KAPITEL 13

Die Arbeit bei Mr Jensen war nicht so schwer wie bei den Goldgräbern. Zwar musste Jarli stets eine Kette um den Hals tragen, aber er sah die Sonne wieder.

Die Zeiten, in denen er unter der Erde und in der Dunkelheit gelebt hatte, gehörten der Vergangenheit an.

Jeden Morgen verrichtete Jarli alle Arbeiten, die anfielen. Er schürte das Feuer, kochte Kaffee, versorgte die Tiere und spannte sie vor den Wagen. Die Kette, die an seinem Hals zerrte, schleifte dabei immer hinter ihm her und war so schwer, dass er nur davon träumen konnte, eines Tages davonzulaufen.

Jensen schlug ihn oft, und es schien ihm Freude zu machen, aber nie ohne Begründung. Bedauerlicherweise fand er besonders im ersten halben Jahr viele Gründe.

Jarli musste noch sehr viel lernen und machte viele Fehler. Jensens Sprache verstand er kaum. Erst nur einige Worte, doch da der Mann einsam war und viel redete, wurden es bald mehr und mehr.

Zur Trockenzeit konnte Jarli sich bereits mit ihm unterhalten. Sie hatten das Lager der Goldsucher weit hinter sich gelassen, und so sehr sich Jarli auch anstrengte, den Weg hatte er sich nicht merken können. Nur von dort würde er zu seiner Sippe zurückfinden. Hier war alles fremd. Er wusste nicht, welche Menschen hier lebten, wer dieses Land hütete. Er kannte die Lieder nicht, weder die der Bäume noch die der Felsen und Wasserlöcher, nur manche Tiere waren ihm vertraut.

Es war die heißeste Zeit des Jahres und beinahe Mittag. Geblendet vom Licht lief Jarli an seiner Kette neben dem Wagen her, immer wieder fielen ihm die Augen zu. Aber das war nicht schlimm, die Kette leitete ihn, das war das einzig Gute an ihr.

Jensen spielte schon seit einer Weile auf seiner Mundharmonika, während die Pferde den kaum erkennbaren Radspuren hinterhertrotteten, die hier den Weg ausmachten. Die Musik des bleichen Mannes erschien Jarli noch immer höchst merkwürdig. Ob er auf diese Weise mit den Geistern seiner Ahnen kommunizierte? Hörten sie ihn überhaupt?

Ihre Gräber lagen angeblich sehr weit fort, hinter einem endlosen Wasser. Ebenso verhielt es sich mit dem Ort, an dem Jensen geboren worden war.

Jarli dachte an den Ort seiner eigenen Geburt zurück. Er lag am Meer unter einem Felsen, auf den die Ahnen Dingos gemalt hatten. Zwei rotbraune Tiere, mit aufgerichteten Ohren und hochgereckten Schwänzen, die nach Osten und Westen schauten, als hielten sie Wache. Weiße Linien umgaben ihre Körper wie Geisterlicht. Seine Mutter hatte die Dingos angesehen, als sie Jarli gebar, und in der Ferne heulte einer von ihnen. So wussten sie, dass der Dingo das Totemtier des Neugeborenen war, und nicht die Schildkröte seiner Mutter oder der Waran seines Vaters. Jarli durfte niemals einem Dingo schaden oder sein Fleisch essen, aber das wollte er auch nicht.

Vom Ort seiner Geburt war seine Sippe weit gelaufen, bis zu dem Ort, wo seine Nabelschnur abfiel. Das geschah an einem Wasserlauf, der niemals austrocknete. All das Land dazwischen war nun seins, er war der Hüter und Jäger, und eigentlich sollte er die Lieder jedes Baums und jedes Felsens kennen, doch statt sie von Großvater zu lernen, war er nun hier und musste fremden Melodien zuhören.

Jarli meinte schon, ihre geheimnisvolle Wirkung zu spüren, als Jensen plötzlich innehielt und das Zauberlied abbrach.

„Hey, Junge“, rief er ihn und schlug dabei die Mundharmonika auf sein Knie. Das tat er immer, wenn er aufhörte zu spielen, wie um die letzten Töne aus den Kammern des Instruments zu lösen und in die Freiheit zu entlassen.

Jarli lief etwas schneller, bis er auf gleicher Höhe mit dem Kutschbock war, und sah seinen Herrn fragend an. Er hoffte, er hatte nichts falsch gemacht, und überlegte sofort, wann ihm ein Fehler unterlaufen sein könnte.

„Bist du müde, Junge?“

Jarli schüttelte den Kopf. Er war es wirklich nicht, aber es mochte so aussehen, denn die Erinnerungen stürmten auf ihn ein und drückten ihn nieder wie eine viel zu schwere Last.

„Wirklich nicht? Komm, setz dich zu mir, du wiegst nicht viel mehr als eine Fliege, und der Karren ist halb leer.“ Er klopfte auf das Holz der Kutschbank.

