Zehn Jahre Smartphone haben eine neue Ära eingeläutet: Alles verändert sich, und zwar rasend schnell. Das schwindelerregende Tempo der Neuerungen löst bei manch einem ein Gefühl der Unsicherheit und Skepsis aus. Thomas L. Friedman lädt seine Leser ein, einen Moment innezuhalten und die Triebfedern der radikalen Umwälzungen zu betrachten: Technologie, Klimawandel und Vernetzung. Mit seinem neuen Buch bietet er optimistisch und gut verständlich Orientierung für unsere Zeit und zeigt, was eine erfolgreiche Zukunft möglich macht.
DER SPIEGEL bezeichnete Thomas L. Friedman als den »wahrscheinlich [...] einflussreichste[n] Journalist[en] der Welt [...]«. Der US-Amerikaner schreibt seit mehr als zwanzig Jahren zweimal wöchentlich eine Kolumne für die NEW YORK TIMES. Seine journalistischen Arbeiten wurden schon dreifach mit dem renommierten Pulitzer-Preis bedacht und auch seine Bücher erfreuen sich großer Erfolge. Bisher sind sechs Titel erschienen, von denen insbesondere zwei auch in Deutschland sehr erfolgreich waren: »Die Welt ist flach« und »Was zu tun ist« (beide bei Suhrkamp erschienen), schafften es beide auf die Bestsellerliste. In den USA gilt Friedman geradezu als Marke auf dem Sachbuch-Markt. Dies spiegelt sich sehr schön in der Covergestaltung der Originalausgaben seines neuen Buches wieder: hier darf sein Name mindestens genauso groß wie der Titel erscheinen. Zu seinen inhaltlichen Schwerpunkten zählen Globalisierung, gesellschaftliche Auswirkungen von Informations- und Telekommunikationstechnologien, Umweltschutz und Nahost-Politik. Sein neues Werk bringt all diese Themen zusammen.
Thank You for Being Late
Ein optimistisches Handbuch für das
Zeitalter der Beschleunigung
Aus dem amerikanischen Englisch
von Dr. Jürgen Neubauer
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Thank You for Being Late. An Optimist’s Guide to Thriving in the Age of Accelerations«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Thomas L. Friedman
Published by Farrar, Straus and Giroux
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Matthias Auer, Bodmann-Ludwigshafen
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Unter Verwendung eines Motivs von © getty-images/Studio Parris Wakefield
Und der Gestaltung von Jonathan D. Lippincott
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-5443-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Dies ist mein siebtes und, wer weiß, vielleicht mein letztes Buch. Seit Von Beirut nach Jerusalem, das 1989 erschien, besaß ich das große Glück, dass mich eine Gruppe von Freunden auf meinem Weg begleitet hat, die ihr Wissen mit mir teilten und auf vielfältige Weise meine Arbeit förderten. Über viele Jahre, Artikel und Bücher hinweg haben sie mir großzügig geholfen, mein Denken zu entwickeln. Deshalb möchte ich ihnen dieses Buch widmen: Nahum Barnea, Stephen P. Cohen, Larry Diamond, John Doerr, Yaron Ezrahi, Jonathan Galassi, Ken Greer, Hal Harvey, Andy Karsner, Amory Lovins, Glenn Prickett, Michael Mandelbaum, Craig Mundie, Michael Sandel und Dov Seidman. Ihre intellektuelle Feuerkraft ist beeindruckend, ihre Großzügigkeit außergewöhnlich und ihre Freundschaft ein Segen.
Jeder wird aus anderen Gründen Journalist, und viele von denen, die den Beruf ergreifen, haben idealistische Motive. Es gibt investigative und Gonzo-Journalisten, Nachrichten-Reporter und Welterklärer. Ich habe mich immer zu Letzteren gezählt und bin Journalist geworden, weil ich komplexe Zusammenhänge in eine einfache Sprache übersetzen wollte.
