Holger Krauße
Religion im Faktencheck
Der Autor
Holger Krauße, Jahrgang 1968, ist Diplom-Kaufmann und stammt aus Köln. Er war er in verschiedenen Positionen in der Kreditwirtschaft mit den Schwerpunkten Produktmanagement und strategische Projekte tätig und gründete 2010 das Modelabel padmera. Derzeit arbeitet er für eine große deutsche Retailbank. Holger Krauße lebt in Königswinter.
Religion im Faktencheck
Wie vernünftig ist der Glaube?
Tectum Verlag
Holger Krauße
Religion im Faktencheck. Wie vernünftig ist der Glaube?
© Tectum Verlag – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017
ISBN: 978-3-8288-6713-0
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3945-8 im Tectum Verlag erschienen.)
Umschlagabbildung: shutterstock.com © HorenkO
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
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Für C.
Religion ist die fortgeschrittenste Weltanschauung.
Leo Tolstoi
Die Religion ist doch nichts als der Schatten, den das Universum auf die menschliche Intelligenz wirft.
Victor Hugo
Wahrheit ist eines, die Gelehrten benennen sie verschieden.
Rgveda I.164.46
Inhalt
1Einleitung: Zur Bedeutung der Gottesfrage
2Am Anfang war das Wort: Definition und Erläuterung zentraler Begriffe
3Vernunft versus Glaube: Die Gottesbeweise und ihre Alternativen
3.1Grundsätzliches zu Wahrscheinlichkeit und Plausibilität
3.2Logikbasierte Gottesbeweise
3.2.1Gott als erste Ursache: Der kosmologische Gottesbeweis
3.2.2Wirken durch Ordnung: Der teleologische Gottesbeweis
3.2.3Gott kann nur existierend gedacht werden: Der ontologische Gottesbeweis
3.2.4Gott als Postulat der praktischen Vernunft: Der moralische Gottesbeweis
3.2.5Verbreitung als Beleg: Der ethnologische Gottesbeweis
3.3Gottesbeweise durch Offenbarung
3.3.1Heilige Schriften
3.3.2Schönheit, Liebe und Natur
3.2.3Gotteserfahrung
3.2.4Wunder und göttliches Wirken
3.4Glaube versus Wissenschaft: Die Unmöglichkeit von Gottesbeweisen
3.4.1Glaube als eigener Wert
3.4.2Kein Beweis des Gegenteils
3.4.3Wissenschaft und Religion als unterschiedliche Kategorien
3.5Gottesbeweise: Zusammenfassung
4Quod esset demonstrandum: Plausibilität zentraler Institute von Religionen
4.1Träger der Person: Die Seele
4.2Menetekel oder Silberstreif: Das Jenseits
4.3Voraussetzung individueller Verantwortlichkeit: Der freie Wille
4.4Kommunikation mit dem Übernatürlichen: Gebete und Riten
5Ecce Homo: Die Gott-Mensch-Beziehung
5.1Anthropozentrismus der Religionen
5.2Der Mensch als Spielfigur?
6Es kann nur einen geben: Der religiöse Absolutheitsanspruch
6.1Ewigkeits- und Wahrheitsanspruch
6.2Widersprüche zum Absolutheitsanspruch
6.2.1Historische Entwicklung von Religionen
6.2.2Exklusivität des Glaubens
6.2.3Klarheit der Heiligen Schriften
6.3.4Religionsvielfalt
7Jenseits von Gut und Böse? Das Theodizee-Problem
8Religion und Glaube: Eine Kosten-Nutzen-Rechnung
8.1Grundsätzliches
8.2Trost und Hoffnung versus Furcht und Fatalismus
8.3Identifikation und Zusammenhalt versus Isolation und Hybris
8.4Werte- und Sinnstiftung versus Fanatismus und Verbrechen
8.5Soziales Engagement versus Eigeninteressen
8.6Gesellschaftlicher Fortschritt versus Beharren und Unterdrückung
8.7Kunstschätze versus Kosten
8.8Praktische Folgen der Religiosität für das Individuum
8.8.1Sind religiöse Menschen bessere Menschen?
8.8.2Sind religiöse Menschen glücklichere Menschen?
9Was nun? Fazit und Konsequenzen
9.1Die Plausibilität von Gotteshypothese und Religionen
9.2Konsequenzen für den Einzelnen
9.3Erziehung und Schutz von Minderjährigen
9.4Meinungsfreiheit und Respekt
9.5Religionsneutrale Politik: Die Nivellierung der Religionsfreiheit
9.5.1Der Grundsatz evidenzbasierter Politik
9.5.2Die Nichtanerkennung und Berücksichtigung religiöser Inhalte
9.5.3Die Nivellierung der Religionsfreiheit
Nachwort von Vera Lengsfeld
Danksagung
Literaturverzeichnis
Quellennachweise/Anmerkungen
1Einleitung: Zur Bedeutung der Gottesfrage
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schien der Weg in ein postreligiöses Zeitalter vorgezeichnet. Bildung und wissenschaftlicher Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit vor existenziellen Bedrohungen nagten an Botschaft und Nutzen des Glaubens. Das Narrativ der Sozialwissenschaften sah „die soziale Relevanz von Religion und Kirche abnehmen und religiöse Weltsichten mehr und mehr durch wissenschaftlich fundierte, rationalisierte, säkulare Weltdeutungen ersetzt.“1 Zu Beginn des neuen Jahrtausends mehrten sich dann jedoch Stimmen, die eine Renaissance des Religiösen zu erkennen glaubten. So behauptete 2005 der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber, es gebe „kaum einen kulturellen oder gesellschaftlichen Bereich, in dem man nicht Zeichen für eine Wiederkehr des Religiösen beobachten“2 könne. Inzwischen gehört es zum guten Ton, sich von Theorien, die einen gesellschaftlichen Bedeutungsrückgang von Religion und Kirche postulieren, abzugrenzen und sie als eindimensional, deterministisch und fortschrittsgläubig abzutun.3
Beide Diagnosen offenbaren einen bemerkenswert eingeschränkten Blickwinkel. Denn unbeeindruckt von der Diskussion im Feuilleton hat die Religion in weiten Teilen der Welt ihre Stellung behauptet. Die Bedeutung des Hinduismus und des Buddhismus in Süd- und Südostasien ist ebenso ungebrochen wie die des Christentums in Nord- und Südamerika und die des Islam im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika. Ernsthaft gefährdet war sie nie.