Jarli schluckte mit trockener Kehle. Das hatte er noch nie gedurft. Und er war sich auch nicht sicher, ob er auf einem seltsamen Konstrukt wie diesem sitzen sollte. Vielleicht war es nicht gut, wenn seine Füße den Kontakt zum Boden verloren, vielleicht würde das Land ihn danach nicht mehr wiedererkennen. Er würde die Träume der Erde nicht verstehen und …

„Komm, sage ich.“ Jensens Blick war deutlich. Seine freundliche Einladung ein Befehl.

Schnell kletterte er über den Tritt hinauf und setzte sich. Es fühlte sich nicht allzu merkwürdig an, obwohl er sich fortbewegte, ohne selbst zu gehen. Er kratzte sich unter der Kette am Hals, die in der Sonne ganz heiß geworden war.

Jensen musterte ihn nachdenklich, dann trieb er mit einem Schnalzen die Pferde an.

Es war Jarli immer noch ein Rätsel, warum die großen Wesen sich von den Menschen benutzen ließen, ohne sich zu wehren. Dann dachte er wieder an sich selbst und wurde im Inneren ganz still. Ich bin auch dumpf und stumm geworden, genau wie die Pferde.

Aber wo sollte er auch hin, wenn es ihm gelingen würde, fortzulaufen? Wie sollte er heimfinden, wenn das Land nicht zu ihm sprach, wenn er die Lieder nicht kannte, mit dem es in der Traumzeit in die Welt gesungen worden war?

Wieder kratzte er sich gedankenverloren am Hals und sah mit zusammengekniffenen Augen auf die hitzeflirrende Wüste.

„Glaub nicht, dass ich dir auch noch die Kette abnehme, Junge. Ich bin nicht dumm. Du wärst sofort auf und davon, das kann ich dir ansehen.“

Jarli antwortete nichts. Womöglich konnten die bleichen Fremden Gedanken von Menschen und Tieren lesen, und das war der Grund, warum kein Wesen gegen sie aufbegehrte.

***

Jeff fiel ohne einen einzigen Schmerzenslaut. Er kippte einfach nach hinten und regte sich nicht mehr. Direkt über seinem Herzen verfärbte sich der Stoff seines Hemdes dunkelrot.

Ernest legte die Hand auf Jeffs Arm und sah ihm so lange in die Augen, bis das Licht darin brach.

Der letzte Angreifer hatte sich aus dem Staub gemacht, mit nichts als seinem eigenen Leben.

Nun war alles still. Der Lärm der Schüsse hatte die Vögel zum Schweigen gebracht. Einzig der Wind, der in die Äste der Akazie fuhr und sie mit glühenden Fingern strich, war beständig und leise.

Ernest konnte den Flüchtigen rennen hören und dann, als er sein Pferd erreicht hatte, wie er davongaloppierte.

Es war also wirklich vorbei. Langsam stand er auf, das Gewehr fest umklammert. Seine Finger kribbelten von den Rückstößen der Schüsse. Er fühlte sich wie betäubt. Jeff war tot, und auch Daku rührte sich nicht mehr. Erdrückt von seinem eigenen Pferd.

Ernest stolperte an den Kisten und Gepäckstücken vorbei, die als Barriere gedient und die meisten Kugeln abgefangen hatten. In der Luft lag der Geruch von Spiritus und Blut. Fliegen summten über den Lachen. Zwei Pferde lagen wie riesige, zerbrochene Spielzeuge da, die Beine, eines davon zerschmettert, von sich gestreckt. Noch mehr Blut. Überall war es.

Ernest fasste sich an den linken Oberarm. Nass und glitschig war der Stoff, den Schmerz spürte er nicht, noch nicht.

„Gott, hilf mir!“, stieß er hervor. Er, der nie betete, sich nichts von einer höheren Macht erhoffte.

Jetzt musste er Florence finden. Wenn sie ebenfalls tot war, dann würde er mit der letzten Kugel auch seinem Leben ein Ende setzen.

Seine Hände zitterten. Der Finger, mit dem er wieder und wieder den Abzug gedrückt hatte, zitterte.

Zwei Männer hatte er getötet. Sie lagen nicht weit von ihm, doch er konnte nicht hingehen, brachte es nicht über sich, ihnen in die Gesichter zu sehen. Später vielleicht, wenn er Florence gefunden hatte und sicher war, dass es ihr gut ging.

Aber nicht jetzt, sonst würde er womöglich nicht die Kraft haben, weiterzugehen.

Er wusste noch genau, zwischen welchen Felsen Tom und Florence verschwunden waren. Wenn der Junge sich an seine Anweisung gehalten hatte, würde er sie bei dem Hügel finden, der wie ein Schildkrötenpanzer aus dem sonst fast flachen Land ragte.

