem Dirigat Georg Hellmesbergers, der damit seinem Titel als Orchesterdirektor gerecht wurde. Nicolai interpretierte das Geschehen in seinem Tagebuch folgendermaßen: »Auch war das Orchester verbittert, dass die Journale mir, dem Direktor, wegen der Vorzüglichkeit der Philharmonischen Konzerte immer ausschliesslich Weihrauch gestreut hatten, und es wollte beweisen, dass sie, die Mitglieder, die Konzerte eben so gut ohne mich geben könnten.«

2. KAPITEL

Die Holbein-Jahre

Nach den revolutionären Unruhen von 1848/49, in deren Verlauf das Kärntnertortheater seine Pforten schließen musste und seinen Titel als Hofoperntheater verlor, kehrte im Jahr 1850 wieder Ruhe ein. Die Oper wurde unter dem Namen »k. k. Hoftheater nächst dem Kärnthnerthore« wiedereröffnet und erneut der kaiserlichen Verwaltung unterstellt. Direktor war Franz Ignaz von Holbein (1779–1855). Er war 1849 dem italienischen Schneider Carlo Balochino nachgefolgt, der das Theater seit 1836 mit dem Impresario Bartolomeo Merelli gepachtet hatte. Otto Nicolai, der Gründer der Philharmoniker, war am 11. Mai 1849 im Alter von 39 Jahren gestorben. Während die Oper einen Aufschwung an künstlerischer Qualität erlebte, unter anderem 1850 mit der glänzenden Wiener Erstaufführung des Propheten von Giacomo Meyerbeer unter dem Dirigat des Komponisten, stagnierte die Entwicklung des Orchesters, bis 1853 Carl Eckert zum Kapellmeister bestellt wurde. Er erfüllte das philharmonische Unternehmen mit neuem Leben.