Was man für eine Wiederkehr des Religiösen halten wollte, war vielmehr das Erstarken konservativer Strömungen, die sich gleichwohl schon lange vor der Jahrtausendwende bemerkbar gemacht hatten. Die US-amerikanischen Evangelikalen Kirchen bauen ihren Einfluss in Südamerika und Afrika aus. Die Politik Indiens wird zunehmend von der immer radikalere Töne anschlagenden nationalistischen Hindu-Partei BJP dominiert. Und in noch stärkerem Maße beobachten wir Veränderungen in der islamischen Welt. Die islamische Revolution im Iran, die sowjetischen Invasion Afghanistans, die unglücklichen Interventionen der USA, aber vor allem die Finanzierung radikaler Gruppen durch Staaten am Persischen Golf haben nicht nur den islamisch motivierten Terrorismus geboren, der sich von den Abu-Sayyaf auf den Philippinen über Taliban, Al-Qaida, Islamischen Staat, Hisbollah und Hamas bis zu den nigerianischen Mördern der Boko Haram erstreckt, sondern auch einer allgemein konservativeren Auslegung den Boden bereitet. Waren Ägypten und Pakistan in den Sechzigerjahren noch Länder, in denen kaum eine Muslimin ein Kopftuch trug, sieht das Straßenbild heute völlig anders aus. Auch die Türkei arbeitet unter dem Betreiben der AKP nicht erst seit dem verhinderten Putsch vom Juli 2016 an der Abwicklung der von Kemal Atatürk etablierten säkularen Ausrichtung des Staates.
Im „Westen“ hingegen fällt es schwer, einen Aufschwung originärer Religiosität festzustellen. Ein Zulauf zu den christlichen Kirchen ist, abgesehen von den Wohlfühl-Events der Kirchentage, nicht erkennbar. Zwar wird die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens weiter gestellt, aber weniger im Sinne der „Ist das alles?“-Suche nach einer transzendenten Wahrheit, gefragt wird vielmehr ganz praktisch: „Was macht mein Leben sinnvoll, lebenswert, lohnend?“ Die weiterhin existierenden religiösen Bedürfnisse werden durch eine individualisierte, subjektivierte, nutzenorientierte Religion ersetzt, die für wünschenswert gehaltene Elemente des Glaubens herausgreift und alltagstauglich umsetzt oder als Utopie für moralische Standards folgenlos bewundert. Alternativ bieten politische und in ihrer Charakteristik in vieler Hinsicht religionsähnliche Natur- und soziale Ideologien wie die übersteigerten und aggressiven Formen des Multikulturalismus, Veganismus oder „Ökologismus“ Substitute für Teile einer sich als aufgeklärt und progressiv verstehenden urbanen Bevölkerung, die auf den Mix von Buße und Verzicht einerseits und moralischer Selbstüberhöhung andererseits nicht verzichten wollen.
Gleichwohl hat die Dynamik des Islam Politik und Gesellschaft in Europa stark beeinflusst und vielleicht nirgendwo mehr als in Deutschland. Zum einen sehen wir auch in Deutschland eine stärkere Orientierung der islamischen Bevölkerung an konservativeren Werten. In Schulen werden Mädchen ohne Kopftuch immer häufiger von ihren Glaubensschwestern angefeindet. Salafisten verteilen Korane in den Innenstädten. Und bei großen Teilen auch der deutschen Muslime findet sich eine Zustimmung zur Scharia und zu einem Vorrang des Glaubens vor weltlichen Gesetzen.4 Zum anderen beobachten wir eine zunehmend fordernde Haltung der konservativen, nicht unbedingt die Mehrheit der Muslime vertretenden, aber als Gesprächspartner der Politik beliebten Islam-Verbände5 und in deren Kielwasser auch der christlichen Kirchen. Die Einmischung vor allem der evangelischen Kirche in tagespolitische Fragen im Rahmen der sogenannten Öffentlichen Theologie6, die künstliche Differenzierung zwischen Islam und Islamismus, eine verschwenderische Verwendung des Kritik pathologisierenden Kampfbegriffs der Islamophobie7 und die Forderung nach vorbehaltlosem Respekt vor dem Glauben, verbunden mit einer Instrumentalisierung und politischer Legitimierung von Beleidigtsein und vorgeblichem Opferstatus bestimmen den öffentlichen Diskurs. In einer unheiligen Allianz aus islamischen und kirchlichen Lobbys mit kulturrelativierenden Teilen von Presse und Politik wird, mit einigem Erfolg, versucht, Religion sakrosankt zu machen und der Kritik zu entziehen. Wenn Spitzenpolitiker es als Chance deklarieren, dass Deutschland mit der steigenden Zahl von Zuwanderern religiöser wird,8 Befürchtungen über eine „Islamisierung“ mit der in Syrien, Pakistan und anderswo nicht allzu erfolgreichen Strategie entgegentreten, „mal wieder in den Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein“9, oder vermeinen, ihre Aufgaben würden nicht vom Grundgesetz oder von den Bürgern bestimmt, sondern vom „Herrgott“10, dürften dies nicht nur Atheisten bedenklich finden. Solche Entwicklungen sprechen allerdings weniger für eine genuine Re-Religionisierung oder eine stärkere spirituelle Orientierung der Gesellschaft, sondern für eine Mischung aus Naivität und Missbrauch religiöser Formeln für eigene Interessen.
In dieser Gemengelage von Relativismus und Durchsetzung von Interessen wird jedoch eine Frage gar nicht mehr gestellt: die nach der Wahrheit der Gotteshypothese und damit der Religionen. Dies ist aber essenziell. Denn die Legitimität religiös begründeten oder Religion berücksichtigenden Handelns hängt unmittelbar von der Antwort auf diese Frage ab. Ignoriert man sie, wird Religion wie eine beliebige Ideologie zum utilitaristischen Mittel für politische Zwecke. Gerade weil die Folgen eines religiös motivierten oder beeinflussten Handelns auch Freiheit und Vermögen Anders- oder Nichtgläubiger betreffen, kann auf ein klares Bild in diesem Punkt nicht verzichtet werden. Der Beantwortung dieser Frage scheinen sich Politik und Religionen allerdings entziehen zu wollen.
Vor diesem Hintergrund sind die Stimmen von Religionskritikern, säkularen Humanisten und Atheisten vernehmlicher geworden. Der britische Biologe Richard Dawkins schrieb mit „The God Delusion“ (Der Gotteswahn) eines der einflussreichsten Bücher unserer Zeit, das insbesondere das fundamentalistische Christentum aufs Korn nahm. In Deutschland sorgte 2014 der deutsch-ägyptische Historiker und Soziologe Hamed Abdel-Samad mit „Mohamed. Eine Abrechnung“ für Aufsehen. Diese leidenschaftlichen und zuweilen polemischen Bücher haben zu heftigen Reaktionen geführt, die zeigen, wie schwierig es weiterhin ist, das Thema auch nur in angemessener Höflichkeit zu diskutieren. Während sich Dawkins immerhin nur verbaler Attacken zu erwehren hat, führte eine Todesfatwa gegen Abdel-Samad, ähnlich jener gegen den Romancier Salman Rushdie, dazu, dass er seither an wechselnden Orten und unter Polizeischutz leben muss.