Es ist mir eine große Befriedigung, komplizierte Sachverhalte so aufzuschlüsseln, dass ich sie selbst verstehe und anderen verständlich machen kann – egal, ob es um den Nahen Osten, die Umwelt, die Globalisierung oder Politik geht. Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Wähler wissen, wie die Welt funktioniert, denn nur so können sie intelligente politische Entscheidungen treffen. Und nur so sind sie gegen Demagogen, Ideologen und Verschwörungstheoretiker gefeit, die sie im besten Fall verwirren und im schlimmsten bewusst in die Irre führen. Während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs des Jahres 2016 fühlte ich mich oft an die Worte von Marie Curie erinnert: »Man muss vor nichts im Leben Angst haben, man muss es nur verstehen. Die Zeit ist gekommen, um mehr zu verstehen und weniger Angst zu haben.«
Es ist allerdings kein Wunder, dass sich heute so viele Menschen desorientiert und verunsichert fühlen. In diesem Buch zeige ich, warum wir heute an einem Wendepunkt stehen, wie ihn die Menschheit nicht mehr erlebt hat, seit der Mainzer Kaufmannssohn Johannes Gutenberg den Buchdruck erfand und damit der Renaissance und der Reformation den Weg bereitete. Die drei mächtigsten Kräfte auf unserem Planeten – Technik, Globalisierung und Klimawandel – nehmen heute gleichzeitig rasant an Fahrt auf. Daher befinden sich gegenwärtig Gesellschaft, Arbeit und Politik im Umbruch und müssen neu gestaltet werden.
Wenn sich so viele Lebensbereiche gleichzeitig so radikal verändern, wie wir dies heute erleben, dann ist es kein Wunder, dass sich so viele Menschen überfordert fühlen. Wie John E. Kelly III., Senior Vice President der IBM-Forschungsabteilung für künstliche Intelligenz, sagt: »Wir Menschen leben in einer linearen Welt, für uns sind Entfernung, Zeit und Geschwindigkeit lineare Größen. Die Technik entwickelt sich jedoch exponentiell. Aber exponentielle Veränderungen erleben wir im Alltag nur als Autofahrer, wenn wir Gas geben oder scharf bremsen. In solchen Momenten fühlen wir uns dann verunsichert und unwohl.« Natürlich kann man es auch als berauschend empfinden, in sechs Sekunden von null auf hundert zu beschleunigen. Aber eine lange Fahrt würden wir nicht so machen wollen. Doch genau auf so einer Reise befinden wir uns gerade, so Kelly: »Viele Menschen haben heute das Gefühl, in einem dauernden Zustand der Beschleunigung zu leben.«
In Zeiten wie diesen ist es notwendig, innezuhalten und nachzudenken, statt in Panik zu verfallen und die Flucht zu ergreifen. Das ist kein Luxus und auch keine Ablenkung, sondern es hilft uns, die Welt besser zu verstehen und besser mit ihr umzugehen.
Warum? »Wenn man bei einer Maschine die Pause-Taste drückt, hält sie an. Aber wenn man bei uns Menschen die Pause-Taste drückt, dann fangen wir an«, meint mein Freund Dov Seidman, Gründer und CEO des internationalen Beratungsunternehmens LRN. »Wir denken nach, wir überprüfen unsere Annahmen, wir loten unsere Möglichkeiten neu aus, und vor allem treten wir in Kontakt mit unseren tiefsten Überzeugungen. In diesen Momenten können wir anfangen, uns einen neuen und besseren Weg vorzustellen. Allerdings kommt es darauf an, was wir mit dieser Pause anfangen. Keiner hat es besser gesagt als Ralph Waldo Emerson: ›In jedem Moment der Stille höre ich den Ruf.‹«
Und genau das möchte ich mit diesem Buch: Die Pause-Taste drücken, dem Karussell entkommen, auf dem ich zweimal die Woche als Kommentator der New York Times jahrelang mitgefahren bin, und intensiver über diesen historischen Moment nachdenken, der meiner Ansicht nach ein radikaler Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit ist.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann ich gegenüber dieser Hetze meine innere Unabhängigkeit erklärt habe, aber es muss irgendwann Anfang 2015 gewesen sein. Es war ein zufälliger Moment. Zum Frühstück gehe ich gern in ein Café in der Nähe des Washingtoner Büros der New York Times, um mich dort mit Freunden zu treffen oder Politiker, Experten oder Diplomaten zu interviewen. Auf diese Weise nutze ich schon das Frühstück als Lernchance und verschwende meine Zeit nicht, indem ich alleine esse. Aber weil der morgendliche Berufsverkehr in Washington immer ein Glücksspiel ist, kommen meine Gesprächspartner oft zehn, fünfzehn oder zwanzig Minuten später als verabredet. Das ist ihnen meist peinlich, und sie stammeln Entschuldigungen wie: »Die U-Bahn ist stecken geblieben«, »Die Autobahn war dicht«, »Mein Wecker hat nicht geklingelt« oder »Meine Tochter ist krank« …
