cover

Das Buch

hab mein Herz geöffnet
und vergessen, es zu schließen,
du bist reinspaziert,
hast es dir bequem gemacht.

Das bin ich nicht. Das ist nicht mein Leben. Seit ihre Mutter gestorben ist, hat Sanna nur noch diesen einen Gedanken. Seit ihr Vater sie so sehr braucht. Seit ihre beste Freundin ihr so fremd geworden ist. Noch nie hat Sanna sich so allein gefühlt. Aber dann lernt sie Yousef kennen, den Jungen mit den Abermillionen Wimpern und dem unbändigen Mut, die Welt zu sehen. Endlich weiß Sanna wieder, wie das geht: leben.

Die Autorin

© JuliePike

Neda Alaei, geboren 1991, wuchs in Moss auf und lebt heute in Oslo. Sie ist Absolventin des Norwegischen Kinderbuchinstituts und arbeitet als Sozialarbeiterin. „Zwischen uns tausend Bilder“ ist ihr erster Roman.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Torhild, Aleksander und Papa

Das Herz wird nie voll,
ein ganzes Leben passt hinein.

All das und noch mehr,
was wir bekommen und verlieren.

Kent – Andromeda

Bei Papa und mir gibt es nur eine Regel. Es gibt sie seit letztem November, seit Mama tot ist, und sie ist ganz einfach:

Wenn Papa schreibt, störe ich ihn nicht.

Schwer zu sagen, wer die Regel aufgestellt hat, sie wurde ja nie aufgeschrieben, geschweige denn laut ausgesprochen.

Papa sitzt an seinem Schreibtisch im Wohnzimmer, umgeben von Papierstapeln und Bleistiftstummeln.

Er hat beschlossen, dass es zum Abendessen Fischauflauf gibt, und ich springe noch mal schnell unter die Dusche. Danach kämme ich mir langsam die Haare, überlege, ob ich sie föhnen soll, lasse es aber bleiben. Das würde nur Krach machen. Also binde ich sie zu einem Pferdeschwanz zusammen und schleiche an Papa vorbei in mein Zimmer.

Plötzlich merke ich, dass es angebrannt riecht. Als ich die Wohnzimmertür öffne, wird der Geruch stärker. Das Essen!, denke ich und werfe einen Blick auf die Uhr, habe aber keine Ahnung, wann Papa den Fisch in den Ofen geschoben hat. Ich renne an ihm vorbei in die Küche, wo mir dicke Rauchschwaden entgegenschlagen.

»Verdammt!«, rufe ich und versuche, den Rauch wegzuwedeln.

Ich will den Auflauf aus dem Ofen holen, zittere aber so sehr, dass mir alles aus den Händen rutscht und ich mich am Rost verbrenne.

»AUTSCH!«

Rost und Fischauflauf krachen zu Boden.

»Was ist da los?«, höre ich Papas Stimme.

Ich fahre herum und blicke geradewegs in seine leeren Augen. Er steht in der Tür, die Hände fest in die Hüfte gestemmt.

»Papa, der Fischauflauf –«, fange ich an, aber er schneidet mir das Wort ab.

»Sanna, ich schreibe! Ist es wirklich so schwer, mich nicht zu stören?«

Die verkohlte Aluschale auf dem Boden bemerkt er gar nicht.

»Du hast das Essen vergessen«, sage ich ruhig. »Es ist total verbrannt.«

»Was?«, fragt er, aber noch bevor ich antworten kann, heult der Rauchmelder auf. Ich presse mir die Topflappen auf die Ohren, um den Lärm auszusperren.

Schaue zu Papa, sehe die Verwandlung in seinen Augen. Es ist, als würde er aus einem langen Winterschlaf erwachen und ganz langsam begreifen, was passiert ist.

Er wimmert.

Sofort nehme ich die Topflappen von den Ohren und strecke die Arme aus, um Papa aufzufangen. Dann halte ich seinen langen knochigen Körper und wiege ihn, umgeben vom Rauchmeldergeheul.

Schließlich bugsiere ich Papa ins Schlafzimmer. Er legt sich ins Bett, aber obwohl ich ihn zudecke, hört er nicht auf zu zittern. Ich gehe zurück in die Küche, klettere auf einen Stuhl und drücke den Knopf am Rauchmelder, damit es endlich still wird – in der Küche, in der Wohnung. In meinem Kopf.