Dennoch und erfreulicherweise haben Werke wie die genannten dazu geführt, dass über das Thema Religion, ob mit oder ohne politischen Hintergrund, auf breiter Basis im Web und in Podiums- und TV-Diskussionen debattiert wird. Internet und soziale Medien haben Menschen jeglicher religiöser Prägung Zugang zu Information und unzähligen Diskussionsforen verschafft; Religiöse aller Couleur, Agnostiker und Atheisten finden Gleichgesinnte – und Gegner. Dass es im Netz nicht immer um sachliche Debatten und ehrenwerte Wahrheitsfindung geht, sondern oft genug um Diffamierung und Propaganda, unterscheidet das Thema nicht von anderen. Auch sind öffentliche oder TV-Debatten schon formatbedingt ungeeignet, die Frage der Religion abschließend zu erörtern oder gar die Teilnehmer zur Revision ihres Denkens zu bewegen, und häufig gleiten sie in Details wie die Kopftuchfrage oder das kontextfreie Vorhalten einzelner Stellen Heiliger Schriften ab. Statt sich allerdings über Fragen katholischer Sozialmoral, protestantischer Friedensethik oder die Interpretation einzelner Koranverse zu unterhalten, wäre es weitaus sinnvoller, zunächst die Grundlagen des Glaubens umfassend und ohne Scheuklappen zu untersuchen. Denn ohne ein klares Bild darüber, wie stichhaltig die Gotteshypothese ist und wie viel Wahrheit in Religionen steckt, sind solche Debatten nicht wertvoller als eine Unterhaltung über die spirituellen Inhalte von Star Trek.
Doch bedarf es nicht einmal des Nutzens für politische und gesellschaftliche Entscheidungen, um sich mit dem Thema zu befassen. Die Frage nach Gott ist eine, die zu stellen und für sich zu beantworten ein jeder Mensch unternehmen sollte. Denn es geht schließlich um die Ewigkeit. Glück und Leid unseres kurzen Lebens verblassen in ihrem Schatten. Falls ein Jenseits in eben dieser Ewigkeit existiert und wir unseren Status darin durch unser Denken und Handeln im diesseitigen Leben determinieren, kann es keine wichtigere Frage geben als jene, welches Denken und Handeln in diesem Sinne vorteilhaft wäre. Ganz gleich, ob Paradies und Nirwana winken oder die ewige Verdammnis droht: Nichts könnte bedeutender sein, als Klarheit darüber zu erlangen, wie man das eine erreicht und das andere vermeidet.
Antworten darauf geben die Religionen. Dies erfolgt meist in Verbindung mit dem Postulat der Existenz eines oder mehrerer Götter oder zumindest einer gottähnlichen Ordnung, welche Quelle der jeweiligen Handlungsanweisungen und verantwortlich für die Umsetzung der Konsequenzen sind. Hierbei bestehen jedoch zwei Herausforderungen. Zum einen ist die Grundsatzfrage nach der Existenz von Göttern oder Göttlichem sowie von Entitäten wie der des Jenseits oder der Seele zu klären. Ohne sie wäre ein darauf basierender Glaube gegenstandslos. Zum anderen unterscheiden sich, trotz mancher Gemeinsamkeit, die Strukturen, Erklärungsmuster und Regelwerke der einzelnen Religionen erheblich, ja sind miteinander unvereinbar. Selbst innerhalb einer Religion bestehen häufig gravierende Unterschiede in der Auslegung. Da demokratische Prinzipien in Wahrheitsfragen nicht gelten, sind auch Mehrheitsmeinungen, wenn sie in einzelnen Fragen denn existieren, kein Indiz für die wahre Lehre. Will man also nicht den bequemen Weg gehen, der Wahrheit ihren Exklusivcharakter abzusprechen und anzunehmen, dass diese in verschiedenen, ja sogar in einander widersprechenden Lehren gleichermaßen in Erscheinung trete,11 ist das Risiko, einer Irrlehre zu folgen, enorm.
Dem Unterfangen, sich mit diesen Fragen grundsätzlich auseinanderzusetzen, scheinen sich jedoch nicht allzu viele Menschen stellen zu wollen. Selbst dort, wo sich, wie in Deutschland, viele Menschen von der organisierten Religion abwenden, hat dies häufiger mit finanziellen Erwägungen oder inhaltlichem Dissens und Missbehagen zu tun als mit einer bewussten Negierung Gottes selbst. Dies allein auf die Überzeugungskraft der Religionen oder des Gottesgedankens an sich zurückzuführen, wäre allerdings gewagt. Schließlich werden Menschen in weiten Teilen der Welt nachhaltig durch eine religiöse Erziehung prägt: Ein im Kindesalter vermitteltes und tief verankertes, geschlossenes Weltbild (und damit auch die Autorität der Eltern) infrage zu stellen, erfordert mehr als eine beiläufige Anstrengung. Hinzu kommt, dass in religiösen Gesellschaften ein kritischer Umgang mit der vorherrschenden Religion regelmäßig mit beträchtlichen sozialen, rechtlichen, monetären und ggf. gesundheitlichen Nachteilen verbunden ist. Zudem gibt es ja auch handfeste Vorteile des Glaubens, die einer fairen Auseinandersetzung mit dem Thema entgegenstehen, etwa beim Umgang mit Schuld, Leid oder bei der Suche nach „Sinn“, und natürlich weniger hübsche Gründe wie Selbstdarstellung und moralische Aufwertung der eigenen Person durch demonstrative Frömmigkeit. Ventil für jene, die sich dennoch Fragen stellen, aber nicht auf die Religion an sich verzichten möchten, sind dann oft die Reduktion der Religion auf das Niveau von Brauchtum und Folklore (wie etwa das Weihnachtsfest oft weniger spirituellen als den Charakter eines Familienfestes hat) oder die Auflösung von Widersprüchen und unangenehmen Seiten durch die Konstruktion einer individuell-subjektiven Religion, die vornehmlich als positiv empfundene Elemente Heiliger Schriften aufnimmt und unangenehme Vorschriften ignoriert – zweifellos Maßnahmen, die in streng religiösen Umfeldern ungleich schwerer umzusetzen sind. Dieses Buch kann keinen Menschen motivieren, sich mit seiner Religion auseinanderzusetzen. Es kann eine solche Auseinandersetzung jedoch, wenn sie durchgeführt wird, strukturieren, versachlichen und so entscheidend erleichtern.
„Religion im Faktencheck“ möchte sich der Herausforderung stellen, die Plausibilität der Gotteshypothese und weiterer zentraler Grundlagen von Religionen umfassend, effizient und fair zu beleuchten.