Bei einer dieser Gelegenheiten wurde mir klar, dass mir die Verspätung meiner Frühstücksgäste nicht das Geringste ausmacht. Also sagte ich: »Kein Problem. Bitte, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie zu spät kommen!«
Diese Verspätung habe mir Zeit für mich selbst geschenkt, erklärte ich. Ich hatte ein paar Minuten »gefunden«, um einfach nur dazusitzen und nachzudenken. Ich hatte dem Pärchen am Nebentisch gelauscht (faszinierend!) und die Leute in der Lobby beobachtet (urkomisch!). Und vor allem hatte ich in dieser Pause einige Gedanken verknüpft, mit denen ich mich schon seit Tagen herumschlug. Deswegen wollte ich gar keine Entschuldigung, im Gegenteil: »Danke, dass Sie zu spät gekommen sind!«
Beim ersten Mal ist mir diese Antwort noch einfach so herausgerutscht, ohne dass ich groß darüber nachgedacht hätte. Aber nach einem weiteren Erlebnis dieser Art bemerkte ich, wie gut es sich anfühlte, diese wenigen Augenblicke freier, unverplanter Zeit zu haben – und zwar nicht nur für mich! Mir war auch klar, warum. Wie so viele andere fühlte ich mich allmählich überfordert und erschöpft vom rasanten Tempo der Veränderungen. Ich musste mir (und meinen Gästen) die Erlaubnis geben, langsam zu machen und mit meinen Gedanken allein zu sein, ohne sie tweeten, fotografieren oder mit irgendjemandem teilen zu müssen. Wenn ich meinen Gästen versicherte, dass ihre Verspätung kein Problem sei, dann sahen sie mich zunächst fragend an, bis ihnen ein Licht aufging, und sie erwiderten: »Ja, ich weiß, was Sie meinen … ›Danke, dass Sie zu spät gekommen sind.‹ Aber gern doch!«
In seinem ernüchternden Buch Sabbath beobachtete der Geistliche und Buchautor Wayne Muller, wie oft jemand zu ihm sagt: »Ich habe so viel zu tun.« Muller schreibt: »Das sagen wir mit großem Stolz, als sei unsere Erschöpfung eine Trophäe und unsere Belastbarkeit der Ausweis wahrer Charakterstärke … Keine Zeit zu haben für unsere Freunde und Familie, keine Zeit zu haben für den Sonnenuntergang (oder auch nur zu wissen, ob die Sonne schon untergegangen ist), ohne einen einzigen achtsamen Atemzug von Aufgabe zu Aufgaben zu hetzen, das ist zum Inbegriff eines erfolgreichen Lebens geworden.«
Ich würde lieber lernen innezuhalten. Wie der Schriftsteller Leon Wieseltier einmal zu mir sagte: Technokraten wollen uns einreden, Geduld und Achtsamkeit seien nur deshalb zu Tugenden erhoben worden, weil wir früher gar keine andere Wahl hatten: Wir mussten länger auf Dinge warten, weil unser Modem zu langsam war, weil wir keine schnelle Internetverbindung hatten oder weil wir noch nicht das neueste iPhone besaßen. »Und weil die Technik das Warten abgeschafft hat, behaupten sie, dass wir keine Geduld mehr brauchen«, meinte Wieseltier. »Aber früher wusste man, dass in der Geduld die Weisheit liegt. Geduld ist nicht nur die Abwesenheit von Geschwindigkeit, sondern bedeutet die Möglichkeit zur Reflexion.« Wir bringen heute mehr Information und Wissen hervor denn je, »aber Wissen taugt nur etwas, wenn wir darüber nachdenken können«.
Und nicht nur unser Wissen profitiert von unseren Momenten des Innehaltens. Wir sind auch eher imstande, Vertrauen zu fassen und »tiefere Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen«, ergänzt Seidman. »Unsere Fähigkeit, echte Beziehungen herzustellen – zu lieben, zu verstehen, zu hoffen, zu vertrauen und auf Grundlage gemeinsamer Werte in Gemeinschaft zu leben –, ist vielleicht die menschlichste aller Fähigkeiten. Sie ist das, was uns am stärksten von Tieren und Maschinen unterscheidet. Nicht alles wird besser, wenn es schneller wird, und nicht alles lässt sich beschleunigen. Ich bin dazu geschaffen, mir Gedanken über meine Enkel zu machen. Ich bin kein Gepard.«
Daher ist es vermutlich kein Zufall, dass der zündende Funke für dieses Buch ein Moment des Innehaltens war – eine Zufallsbegegnung ausgerechnet in einem Parkhaus und meine Entscheidung, nicht wie üblich davonzurasen, sondern mich auf einen fremden Menschen einzulassen, der mich mit einer ungewöhnlichen Bitte ansprach.