Dann gehe ich wieder zu Papa und bleibe neben dem Bett sitzen, bis er eingeschlafen ist.

Bei Papa und mir gibt es nur eine Regel, denke ich, als ich am Küchentisch sitze und mein Abendessen durch Kaffee ersetze. Am liebsten würde ich mich durch Papas Zettelberg wühlen, um zu verstehen, was in ihm vorgeht, wenn er schreibt und in den Wörtern verschwindet – aber das tue ich nicht, habe ich noch nie getan.

Als die Kanne leer ist, schleiche ich mich in mein Zimmer, schließe leise die Tür und lasse mich auf den Schreibtischstuhl plumpsen. Auf dem Tisch warten haufenweise unerledigte Hausaufgaben. Aber von dem vielen Kaffee ist mir so schwindelig, dass ich lieber mein Handy aus der Tasche hole und Instagram und Snapchat checke, zum ungefähr tausendsten Mal heute.

Ich schaue, ob Mie irgendwas gepostet, ob sie in den Ferien etwas Spannendes unternommen und mich nicht dazu eingeladen hat.

Als ich am nächsten Morgen nach Papa schaue, guckt unter der Decke nur sein brauner Strubbelkopf hervor, gerade so viel, dass ich einen Streifen Stirn sehe. »Mach’s gut!«, flüstere ich und fahre ihm mit den Fingern behutsam durchs Haar. Er bewegt sich ein wenig, weg von meiner Hand.

Ich fülle den Kaffeerest in eine Thermoskanne und hole Papas Becher aus dem Schrank, auf dem in grünen Buchstaben und in krakeliger Kinderhandschrift, die mir vorkommt wie aus einem längst vergangenen Jahrhundert, Weltbester Papa steht.

Dann fische ich einen kleinen Zettel und einen grünen Filzstift aus dem Rucksack, hab aber keine Ahnung, was ich schreiben soll. Am Ende male ich nur ein kleines Herz. Mit ein paar winzigen Notenschlüsseln drum herum.

Den Zettel lege ich neben die Kanne, den Becher und die Tageszeitung.

Den ganzen Weg zähle ich meine Schritte. Der erste Schultag nach den Herbstferien.

In der Klasse setze ich mich an meinen Platz. Blicke auf die Uhr an der Wand und bereue, dass ich heute Morgen keine ganze Kanne Kaffee für mich allein gekocht habe. Bis Norwegisch anfängt, gähne ich vor mich hin, versuche dann, dem Unterricht zu folgen, doch die meiste Zeit schiele ich zu Mie, meiner allerbesten Freundin am anderen Ende des Klassenzimmers.

Meine allerbeste Freundin, die heute Morgen vergessen hat, mir Hallo zu sagen. Die seit Beginn des Schuljahrs im August eine neue beste Freundin hat. Mitra und Mie sitzen da wie aneinandergeklebt, als wäre es niemals anders gewesen.

Ich warte darauf, dass Mie in meine Richtung sieht, aber vergebens. Also schaue ich irgendwann aus dem Fenster, zu verlassenen Schaukeln, Bäumen im Wind und durch die Luft wirbelnden Blättern. Ich starre auf alles, was man anstarren kann, während die Stimme von Trine, unserer Norwegischlehrerin, immer leiser wird und schließlich verstummt.

»Sanna?«, höre ich plötzlich. Ich öffne die Augen, im Klassenzimmer ist es mucksmäuschenstill, und Trine sitzt mit schief gelegtem Kopf vor meinem Tisch in der Hocke.

»Oh Gott, tut mir leid!«, sage ich und raffe schnell meine Sachen zusammen. Wie spät ist es eigentlich? Welches Fach kommt als Nächstes?

»Macht doch nichts, Sanna«, sagt Trine lächelnd. »Müde heute? Ist immerhin der erste Tag nach den Ferien!«

»Ja. Oder nein. Doch. Ein bisschen vielleicht. Nein, also, alles in Ordnung. Ehrlich.«

Ein einfaches Ja oder Nein hätte wohl gereicht. Mein Bauch grummelt von dem Riesenbecher Kaffee.

Trine lächelt mich immer noch an, und auf ihrem Gesicht erscheinen kleine Grübchen.