Umfassend meint, das Thema in hinreichender Breite und Tiefe zu behandeln, also alle charakteristischen Argumentationen für die Existenz Gottes und zentrale Bestandteile und Ansprüche der Religion, aber auch mögliche typische Widersprüche anzusprechen. Dabei sollen grundsätzlich alle Religionen einbezogen werden. Auch wenn die sogenannten Weltreligionen aufgrund ihrer rein faktischen Bedeutung natürlich im Vordergrund stehen, sollen die Erkenntnisse auch auf jeglichen anderen heute noch praktizierten oder verschwundenen Glauben übertragbar sein.
Effizient beschreibt den Anspruch, Fragen so knapp und fokussiert wie möglich zu behandeln. Es sollen also Grundsatzfragen erörtert werden; auf eine rasch ausufernde und den Blick vom Wesentlichen ablenkende Auseinandersetzung mit den inneren Widersprüchen und Merkwürdigkeiten einzelner Religionen im Detail wird verzichtet. Es mag eine intellektuelle Herausforderung sein, das Wesen der Dreifaltigkeit oder der Transsubstantiation zu ergründen oder über den Kanon Heiliger Schriften zu disputieren. Doch lenken diese Fragen vom Wesentlichen ab – sie sind ja überhaupt erst dann sinnvoll, wenn eine vorangegangene Analyse die Existenz eines Gottes als wahrscheinlich ausweist und eine Religion mit hinreichender Klarheit als wahr identifiziert wurde.
Fair bedeutet, an das Thema so gut es geht unvoreingenommen und ergebnisoffen heranzugehen. Das verlangt die Bereitschaft und den Willen, die Argumentation von Theologen und ihrer Gegenspieler zu verstehen, korrekt darzustellen und nach denselben Grundsätzen zu bewerten. Wir folgen also weder der Maxime Nietzsches12,
„Was ein Theologe als wahr empfindet, das muss falsch sein: man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit“13,
noch jener Flauberts14, der meinte:
„Ein wenig Wissen entfernt vom Glauben, sehr viel führt zum Glauben zurück.“15
Angesichts der Diversität von Auslegungen heißt fair auch, nicht jede historische oder aktuelle Entgleisung als charakteristisch für eine Religion zu betrachten, ohne jedoch alles zu relativieren, was etwa Prediger im Format von Joyce Meyer16, Zakir Naik17 oder Sunday Adelaja18 sagen. Und es beinhaltet, jene Maßstäbe der Logik einheitlich anzusetzen, die sich auch bei der Untersuchung anderer Fragen und Problemkreise als nützlich und effektiv erwiesen haben, und nicht das Feld der frommen Spekulation zu betreten, sondern das Mittel der Vernunft zu nutzen.
Wir gehen dabei von der Position des metaphysischen Realismus aus, d.h. von der Überzeugung, dass es eine von unserem Denken und Empfinden unabhängige Wirklichkeit gibt. Hieraus folgt, dass es letzten Endes nur eine richtige Theorie bzw. Beschreibung der Wirklichkeit gibt. Andernfalls wäre die Wahrheit nicht erkennbar und jedes Reden darüber eitel.19 Es wird allerdings nicht vorausgesetzt, dass eine Religion diese Wahrheit vollständig und in jeder Hinsicht korrekt wiedergeben muss.
Wie wollen wir dabei vorgehen? Nach einer Begriffsbestimmung betrachten wir zunächst die klassischen Wege, die Existenz Gottes zu beweisen, und setzen uns dann mit der Gegenposition auseinander, dass ein solcher Beweis weder möglich noch erwünscht sei. Anschließend untersuchen wir die Plausibilität zentraler Bestandteile von Religionen, wie der Seele, des Jenseits und des freien Willens, ordnen den Anthropozentrismus und den Absolutheitsanspruch von Religionen ein und widmen uns dann der Gerechtigkeit und Güte Gottes. Abschließend wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob Religion und Gottesglaube unabhängig von ihrer inneren Wahrheit insgesamt vorteilhaft sind, und Konsequenzen aus unseren Erkenntnissen für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Politik ziehen.
Auf den müßigen Versuch, zu beweisen, dass es Gott nicht gibt, wollen wir verzichten. Ebenso wenig sollen Ursachen und Gründe für Religionen außerhalb des Glaubens untersucht werden. Ob Glaubensvorstellungen weniger von Gott als vielmehr von „den Hoffnungen und Befürchtungen entstammen, die den menschlichen Geist antreiben“, wie David Hume20 glaubte, ob Religion lediglich eine „Projektion menschlicher Gedanken, Ideale und Beziehungen ist“ (Feuerbach21), bestimmte Funktionen in einer Klassengesellschaft erfüllt (Marx), sich aus unterdrückten und unbewussten Wünschen speist (Freud) oder evolutionäre Vorteile bietet, oder ob mehrere oder gar alle Erklärungsversuche einen Anteil haben, ist hier nicht das Thema.22 Denn unabhängig von der Überzeugungskraft dieser Ansätze sagen sie nichts über den Wahrheitsgehalt der Religion an sich aus – und nur darum geht es diesem Buch.
Natürlich muss niemand die Einschätzungen und Schlussfolgerungen des Autors teilen. Im Gegenteil möchte ich meine Leser aufrufen, jede Aussage und Bewertung kritisch zu hinterfragen und für sich zu beurteilen, ob sie sich den dargestellten Argumenten anschließen möchten. Der Gewinn, den Sie aus diesem Buch ziehen werden, wird umso größer sein, je offener Sie für das Ergebnis sind. Betrachten Sie Ihre eigene Religion oder Überzeugung mit denselben Augen, mit denen sie andere, als exotischer empfundene anschauen. Fragen Sie sich: Käme ich zu derselben Einschätzung, wenn es nicht um ein religiöses Thema ginge? Wie stark beeinflussen meine Erziehung, mein Umfeld und meine Wünsche meine Bewertung? Wende ich die gleichen Maßstäbe an religiöse Fragen an, die ich im täglichen Leben bei anderen Fragestellungen anwende, und wenn nein, warum nicht?
Die Schlüsse, die Sie aus Ihrer Beschäftigung mit diesem Buch ziehen, sind also ganz Ihnen selbst überlassen. Ob dies zu stärkerem Glauben oder zu einem entspannteren und pragmatischeren Umgang mit der eigenen Religion führt oder gar dazu, den Glauben ad acta zu legen – ganz gleich: Wenn Ihnen dieses Buch zu mehr Klarheit verholfen hat, wäre sein Ziel erreicht.