Es war Anfang Oktober 2014. Ich war mit dem Auto von meinem Haus im Vorort Bethesda ins Stadtzentrum von Washington D. C. gefahren und hatte in der öffentlichen Tiefgarage unter dem Hyatt Regency Hotel geparkt, wo ich mich mit einem Freund zum Frühstück verabredet hatte. Auf dem Rückweg hielt ich vor der Schranke und reichte dem Kassierer den Parkschein. Ehe der Mann das Ticket ansah, blickte er mich an.
»Ich kenne Sie«, sagte der grau melierte Herr mit fremdländischem Akzent und lächelte mich freundlich an.
»Freut mich«, erwiderte ich kurz angebunden.
»Ich lese Ihre Kommentarspalte«, fuhr er fort.
»Freut mich«, wiederholte ich ungeduldig.
»Ich bin nicht immer Ihrer Meinung«, fügte er hinzu.
»Das ist gut so«, antwortete ich. »Das heißt, dass Sie immer nachprüfen.«
Nachdem wir noch ein paar Nettigkeiten ausgetauscht hatten, gab er mir mein Wechselgeld, und auf dem Weg nach draußen dachte ich: »Ist doch wirklich schön zu wissen, dass der Mann im Parkhaus meine Artikel liest.«
In diesem Parkhaus stelle ich etwa einmal pro Woche mein Auto ab, um mit der U-Bahn in die Washingtoner Innenstadt zu fahren. Eine gute Woche später war es wieder so weit. Als ich auf dem Nachhauseweg aus der Tiefgarage fuhr, saß derselbe Mann an der Schranke.
Ehe er mir das Wechselgeld reichte, sagte er: »Mr. Friedman, ich bin auch Autor. Ich habe meinen eigenen Blog. Wollen Sie sich den mal ansehen?«
»Und wie finde ich ihn?«, fragte ich. Er kritzelte eine Adresse auf ein Zettelchen und reichte es mir zusammen mit dem Wechselgeld. »Odanabi.com« stand da.
Ich war neugierig und wollte zumindest einen kurzen Blick darauf werfen. Aber auf dem Nachhauseweg wurde ich nachdenklich. »Unglaublich! Der Parkhauswärter ist mein Konkurrent! Er hat seinen eigenen Blog! Er ist Journalist! Was geht hier vor?«
Zu Hause sah ich mir seine Website an. Die Artikel waren auf Englisch und beschäftigten sich mit der Politik und Wirtschaft seines Heimatlandes Äthiopien. Unter anderem ging es um die Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen, die undemokratische Politik der Regierung und die Aktivitäten der Weltbank in Afrika. Der Blog war gut gemacht, und der Autor entpuppte sich als überzeugter Demokrat. Sein Englisch war gut, wenngleich nicht perfekt. Aber da ich mich nur am Rande für Äthiopien interessierte, verbrachte ich nicht allzu viel Zeit auf der Seite.
Im Laufe der nächsten Woche musste ich allerdings immer wieder an den Mann denken. Wie hatte er zu bloggen begonnen? Was sagte das über unsere Welt aus, dass dieser offensichtlich gebildete Mensch tagsüber in einem Parkhaus arbeitete und nachts mit seinem Blog an einer weltumspannenden Debatte teilnahm und die Menschheit über Dinge informierte, die ihn bewegten?
Ich wollte innehalten und mehr über diesen Mann in Erfahrung bringen. Da ich seine E-Mail-Adresse nicht hatte, beschloss ich, jeden Tag mit der U-Bahn ins Büro zu fahren und mein Auto vorher in der Tiefgarage abzustellen, in der Hoffnung, dass ich ihn so wiedersehen würde.
Während der ersten Tage hatte ich Pech, doch eines frühen Morgens sah ich ihn an der Schranke sitzen. Ich stieg aus und winkte ihm zu.
»Hey, ich bin’s, Mr. Friedman!«, rief ich ihm zu. »Könnten Sie mir Ihre E-Mail-Adresse geben? Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten!«
Er kramte einen Zettel heraus und notierte seine Adresse. Sein Name war Ayele Z. Bojia. Noch am selben Abend schrieb ich ihm eine Mail und bat ihn, mir ein wenig über sich und seinen Blog zu erzählen. Ich schrieb ihm, ich plane ein Buch über den Journalismus im 21. Jahrhundert und wolle wissen, wie andere Menschen zum Bloggen oder Schreiben gekommen seien.