Die sind mir bis heute nie aufgefallen.

Irgendwas in Trines Blick lässt eine Erinnerung in mir aufblitzen, und plötzlich fühlen meine Wangen sich ganz warm an, wie in der Sommersonne, wie damals auf der Bergtour mit Mie. Ein ganzes Jahr ist das jetzt her, aber egal.

»Bist du sicher?«, fragt Trine und legt mir eine Hand auf die Schulter.

»Ganz sicher«, antworte ich und schaue unwillkürlich zu Boden.

Als hätte ich Angst, dass Trine sonst sieht, was mir durch den Kopf geht.

Ich packe meine Sachen zusammen und gehe los. Spüre Trines warmen Blick im Nacken, bis zur letzten Stunde und den ganzen Weg bis nach Hause.

Papa sitzt in der Küche und starrt ins Leere, die Hände um seinen Becher gelegt. Ich schalte die Kaffeemaschine aus, weil es schon ganz verbrannt riecht. Dann frage ich Papa nach seinem Tag. Keine Antwort. Als ich den halb vollen Becher aus seinem Griff löse, merke ich, dass der Kaffee längst kalt ist.

Wie lange sitzt Papa schon so da?

»Papa?«, frage ich, und da schaut er zu mir hoch. Seine Augen sind dunkel. Kein Grau, kein Grün, kein Blau. Keine Farbe. Was geht in ihm vor, wenn er hier den ganzen Tag allein ist?

»Was hältst du von Fischstäbchen zum Abendessen?«, frage ich und hole eine Packung aus dem Gefrierfach. Im Küchenschrank finde ich außerdem ein Paket Kartoffelbreipulver. Das Verfallsdatum war im Juni, aber ich schätze, das macht nichts.

»Was meinst du?«, frage ich und halte Papa die Packung unter die Nase. »Mit viiiel Ketchup!«

Mit einem Ruck steht Papa auf und verlässt die Küche. Ich vermische das Pulver mit Butter und Milch, lasse eine Pfanne heiß werden und lege die Fischstäbchen hinein. Sofort beginnt es zu brutzeln, und ich schalte eine Stufe runter, damit nichts anbrennt.

Ich finde Papa auf dem Sofa. Er starrt vor sich hin, auf den schwarzen Fernseher und das Bild dahinter an der Wand. Das Bild von ihm, Mama und mir. Ein Schnappschuss aus dem Sommer, in dem wir mit dem Auto quer durchs Land gereist sind.

Ich weiß nicht, was ich Papa noch sagen kann, was ich nicht schon gesagt habe. Am liebsten würde ich ihn hochheben, ihn an den Schreibtisch setzen und ihm einen Bleistift in die Hand drücken – wie bei einem kleinen Kind.

»Schau mal!«, würde ich sagen. »Ein Bleistift! Willst du nicht etwas schreiben?«

Dann wäre er erst mal beschäftigt.

Aber stattdessen wende ich mich zum Regal um, befreie den Plattenspieler mit der Hand von Staub und schalte ihn ein. Dann gehe ich die Plattensammlung durch, die fast ausschließlich aus Alben von Kent, einer schwedischen Rockband, besteht. Mama war ein Riesenfan, genauso wie Papa, und ich mag sie auch ziemlich gern, obwohl wahrscheinlich sonst niemand in meinem Alter Kent hört.

Am Ende ziehe ich eine der älteren Platten aus dem Regal und lege sie auf.

»Pass auf!«, rufe ich Papa zu. »An die erinnerst du dich bestimmt!«

Ich tue das jedenfalls. Erst knistert es leise, dann dringt aus dem Lautsprecher wunderschöne Musik. Gitarre, Schlagzeug, Gesang. Ich schließe die Augen und sehe sie vor mir. Papa und Mama. Sie kommen gerade von einem Konzert zurück. Für mich hatten sie einen Babysitter organisiert. Ich stehe kerzengerade im Bett, in dem dunkelblauen Schlafanzug mit Sternen drauf. Papa setzt sich auf die Bettkante und erzählt mir haarklein, welche Songs gespielt wurden, während Mama sich kämmt und gähnt.

»Das können wir doch alles morgen noch erzählen, Mikkel«, sagt sie, aber da reißt Papa die Arme in die Luft, schwingt sie hin und her und singt aus vollem Hals mit.