Königswinter, im Mai 2017
Holger Krauße
Darum bezeichnet der edle Mensch die Dinge so, daß er zu Recht davon reden und daß er das, wovon er redet, auch zu Recht durchführen kann. Denn der edle Mensch gestattet sich in allem, was er sagt, keinerlei Leichtfertigkeit.
Konfuzius23
2Am Anfang war das Wort: Definition und Erläuterung zentraler Begriffe
Eine Diskussion kann nur auf der Basis einer gemeinsamen Sprache geführt werden. Wer etwa unter Gott eine konkrete, den Menschen zugewandte, zuweilen auf Erden wandelnde Person versteht, wird viele Fragen anders beantworten als jener, der eine transzendente, der menschlichen Vernunft vollends entzogene Entität oder Weltenseele annimmt. Daher sollen die in diesem Buch verwendeten Begriffe zunächst einmal definiert werden.
Es liegt in der Natur der Sache, dass auch andere Definitionen möglich sind. Theologen und Kleriker verstehen und verwenden Begriffe anders als Laien, Sunniten anders als Protestanten. Die hier verwendeten Definitionen sind daher meist weit gefasst, um unterschiedliche Interpretationen möglichst mit einzuschließen. Falls sie dennoch nicht immer vollständig das individuelle Verständnis treffen, wird der geneigte Leser gewiss in der Lage sein, die vorgebrachten Argumente und Bewertungen auch auf seine individuelle Definition des jeweiligen Begriffs hin zu prüfen.
Gott und göttliche Ordnung
Unter einem Gott wird gemeinhin ein mit übernatürlichen oder übermenschlichen Kräften ausgestattetes Wesen, eine höhere Macht oder Intelligenz verstanden. Allmacht, Allwissen, Allgegenwart, eine Verantwortung für oder die Beteiligung an der Erschaffung und Ordnung der Welt sowie die Bestimmung oder Beeinflussung des menschlichen Schicksals sind hinreichende, aber nicht notwendige Voraussetzungen für die Einordnung als Gott.i
Der Begriff soll hier umfassend angewandt werden: Allmächtige persönliche Einzelgötter, Götter-Familien und gottgleiche Geister (z.B. buddhistische Devas, Kamis) sind unabhängig von ihrem Wohlwollen gegenüber oder ihrer Interaktion mit den Menschen ebenso miteinbezogen wie abstraktere göttliche Kräfte, Prinzipien und Ordnungen, jedenfalls sofern diese Entstehung und Gang des Universums beeinflussen.ii Persönliche Götter unterscheiden sich von anderen übernatürlich begabten Wesen (z.B. Engeln und Dämonen) durch ihre größere Machtfülle.
Von erheblicher Relevanz für die Bewertung der Gotteshypothese ist, ob es sich um Einzelgötter wie Aton, JHWH und Allahiii oder um ein Pantheon wie in den Götterwelten der alten Ägypter, Griechen, Germanen und Azteken, in dem Glauben der Yoruba in Nigeria und natürlich im Hinduismus handelt. Denn dem Alleinherrscher des Monotheismus werden nicht nur regelmäßig unbegrenzte Fähigkeiten wie Allmacht und Allwissen zugeschrieben, was bei Göttern in polytheistischen Religionen nicht zwingend der Fall ist, sondern er genießt auch eine Alleinstellung in Bezug auf den Kosmos und als Ansprechpartner, Gesetzgeber und Richter der Menschen. Um einen Gott mit solch weitreichender Bedeutung plausibel zu machen, sind offensichtlich höhere Anforderungen zu erfüllen.
Hierbei müssen wir allerdings berücksichtigen, dass diese Unterscheidung, auf die ja gerade die monotheistischen Götter großen Wert legen, ein Stück weit künstlich ist. Nehmen wir den Hinduismus: Trotz der augenscheinlichen Vielfalt von Millionen von Göttern (und deren vielfachen Inkarnationen)iv besitzt er eine Neigung zum Monotheismus; in den Veden wird von den Verfassern stets der jeweilige Gott, je nach Kontext, zur höchsten Gottheit erhoben, ohne dass andere Götter deswegen zu Götzen degradiert werden – andere Götter sind bloß nicht so bedeutsam wie der eigene.24 In der vedantischen Tradition des Advaita wird gar davon ausgegangen, dass es nur einen einzigen Gott gibt – die göttlichen Inkarnationen sind nur Aspekte desselben göttlichen Prinzips.25 Umgekehrt finden wir in den monotheistischen Religionen mit der Figur des Teufels mindestens einen Dualismus (wie beim einen Antagonismus von guten und bösen Mächten propagierenden Zoroastrismus), wenn nicht Charakterzüge eines Pantheons: Dreifaltigkeit, Heiligen, Propheten- und Märtyrerverehrung, Engels- und Dämonenglauben sind beredtes Zeugnis dafür.
Sofern eine Religion atheistisch ist oder zumindest auf persönliche Götter verzichtet, wird hilfsweise der Begriff der „göttlichen Ordnung“ verwendet. Dies bezieht sich unter anderem auf das karmische System des (ursprünglich atheistischen) Buddhismus, das Dao und pantheistische Vorstellungen, nach denen Gott eine unpersönliche geistige Kraft darstellt, die mit der Welt bzw. dem Sein identisch ist.
Religion
Religion ist der Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Weltanschauungen, deren Grundlage der Glaube an eine oder mehrere transzendente (überirdische, übernatürliche, übersinnliche) Kräfte persönlicher (Götter, Geister) oder abstrakter Natur und Gesetzmäßigkeiten bzw. Ordnungen und damit verbundene heilige Objekte ist. Sie bedarf also nicht zwingend eines Gottes.
Kennzeichnend für Religion ist, dass sie auf der Basis eines nicht notwendigerweise verschriftlichten Konsenses (Heilige Schrift, Überlieferung) Antworten gibt auf metaphysische Schöpfungs- (Herkunft und Zukunft der Welt und des Menschen im Besonderen, Ordnung der Welt, Stellung des Menschen und sein Verhältnis zu Gott), Jenseits- (Existenz eines Lebens nach dem Tod, Konsequenzen des menschlichen Verhaltens in diesem oder früheren Leben) und Sinnfragen (Sinn und Ziel des Lebens).v Darüber hinaus wirkt sie normativ auf Ethik und Moral durch Definition gottgefälligen Verhaltens und Festlegung von Regeln für menschliches Denken, Verhalten und Zusammenleben. Typisch ist zudem eine die Gemeinschaft organisierende Struktur aus Klerus und Riten. Sofern diese Kriterien hinreichend erfüllt sind, kann als Esoterik oder Aberglauben Deklariertes von Religion nicht mehr unterschieden werden.