Am 1. November 2014 antwortete er mir. »Mit dem Bloggen habe ich angefangen, als ich meinen ersten Artikel auf Odanabi.com geschrieben habe … Mein Beweggrund ist, dass es in meiner Heimat Äthiopien eine Menge Themen gibt, die mich beschäftigen und zu denen ich gern meine persönliche Sicht darstellen möchte. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich nicht sofort auf Ihre Mail antworten kann, weil ich während der Arbeit schreiben muss. Ayele.«
Am 3. November schrieb ich ihm eine weitere Nachricht: »Was haben Sie in Äthiopien gemacht, ehe Sie hierhergekommen sind? Welche Themen interessieren Sie besonders? Keine Eile. Danke, Tom.«
Noch am selben Tag schrieb er mir zurück: »Es freut mich, dass das Interesse gegenseitig ist. Sie wollen wissen, was mich am meisten bewegt, und ich will wissen, wie ich mit meinen Themen am besten mein Publikum und eine breitere Öffentlichkeit erreichen kann.«
Worauf ich postwendend antwortete: »Ayele, wir sollten uns treffen!« Ich würde ihm verraten, wie man einen Meinungsartikel schrieb, und er würde mir seine Geschichte erzählen. Er stimmte sofort zu, und wir verabredeten uns. Zwei Wochen später kehrte ich von meinem Büro im Zentrum der Hauptstadt unweit des Weißen Hauses zurück, Bojia kam von seinem Parkhaus herauf, und wir trafen uns in einem Café der Kette Peet’s Coffee & Tea in der Nähe der Tiefgarage. An einem Tischchen am Fenster erzählten wir uns, wie wir Journalisten geworden waren, während wir an der Köstlichkeit des Hauses nippten.
Bojia, der damals 63 Jahre alt war, hatte an der Haile-Selassie-Universität von Addis Abeba Wirtschaftswissenschaften studiert. Er ist orthodoxer Christ und Angehöriger der Oromo, der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens mit eigener Sprache. Schon als Student sei er Oromo-Aktivist gewesen und für die Kultur und politischen Ziele seines Volkes im Zusammenhang eines demokratischen Äthiopiens eingetreten. Damit habe er allerdings den Zorn des Regimes auf sich gezogen, weshalb er 2004 ins Exil gehen musste.
Die äthiopische Politik werde von Extremen beherrscht, fügte Bojia hinzu: »Es gibt keine Mitte, die für Vernunft offen wäre.« Was ihn an den Vereinigten Staaten beeindruckte und was er nach Äthiopien bringen wollte, war, »dass die Menschen für ihre Rechte eintreten, aber dass sie sich auch die Meinung des anderen anhören«. (Vielleicht muss man aus einem sehr zerrissenen Land kommen und in einer Tiefgarage arbeiten, um die Vereinigten Staaten als Land zu sehen, in dem sich die Menschen über Gräben hinweg die Hand reichen. Aber sein Optimismus gefiel mir.)
»Wissen Sie, wie viele Leser Sie haben?«, fragte ich.
»Das schwankt und hängt vom Thema ab, aber ich habe meine Stammleserschaft«, sagte er. Seine Besucherstatistiken zeigten, dass sein Publikum aus etwa dreißig Ländern kam. Dann fügte er hinzu: »Wenn Sie mir irgendwie helfen könnten, meine Seite zu verbessern, wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Der Job in der Tiefgarage diene nur dazu, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. – »Meine Energie gehört meiner Website.«
Ich versprach ihm zu helfen, so gut ich konnte. Wer konnte schon einem Parkhauswächter widerstehen, der seine Besucherstatistiken kannte? Aber ich musste ihn doch fragen: »Wie ist das für Sie, tagsüber im Parkhaus zu arbeiten und nachts als Blog-Aktivist Leser in dreißig Ländern zu erreichen?«
»Ich habe das Gefühl, ein bisschen Einfluss zu besitzen«, antwortete er, ohne zu zögern. »Ich habe viel Zeit verschwendet, weil ich meine Artikel erst an andere Websites verschickt habe. Wenn ich mich gleich auf meinen Blog konzentriert hätte, dann hätte ich heute ein größeres Publikum. Das Schreiben verschafft mir große Befriedigung. Ich tue etwas Positives, das meinem Land hilft.«
In den Wochen darauf schrieb ich Bojia zwei E-Mails, in denen ich ihm erklärte, wie ich beim Verfassen einer Kolumne vorging. Danach trafen wir uns noch einmal im Café, um sicherzustellen, dass er verstand, worauf ich hinauswollte. Keine Ahnung, wie viel ihm das gebracht hat, aber ich habe eine ganze Menge gelernt – viel mehr, als ich erwartete.