Auf jedes Geräusch achtend, lief er weiter. Das Labyrinth aus Felsen und Termitenhügeln bot viele mögliche Wege. Ernest konzentrierte sich auf den Boden. Florence‘ Spur war leicht zu finden. Hufabdrücke verwischten sie ab und zu, aber er fand sie schnell wieder.

Dann überlief ihn plötzlich ein Frösteln. In seinem Körper reagierte etwas, schon bevor er den Geruch zwischen den sonnengewärmten Felsen bewusst wahrnahm. Metallisch und angsteinflößend.

„Florence?“ Ernest rannte los und stolperte beinahe über die Beine eines Mannes.

Der Tote lehnte an einem Termitenhügel. Die winzigen Insekten schwärmten über sein völlig zertrümmertes Gesicht. Sein strohblondes Haar war rot verklebt. Auch in seinem Oberkörper waren zahlreiche Wunden. Der Boden war aufgewühlt, unzählige Spuren trafen hier aufeinander. Ernest wurde flau im Magen. Was war hier geschehen? Hatte Tom den Blonden so zugerichtet? Was für einer Bestie hatte er seine Frau nur anvertraut? Unwichtig. Sie waren entkommen, und beide standen noch auf eigenen Beinen.

Er folgte Blutstropfen, die jedoch bald versiegten. Aber die Fußspuren waren Hinweis genug.

Einen weiteren Verfolger schien es nicht zu geben. Ernest atmete auf und begann zu rennen.

Schließlich stand er am Fuß des Felsens und war ratlos. An dieser Stelle ragte die Wand beinahe senkrecht vor ihm auf. Weiter im Osten wurde es flacher. Er würde es da versuchen. Dort gab es auch Buschwerk und verkrüppelte Bäume, die in Spalten wuchsen und einen Aufstieg erleichtern würden.

Eine Höhle.

Ganz deutlich konnte er sie als dunkle Öffnung erkennen. Wie das schräge Maul eines Fisches, der nach Luft schnappte, verlief sie aufwärts. Dort mussten sie sein. Er war sich ganz sicher. Fühlte es.

Nun konnte ihn auch die schier unerträgliche Hitze nicht mehr aufhalten. Seine Kleidung klebte ihm schweißnass am Leib, während er sich hastig an den Aufstieg machte. Ihm schwindelte, aber er hielt nicht inne. Die Höhle kam mit jedem Schritt näher. Schließlich zerrte er sich an einem knorrigen Busch über einen Grat, dann trat er in das kühle Dunkel.

Geblendet von der Sonne, sah er einen Moment lang nichts außer gleißend hellen Punkten, die in der Schwärze tanzten.

In seinen Ohren hämmerte der Puls, er schwankte und musste sich auf sein Gewehr stützen.

„Ernest?“

Sobald er ihre Stimme hörte, verließen ihn seine letzten Kräfte, und er sank keuchend auf die Knie.

„Du lebst?“

Florence lief auf ihn zu, er sah sie nur als hellen Schemen, dann hielt sie plötzlich inne und stolperte zurück.

***

Florence musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen, so sehr war sie von Ernests Anblick entsetzt. Sein Gesicht war voller Blut, ebenso sein linker Arm und beide Hände. Er sah aus, als sei er ihrem schlimmsten Albtraum entstiegen.

„Was … was ist passiert?“, stotterte sie.

„Sie sind alle tot.“ Ernest ließ sein Gewehr fallen, und das Geräusch hallte tausendfach in der Höhle wider.

„Wer ist tot?“

„Die Angreifer, und auch Jeff und Daku, ich konnte nicht …“

Ernest schwankte. Er schien den Horror nicht begreifen zu können, den er mit eigenen Augen gesehen hatte. Der waidwunde Blick riss Florence endgültig aus ihrer Starre. Sofort war sie bei ihm und wollte ihn in die Arme schließen. Doch dann hielt sie inne. All das Blut … wie viel war von ihm, wie viel von den Angreifern?

Sie berührte seine Wange. „Bist du verletzt?“

Er schloss die Augen und drückte ihre Hand fest an sein Gesicht. „Ich weiß es nicht. Nicht sehr schlimm.“

Einige Herzschläge lang verharrten sie so. Florence wurde klar, wie kurz davor sie gewesen war, ihn zu verlieren, ohne ihn je wirklich kennengelernt zu haben. Es tat überraschend weh. Und dieser Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus und raubte ihr einen Augenblick den Atem.

Ernest zog sie an sich und drückte sie so fest, dass die Angst langsam schwand. Er roch nach Blut und Schweiß und staubiger Erde, doch all das kümmerte sie nicht. Sie war nicht allein in dieser Wüste am anderen Ende der Welt.

„Glaubst du, sie kommen wieder?“, fragte sie schließlich.