Auch eine Differenzierung von Religion und Sekten führt ins Leere. Sekte meint im Wortsinn Richtung oder Lehre; damit wäre dann beispielsweise auch der Katholizismus eine Sekte. Auch der Gebrauch des Begriffs im Sinne einer Abspaltung von einer Mutterreligion bietet keine qualitative Unterscheidung, da sich bekanntlich viele große Konfessionen (z.B. der Protestantismus) und Religionen (z.B. der Jainismus) als neue Schulrichtung bestehender Lehren entwickelt haben. Die Bezeichnung als Sekte wurde allerdings auch zeitweise verwandt, um kleinere Glaubensgemeinschaften zu diskreditieren, die sich aber nicht grundsätzlich von größeren Religionen unterscheiden.vi
Mit den „abrahamitischen Religionen“ sind jeweils Judentum, Christentum und Islam gemeint. Unter „indische Religionen“ werden Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Sikhismus subsummiert. Der Begriff bezieht sich auf den geografischen Ursprung dieser miteinander verwandten Religionen. Damit soll weder die Bedeutung anderer Regionen an der Entwicklung oder Praxis dieser Religion bestritten noch der Eindruck erweckt werden, dies seien die einzigen in Indien entstandenen Religionen.
Religion und Glaube werden häufig synonym verwendet. Während Religion grundsätzlich die kodifizierte, formalisierte Form des Glaubens ist, soll Glaube hier im Sinne des individuellen, persönlichen, aus der Religion abgeleiteten Glaubens verstanden werden.
Klerus
Religionen werden regelmäßig von einem Klerus gemanagt, der die Grundlagen der Religion, insbesondere natürlich die relevanten Heiligen Schriften, Gebote und Verbote, verbindlich festlegt und interpretiert, als Mittler zwischen Menschen und Gott fungiert und für die Ausübung religiöser Riten verantwortlich ist. Unter Klerus (auch: Geistlichkeit) wird hier die Gesamtheit der Angehörigen des geistlichen Standes (Kleriker) verstanden. Er soll also nicht nur das christliche Priestertum umfassen, wie im Sprachgebrauch üblich, sondern – wenn im Einzelfall nicht anders beschrieben – alle von den übrigen Gläubigen abgehobenen geistlichen Amts- und Würdenträger organisierter Religionen, die in deren Namen auftreten, zum Beispiel Bischöfe, Priester, Äbte, Imame, Ulamavii, Ajatollahs, Rabbiner, aber auch Prediger wie die US-typischen TV-Evangelisten. Hierbei ist es unerheblich, wie groß die vertretene Gruppe ist und ob es sich bei dem Kommunizierten um eine offizielle Lehrmeinung handelt.
Im weiteren Sinne mag der Begriff hier auch all jene umfassen, die ihr Leben vorrangig und dauerhaft der Religion widmen, also insbesondere Mönche und Nonnen. Besonders gläubige Menschen, auch wenn sie ihr Leben zeitweilig der Religion widmen, wie Saddhus oder Pilger, fallen hingegen nicht unter die Definition.
Charakteristisch für den Klerus ist, dass er der Religion regelmäßig durch einen besonders starken Glauben und/oder berufliche, finanzielle oder intellektuelle Abhängigkeit verbunden ist. Hieraus resultiert ein hohes Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung und gegebenenfalls auch der Ausbreitung der Religion.
Riten
Unter Riten sind religiöse Kulthandlungen und Rituale wie der Gottesdienst (Messe, Freitagsgebet, Puja), gemeinschaftliche und formalisierte Gebete (Vaterunser) und Zeremonien zu religiösen (Zuckerfest, Ostern, Diwali) wie eigentlich weltlichen Anlässen (Heirat, Geburt) sowie Opferungen zu verstehen. Neben den von der jeweiligen Religion bzw. deren Klerus unmittelbar vorgegebenen Riten soll der Begriff hier auch individuelle Ausdrucksformen und Praktiken wie die der Meditation, der Buße und Askese (Pilgerfahrt, Leben als Saddhu) und der Ekstase (Sufi-Tanz) sowie das individuelle, persönliche Gebet umfassen.
Ziel der Riten ist insbesondere die Kommunikation mit den göttlichen Mächten, um deren Gnade (Segen, Wunscherfüllung) zu erlangen, Nachteile zu vermeiden (und so Hoffnungen und Ängste zu adressieren) und Erkenntnis zu gewinnen, die Aufnahme in eine religiöse Gemeinschaft (Taufe, Beschneidung) bzw. die Festigung der Beziehung zu Gott und Gemeinschaft (Kommunion), die innerliche Reinigung (Askese, Pilgerfahrt, Fasten), das Lobpreisen Gottes und der Ausdruck des Dankes gegenüber Gott und dem (oder den) Heiligen.
Seele
Der Ausdruck Seele hat vielfältige Bedeutungen, je nach den mythischen, religiösen, philosophischen oder psychologischen Traditionen und Lehren, in denen er vorkommt. Teils sehen Religionen auch mehrere Arten von Seelen bzw. Seelenaspekte vor, etwa beim Volk der Akanviii, im Schamanismus der Jakuten oder im Alten Ägypten.
Hier soll Seele als immaterieller, also substanz- und körperloser Teil des Menschen verstanden werden, der als Träger der Identität eines Individuums fungiert. Damit ist die Annahme verbunden, die Seele sei hinsichtlich ihrer Existenz vom Körper und damit auch vom physischen Tod unabhängig und mithin unsterblichix oder löse sich eines Tages in einer übergeordneten, unpersönlichen metaphysischen Realität auf.x Der Tod wird dann als Vorgang der Trennung von Seele und Körper gedeutet, die Seele als die eigentliche Person oder das Selbst, der vergängliche Körper nur als mangelbehafteter, hinderlicher und vorübergehender Aufenthaltsort und Träger.xi
Während ihre Herkunft regelmäßig eine untergeordnete Rolle spielt und nicht näher beschrieben wird, ist der Verbleib der Seele nach dem Tod für eine Religion kennzeichnend. Hier wird häufig eine Seelenwanderung mit anschließender Reinkarnation beschrieben, also behauptet, die Seele habe nacheinander in verschiedenen Körpern eine Heimstatt; in anderen wiederum wird die Seele an einen endgültigen Ort verbracht. Wie sich dies im Detail vollzieht, bleibt offen; ausschlaggebend für den künftigen Status sind in jedem Fall ihre Verdienste bzw. Verfehlungen, deren Maßstab durch die Religion vorgegeben wird.
Hieraus sollte klar geworden sein, dass der Begriff hier nicht, wie es im heutigen Sprachgebrauch häufig geschieht, in einer Weise verwendet wird, dass er die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge beim Menschen umfasst, also das, was gemeinhin auch als Psyche bezeichnet wird.