Schon die Begegnung mit Bojias Welt öffnete mir die Augen. Noch zehn Jahre zuvor hätten wir beide kaum etwas gemeinsam gehabt, und jetzt waren wir so etwas wie Kollegen. Beide versuchten wir, unseren Lesern Themen zu vermitteln, die uns am Herzen lagen, an einer weltumspannenden Debatte teilzunehmen und die Welt ein wenig in unserem Sinne zu beeinflussen. Außerdem waren wir Teil einer umfassenderen Entwicklung. »Nie zuvor waren mehr Menschen in der Lage, Geschichte zu machen, über die Geschichte zu berichten oder die Geschichte zu verstärken«, meint Dov Seidman. »Um Geschichte zu machen, brauchte man früher eine Armee, und um darüber zu berichten eine Zeitung oder ein Fernsehstudio. Heute kann jeder eine Bewegung anstoßen. Heute kann man mit einem einfachen Tastendruck Geschichte machen.«
Und genau das tat Bojia. Künstler und Schriftsteller mussten schon immer Nebenbeschäftigungen nachgehen. Neu ist, wie viele Menschen sich heute als Künstler und Schriftsteller betätigen können, wie viele Leute sie mit ihren Arbeiten ansprechen bzw. wie schnell sie die Weltöffentlichkeit erreichen können, wenn sie etwas zu sagen haben, und wie wenig das kostet.
Um mein Versprechen einzuhalten, musste ich mir mehr Gedanken über mein Handwerk machen als je zuvor. Ich schreibe seit gut zwanzig Jahren Kommentare und war zuvor siebzehn Jahre lang Reporter gewesen, doch unsere Begegnung zwang mich, innezuhalten und den Unterschied zwischen einem Bericht und einem Meinungsbeitrag in Worte zu fassen und zu erläutern, wie Letzterer funktioniert.
In meinen beiden Mails erklärte ich Bojia, dass es keine Formel für einen Kommentar gebe, dass man es nicht in einem Kurs lernen könne und dass jeder Autor anders vorgehe. Trotzdem könne ich ihm ein paar allgemeine Hinweise geben. Für einen Reporter geht es darum, Tatsachen zutage zu fördern, Sichtbares zu erklären und Verborgenes zu enthüllen. Das jeweilige Ergebnis ist nicht absehbar. Die Aufgabe des Reporters besteht darin, furchtlos und unparteiisch zu informieren. Eine klassische Nachrichtenmeldung kann gewaltigen Einfluss haben, doch das hängt immer damit zusammen, inwieweit sie informiert, erklärt oder etwas aufdeckt.
Anders Meinungsartikel. Als Kommentator oder Blogger wie Bojia will man nicht nur informieren, sondern beeinflussen und Reaktionen provozieren. Man will eine bestimmte Sichtweise so überzeugend darstellen, dass die Leser ein Thema anders und neu wahrnehmen.
»Deshalb geht es mir in meinen Kommentaren immer darum, etwas zu erhellen oder zu bewegen«, erklärte ich Bojia. Jeder Meinungsbeitrag und jeder Blogartikel muss den Lesern entweder ein Licht aufstecken und ein Thema neu ausleuchten, oder er muss Gefühle wecken und eine Verhaltensänderung bewirken. Idealerweise leistet er beides.
Aber wie schafft man das als Autor? Woher kommen die Meinungen? Hier würde vermutlich jeder eine andere Antwort geben. Meine Kurzfassung wäre, dass die Idee für einen Meinungsartikel tausend Ursachen haben kann: eine überraschende Schlagzeile, die einfache Geste eines wildfremden Menschen, die bewegende Rede einer Führungspersönlichkeit, die naive Frage eines Kindes, die Grausamkeit eines Amokläufers, das bewegende Schicksal eines Flüchtlings. Alles kann zum Stoff werden, mit dem sich Leser aufklären oder bewegen lassen.
Allgemeiner gesprochen ist das Verfassen eines Kommentars ein Akt der Alchemie, denn man muss ihn selbst aus dem Hut zaubern. Anders als eine Nachricht schreibt sich ein Meinungsbeitrag nicht von selbst – er muss von Grund auf erschaffen werden.
Zu diesem alchemistischen Akt gehören drei Zutaten. Erstens die Werte, Prioritäten und Zielsetzungen des Autors. Zweitens eine persönliche Erklärung dafür, wie die großen Kräfte, das enorme Räderwerk der Welt, die Ereignisse prägen. Und drittens eine Vorstellung davon, wie Menschen und die Kultur allgemein reagieren (oder nicht), wenn diese großen Kräfte auf sie wirken.
Wenn ich von den Werten, Prioritäten und Zielsetzungen des Autors spreche, dann meine ich damit die Dinge, an denen mir am meisten gelegen ist und die ich gern verwirklicht sehen würde. Diese Werte helfen bei der Auswahl von Themen, die eine Meinung wert sind, und sie prägen diese Meinung. Für einen Kommentator ist es vollkommen in Ordnung, seine Meinung zu ändern – aber man muss eine haben, man kann nicht für alles und nichts stehen oder nur für wohlfeile und unangreifbare Positionen. Der Verfasser von Meinungsbeiträgen muss von einem Wertesystem ausgehen, aus dem sich ergibt, was zu unterstützen und was abzulehnen ist. Sind Sie Kapitalist, Kommunist, Anarchist, Keynesianer, Konservativer, Liberaler, Neoliberaler oder Marxist?
Mit dem enormen Räderwerk der Welt meine ich das, was ich gern »die Maschine« nenne (mit einer Verbeugung vor dem legendären Hedgefund-Manager Ray Dalio, der die Wirtschaft als »Maschine« bezeichnet). Autoren von Meinungsartikeln brauchen eine umfassende Arbeitshypothese, die erklärt, wie diese Maschine funktioniert, denn ihr Ziel besteht ja darin, diese Maschine im Sinne ihrer eigenen Werte zu beeinflussen. Wer keine Theorie darüber hat, wie die Maschine funktioniert, bewegt sie entweder in eine Richtung, die gar nicht den eigenen Werten entspricht, oder er bewegt sie gar nicht.
Und wenn ich von Menschen und Kultur spreche, dann meine ich damit, wie verschiedene Menschen und Kulturen von der Maschine beeinflusst werden und wie sie mit ihren Reaktionen umgekehrt auf die Maschine zurückwirken. Letztlich geht es in Meinungsartikeln immer um Menschen und um die verrückten Dinge, die sie sagen, tun, hassen, lieben und erhoffen. Ich stütze mich in meinen Beiträgen gern auf Daten und Fakten, aber Sie sollten eines nie vergessen: Auch ein Gespräch mit einem anderen Menschen ist eine Tatsache. Die meisten Leser finden in der Regel Meinungsbeiträge, in denen es um Menschen geht und nicht um Zahlen. Vergessen Sie nicht, dass der größte Bestseller aller Zeiten eine Sammlung von Geschichten über Menschen ist: die Bibel.
Ich erklärte Bojia, die wirkungsvollsten Meinungsartikel entstünden aus der richtigen Mischung dieser drei Zutaten. Ohne Werte, die darüber informieren, für was man steht, bleiben sie leblos. Dov Seidman erinnert mich gern an einen Spruch aus dem Talmud: »Worte, die aus dem Herzen kommen, berühren andere Herzen.« Und Worte, die nicht aus dem Herzen kommen, berühren niemanden. Um das Mitgefühl der Leser zu wecken, muss man selbst mitfühlen. Aber auch ohne Position gegenüber den größten Kräften, die unsere Welt prägen, bleibt ein Meinungsartikel wirkungslos. Natürlich ist unsere Sicht der Maschine nicht unfehlbar und in Stein gemeißelt. Sie bleibt immer im Fluss und verändert sich durch neue Informationen und mit den Veränderungen der Welt. Aber es ist schwer, andere Menschen von etwas zu überzeugen, wenn man ihnen keinen überzeugenden Zusammenhang präsentiert – warum diese Handlung jenes Ergebnis zeitigt, weil die Maschine so und so funktioniert. Und schließlich funktioniert ein Meinungsartikel nur, wenn er von echten Menschen handelt und von ihnen inspiriert ist. Er darf kein Plädoyer für abstrakte Prinzipien sein.
Ihre Werte, Ihre Sicht der Maschine und Ihr Verständnis ihres Zusammenspiels mit Menschen und Kulturen ergeben zusammen eine Weltsicht, in deren Horizont Sie zu allen möglichen Situationen Stellung beziehen können. So wie Datenexperten Algorithmen benötigen, um hinter den unstrukturierten Daten die entscheidenden Muster zu erkennen, benötigt ein Kommentator eine Weltsicht, um etwas zu erhellen oder zu bewegen.