Die Bezeichnung bezieht sich hier primär auf menschliche Seelen, die ja von unmittelbarerem Interesse sind. Im Hinduismus, Sikhismus und Jainismus findet sich allerdings kein prinzipieller Unterschied zwischen den Seelen von Menschen und denen anderer Lebensformen, insbesondere von Tieren und Pflanzen.
Heilige Schrift
Wenngleich Religionen auch auf mündlichen Überlieferungen beruhen können, wie dies beispielsweise bei den Religionen der nordamerikanischen Indianer und den afrikanischen Stammesreligionen der Fall ist, sind letztlich alle großen und nachhaltig erfolgreichen Religionen im Besitz von Heiligen Schriften.
Hiermit sind solche Texte gemeint, die für eine Religion normativ sind, also ethische, rituelle und andere grundsätzliche Fragen des Glaubens klären. Sie stellen, bei mehreren Schriften in Form eines Kanons, den verbindlichen Kern einer Religion dar. Die Schriften, aus denen häufig bei Gottesdiensten und Ritualhandlungen zitiert wird, sammeln als authentisch geltende Offenbarungen, Überlieferungen, Erzählungen, Liedgut, rechtliche und rituelle Bestimmungen und Weisheitstexte. Zentrale Heilige Schriften sind zum Beispiel der Koran, die Bibel, Tanach und Talmud, der Pali-Kanon des Theravada-Buddhismus, das Guru Granth Sahib der Sikhs, das Nihonshoki des Shintoismus oder die Vedenxii.
Die Autorität der Heiligen Schriften variiert innerhalb und zwischen den Religionen. So wird dem Koran als unmittelbarem Wort Gottes ein höheres Gewicht beigemessen als der Sunnaxiii, die gleichwohl zum Kanon der Heiligen Schriften des Islam zählt.
Nicht gemeint ist hier die übrige religiöse Literatur, etwa interpretierende und normative Schriften von Gelehrten, wie etwa die Schriften von Augustinus von Hippo, auch wenn diese sehr einflussreich sind und den Stand der Lehre bestimmen oder als Heilige gelten. Diese Abgrenzung ist zugegebenermaßen nicht immer einfach, insbesondere wenn bei alten Texten der Autor nicht hinreichend bekannt ist.
Die Bezeichnung als „heilig“ bezieht sich im Folgenden allein auf die Sicht der jeweiligen Religion und soll keine Bestätigung dieser Eigenschaft darstellen.
iRichard Dawkins definiert Gott als „superhuman, supernatural intelligence who deliberately designed and created the universe and everything in it, including us“ (Dawkins 2007, S. 52). Diese Definition würde den Großteil der Götter polytheistischer Religionen ausschließen und ist in der Perspektive dieses Buches zu eng.
iiDamit ist z.B. der Gott im Jainismus, der weder die Welt erschaffen hat noch anders denn als stiller Beobachter agiert, nicht einbezogen. Ein solcher Gott ist aus menschlicher Sicht belanglos. Ein reiner Schöpfergott wie Brahma, dessen Aufgabe sich in der zyklischen Erschaffung der Welt erschöpft, wird hingegen von der Definition erfasst, da sein Werk – die Welt – ja Grundlage unseres Lebens ist.
iiiGemeint ist der Gott des Islam, der keinen Eigennamen trägt. Allah bedeutet lediglich Gott.
ivAllein von Vishnu sind zehn Haupt-Inkarnationen bekannt, deren bekannteste, Krishna und Rama, eigenständig verehrt werden.
vIn der vatikanischen Erklärung „Nostra Aetate“ wird dies anschaulich formuliert: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ (Paul VI. 1965)
viIn der Tat wären viele negativ konnotierte Kriterien für sogenannte Sekten auch auf etablierte Religionen anwendbar, z.B. finanzielle Motive (Kirchensteuer, Opfer, Eigentum der Kirchen), Gehirnwäsche (Koranschule), Führerkult, Erschwerung /Verunmöglichung eines Austritts aus der Glaubensgemeinschaft, Strafen bei Blasphemie.
viiIslamische Rechtsgelehrte, die die Bewahrung, Deutung und Weiterentwicklung der islamischen Tradition übernehmen.
viiiDie Akan sind eine Gruppe sprachlich und kulturell verwandter Völker in Westafrika. Sie unterscheiden die folgenden Seelenelemente, die gemeinsam die Seele eines Menschen bilden: Kra (Lebensseele), Nunsum (Persönlichkeitsseele), Sumsum (Schattenseele, der Schatten, den ein Mensch auf die Erde wirft).
ixDie individuelle Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist z.B. seit dem 5. Laterankonzil von 1513 durch die Konstitution Apostolici regiminis verbindliche Glaubenswahrheit der katholischen Kirche. Eine vergleichbare Sicht findet sich u.a. im Islam und im Jainismus. In der buddhistischen Lehre kommt eine unsterbliche Seele allerdings nicht vor: Das zentrale Institut der Wiedergeburt beinhaltet keinen Transfer der Seele, sondern ein neues Entstehen unter Weitergabe von Einflüssen aus dem früheren Leben (Karma).
xIm Hinduismus ist das Brahman eine solche unveränderliche, unendliche, immanente und transzendente Realität, die den ewigen Urgrund von allem Existierenden darstellt. Brahman ist ein unpersönliches Konzept vom Göttlichen, das keinen Schöpfer und keinen Lenker beinhaltet, ein Urgrund des Seins, ohne Anfang und ohne Ende. Die Vereinigung mit dem Brahman als ultimatives Ziel des Lebens geschieht nicht etwa durch den Tod, sondern durch Moksha, die Befreiung aus der Kette der Wiedergeburten (Samsara).
xiJedenfalls sofern die Religion keine „Wiederauferstehung im Fleische“ vorsieht.
xiiSanskrit für Wissen, Heiliges Gesetz. Zunächst mündlich überlieferte, später verschriftlichte Sammlung religiöser Texte im Hinduismus.
xiiiDie aus den Hadithen (überlieferte Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed bzw. von ihm gebilligte Handlungen) gesammelte Übersicht über die Handlungsweise des Propheten, die neben dem Koran die zweite Quelle islamischen Rechts darstellt und deren Autorität im Koran ausdrücklich betont wird.
Die Unmöglichkeit, in der ich mich befinde, zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, tut mir eben seine Existenz dar.
Jean de la Bruyère26
3Vernunft versus Glaube: Die Gottesbeweise und ihre Alternativen
3.1Grundsätzliches zu Wahrscheinlichkeit und Plausibilität
Seit jeher wurden rund um den Erdball die Kernfragen nach der Entstehung der Welt und ihrer Ordnung, dem Sinn des Daseins, der Ursache des Leides und danach, was den Menschen nach seinem Tod erwartet, mit Göttern und Religionen beantwortet. Unzählige traten hervor, untrennbar mit der Kultur der Völker verbunden, entwickelten sich fort, wurden ausgetauscht gegen vermeintlich bessere, gingen unter. Mochte auch die Macht des einen oder anderen Gottes infrage gestellt worden sein, die Überzeugung von der Existenz der Götter und göttlicher Ordnungen an sich blieb unberührt.