Aber um diese Weltsicht frisch zu halten, muss man fortwährend dazulernen, meinte ich zu Bojia. – Heute mehr denn je. Wer in dieser sich ständig verändernden Welt auf Formeln und Schablonen zurückgreift, ist verloren. Vielmehr ist eine grenzenlose Neugierde nötig sowie die Bereitschaft, mit Blick auf die verschiedensten Disziplinen nach Erklärungen für das Funktionieren der Maschine zu suchen. Lin Wells von der National Defense University in Washington, D. C. bezeichnet diesen strategischen Ansatz, der auch diesem Buch zugrunde liegt, als »dezidiert gesamtheitlich und allumfassend«. Das bedeutet, bei der Analyse so viele relevante Menschen, Prozesse, Fachgebiete, Organisationen und Techniken wie möglich einzubeziehen – Faktoren, die oft getrennt voneinander betrachtet oder gar nicht mit einbezogen werden. So lassen sich zum Beispiel die Veränderungen der heutigen Weltpolitik nur verstehen, wenn man die Entwicklungen in der Computertechnologie, der Telekommunikation, der Umwelt, der Globalisierung und der Demografie zusammennimmt. Nur so erhält man ein umfassendes Bild.
Dies sind die wesentlichen Lektionen, die ich Bojia in meinen Mails und unseren Gesprächen vermittelte. Aber ich muss Ihnen etwas gestehen, das ich auch ihm am Ende unseres letzten Treffens gestand: Ich hatte mir noch nie so eingehende Gedanken über mein Handwerk und einen guten Meinungsartikel gemacht, ehe unsere Zufallsbegegnung mir den Anstoß dazu gab. Wenn ich nicht innegehalten und mit ihm gesprochen hätte, dann hätte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, mit welchem Handwerkszeug ich mir in dieser Zeit der rasanten Veränderungen die Welt erkläre.
Nach unseren Begegnungen ratterte es in meinem Gehirn. Ich stellte mir dieselben Fragen, die ich auch Bojia gestellt hatte: Was sind meine Werte? Woher kommen sie? Wie funktioniert die Maschine heute? Was weiß ich über die Auswirkungen der Maschine auf verschiedene Menschen und Kulturen und über deren Reaktionen?
Dann habe ich innegehalten, um über diese Fragen Rechenschaft abzulegen. Meine Antwort ist der Rest dieses Buches.
Teil 2 handelt von der Maschine, also von den Kräften, die meiner Ansicht nach heute die Welt bewegen. So viel vorab: Die Maschine wird von der Technologie, der Globalisierung und dem Klimawandel angetrieben, die ineinandergreifen und gleichzeitig an Fahrt aufnehmen.
Und in Teil 3 geht es um die Frage, wie diese beschleunigenden Kräfte auf Menschen und Kulturen wirken. Also darum, wie sie Arbeit, Politik, ethische Entscheidungen und Gemeinschaften verändern, bis hin zu der Kleinstadt in Minnesota, in der ich aufgewachsen bin und die mein Wertesystem geprägt hat.
Dieses Buch ist also nichts anderes als ein langer Kommentar über die Welt von heute. Es will die entscheidenden Kräfte benennen, die heute den Umbruch in aller Welt antreiben. Es will erklären, wie sich dieser Umbruch auf Menschen und Kulturen auswirkt. Und es will die Werte und Reaktionen benennen, mit deren Hilfe diese Kräfte gewissermaßen so gemanagt werden können, dass sie meiner Ansicht nach den meisten Menschen an den meisten Orten am meisten nutzen und am wenigsten schaden.
Man weiß nie, was passiert, wenn man sich die Zeit nimmt, um mit einem anderen Menschen zu sprechen. Bojia bekam einen Anstoß für seinen Blog, und ich bekam einen Anstoß zu diesem Buch. Verstehen Sie es als optimistische Anleitung zum Erfolg und Widerstand in diesem Zeitalter der Beschleunigung, vermutlich einem der großen Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit.
Als Journalist staune ich immer wieder, dass man beim zweiten Blick auf eine Geschichte oder einen historischen Moment oft Dinge entdeckt, die man auf den ersten Blick vollkommen übersehen hat. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, wurde mir sofort klar, dass die technische Revolution, die die Maschine heute antreibt, in ein Jahr fällt, in dem auf den ersten Blick recht wenig los gewesen zu sein schien – das Jahr 2007.
Was bitte schön soll denn schon 2007 passiert sein?