Wissenschaftliche Belege für die Existenz Gottes oder einer göttlichen Ordnung im Sinne von experimentellen Nachweisen, Messungen oder dergleichen wurden bislang nicht vorgelegt. Angesichts der ihnen zugeschriebenen Macht könnte man vielleicht erwarten, dass sich gerade persönliche Götter unmissverständlich manifestierten und jegliche Zweifel an ihrem Dasein ausräumten. Dass dies jedoch allenfalls auf der Ebene persönlicher Erfahrung geschieht, ist für Gläubige wie Klerus zweifellos unbefriedigend, wären doch schlagende Beweise überaus hilfreich bei der Legitimation von Religionen im Allgemeinen und der eigenen im Besonderen: Nur wenn es tatsächlich einen Gott gibt, der zumindest annähernd den eigenen Vorstellungen von ihm entspricht, macht es ja überhaupt Sinn, die mit ihm verbundenen Regeln zu befolgen.
In diesem Spannungsfeld setzen Religionen auf eine Doppelstrategie: Zum einen werden Belege und Hinweise für die Existenz Gottes angeführt, die idealerweise stark genug sind, um als Beweise angesehen werden zu können. Zum anderen wird gerade das Gegenteil behauptet, dass nämlich Gott mit den Mitteln der Wissenschaft gar nicht bewiesen werden könne oder solle. Mit diesen Argumenten wollen wir uns im Folgenden auseinandersetzen.
3.2Logikbasierte Gottesbeweise
Bereits in der Antike wurde versucht, die allgemein als real empfundene Existenz Gottes mit den Mitteln von Vernunft und Logik zu belegen. Diese klassischen Gottesbeweise wurden und werden bis heute in vielerlei Varianten angeführt und kritisch diskutiert, von denen wir hier nur die wichtigsten betrachten wollen.
Gemein ist all diesen Ansätzen, dass sie, auch wenn es anders beabsichtigt gewesen sein mag und gedanklich ein spezifischer Gott vorausgesetzt wurde, keine Hinweise auf einen konkreten Gott wie den des Christentums liefern, sondern bestenfalls für die Existenz eines göttlichen Wesens an sich. Gleichwohl würde natürlich ein überzeugender Gottesbeweis in diesem Sinne die Existenz auch des jeweils eigenen Gottes deutlich plausibler zu machen.
3.2.1Gott als erste Ursache: Der kosmologische Gottesbeweis
Die verschiedenen Formen des kosmologischen Gottesbeweises gehen davon aus, dass die Welt und ihre Eigenschaften eine Ursache außerhalb ihrer selbst haben müssen. Am klarsten wird der Ansatz in der Form des sogenannten Kausalitätsbeweises: Alles, was in unserer Welt geschieht und existiert, hat eine Ursache. Von den Bestandteilen der Atome bis zu den größten Galaxien des Universums, und natürlich auch unser Planet mit seinen Meeren, Landschaftsformen und Klimata, mit seiner erstaunlichen Diversität von Lebewesen einschließlich ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen: Alles ist durch etwas hervorgebracht worden. Da jede Ursache nach dieser Regel selbst wieder eine Ursache gehabt haben muss, lässt sich eine unendliche Kette von Ursachen und Wirkungen konstruieren. Irgendwann jedoch, so der kosmologische Gottesbeweis, müsse diese Kette notwendigerweise einen Anfang gehabt haben, also eine erste Ursache. Diese erste Ursache wäre zwangsläufig Gott, die erste Wirkung seine Schöpfung.i
In der Tat scheint es der Natur eigentümlich, dass, auch wenn es nicht immer offensichtlich ist, nichts ohne eine Ursache entsteht oder geschieht. Einzige Ausnahme dürfte nach heutigem Wissensstand die Quantenmechanik sein. Sie könnte also bereits reichen, die Beweisführung für falsch zu erklären – doch wollen wir es uns nicht so einfach machen, schließlich könnte notfalls eingewandt werden, dass auch das System der Quantenmechanik eine erste Ursache gehabt haben könnte. Also zurück zum Ursache-Wirkungs-Prinzip: Aufgabe der diversen Disziplinen der Wissenschaft – und hier darf man Geisteswissenschaften wie Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften durchaus miteinbeziehen – ist es, die Ursachen von Phänomenen jeglicher Art zu identifizieren, zu beobachten, zu messen und zu erklären. Dabei ist die Wissenschaft sehr erfolgreich: Auch höchst komplexe Dinge, die vor nicht allzu langer Zeit noch wunderhaft schienen und daher der Schöpfung zugeschrieben wurden, sind heute überzeugend erklärt. Zu denken ist etwa an die Reproduktion von Tieren, Pflanzen und anderen Lebewesen durch die Weitergabe von Genen, an die Entstehung von Bergen und Meeren durch Kontinentalplattenverschiebungen, an die biochemischen und elektrischen Vorgänge im Hirn als Ursache von Gedanken und Gefühlen und natürlich auch an gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen – einschließlich der Entstehung und der Evolution von Religionen. Das Prinzip, dass nichts aus sich selbst heraus entsteht, sondern alles eine Ursache haben muss, hat sich damit stets bestätigt.
Als direkte Konsequenz ist für immer weniger eine metaphysische oder religiöse Erklärung die einzig verfügbare. Auch wenn die Wissenschaft mit jeder neuen Erkenntnis wieder neue Fragen aufwirft, kann man mit Recht sagen, dass für faktisch alles, was in Antike und Mittelalter noch magisch oder unerklärbar zu sein schien, nachvollziehbare und plausible Ursachen und Erklärungen gefunden wurden. Damit ließen sich auch Phänomene erklären, die zuvor noch Gott als erster Ursache zugeschrieben wurden.
Besonderen Einfluss hatte dabei die Evolutionstheorieii, die die Entwicklung aller Lebewesen (einschließlich der Gattung Mensch) umfassend erklärt und empirisch belegt und damit die Schöpfungsmythen vieler Religionen ins Reich der Fabeln verweist. Hiermit tun sich religiöse Menschen teils noch immer schwer: Während Papst Benedikt XVI., der noch in seiner Predigt zur Amtseinführung behauptete: „Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes“27, später immerhin doch zu der Erkenntnis gelangte, Evolution und Schöpfung seien kein Gegensatz,28 obwohl die katholische Kirche weiterhin einen ungelenkten Evolutionsprozess verneint,29 halten christliche Kreationisten und weite Teile der islamischen Welt am Wortlaut der Heiligen Schrift fest.iii3031