»Das war das beste Konzert der Welt«, sagt er.

Eigentlich hat er das nach allen Konzerten gesagt, aber ich habe ihm trotzdem jedes Mal geglaubt.

»Es war magisch. Man konnte die Stimmung förmlich greifen!«

Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, was er damit meint. Wie man eine Stimmung greifen kann.

Ich drehe mich wieder zu ihm und denke daran, wie glücklich die Musik ihn früher gemacht hat. Aber jetzt starrt er zu Boden und scheint gar nichts von dem Song mitzubekommen.

Schritt für Schritt schleiche ich aufs Sofa zu, bewege mich im Takt, nehme Papas Hände und ziehe ihn zu mir. Es geht ganz leicht, obwohl er mir nicht mal in die Augen sieht.

Komm, lass uns weg von hier,
irgendwo hin,
weit weg von hier,
lass uns die sein, die verschwunden sind.

Ich singe, auch wenn Papa stumm bleibt. Schließe die Augen und stelle mir vor, wir wären auf einem Konzert. Mein Herz wird größer und meine Wangen werden warm, der Himmel öffnet sich, und hinter den Wolken blitzt die Sonne hervor. Und plötzlich merke ich, dass ich die Stimmung greifen kann, dass sie magisch ist – das muss Papa damals gemeint haben. Jokke Berg, der Sänger von Kent, hat beim Singen diesen sehnsuchtsvollen Blick, und ich singe mit. Papa, Jokke und ich.

Aber hier im Wohnzimmer sind nur Papa und ich, allein. Papa, der sich aus meiner Umklammerung löst, die Musik runterdreht und sich an den Schreibtisch setzt.

Den Rest des Abends schreibt Papa. Ich störe ihn nicht.

Irgendwann höre ich, wie er ins Bad geht und danach die Schlafzimmertür zuzieht.

Ich lege mich auch hin, kann aber nicht einschlafen. Also greife ich nach meinem Handy, mache Instagram auf und sehe als Erstes, dass Mie und Mitra nach der Schule in der Stadt waren. Sie haben Storys gepostet, in denen sie Kakao trinken, mit Herbstfilter und allem Drum und Dran.

Dabei ist Mitra so ziemlich die Letzte, die einen Filter nötig hat.

Ich drücke das Handy an die Brust, schaue an die Decke. Denke an die Zeit, als wir noch unzertrennlich waren, Mie und ich, vom allerersten Schultag an.

Es begann damit, dass ich sie angestarrt habe.

Ich sah sie am anderen Ende des Schulhofs, mit ihrem braunen Teddy-Rucksack, drei Zöpfen und einer Riesenzahnlücke. Ich starrte auf ihre braunen Haare, ihre um die Rucksackträger geschlossenen Finger, ihre roten Lackschuhe, mit denen sie Steinchen vor sich her kickte.

»Warum glotzt du so?«, fragte sie und kam auf mich zu.

Von da an waren wir Freundinnen. Beste Freundinnen, bis zum Ende der Neunten, bis zu dem Tag, an dem Mitra kurz vor den Sommerferien auf unsere Schule kam, sich neben Mie setzte und alles anders wurde – für mich jedenfalls.

Ob Mie überhaupt merkt, dass sich etwas verändert hat, dass wir fast gar nichts mehr zusammen unternehmen? Denkt sie genauso selten darüber nach, wie sie mir jetzt morgens Hallo sagt?

Ich nehme wieder mein Handy und lese mir jede einzelne unserer Nachrichten durch.

Seit den Sommerferien frage immer nur ich, ob wir uns mal wieder treffen. Mie antwortet zwar meistens, dass sie Zeit hat, aber im Gegensatz zu früher benutzt sie keine Emojis mehr. Die letzten hat sie als Antwort auf eine Nachricht geschickt, in der ich sie wie immer »Mama Mie« genannt und mit »Sanna Sonne« unterschrieben habe – zwei Tänzerinnen im roten Kleid, eine blond, eine dunkelhaarig.

Ich mache Snapchat auf. Mie hat Snaps gepostet, in denen Mitra und sie Kakao trinken und danach mit der Straßenbahn fahren. Offensichtlich muss man in öffentlichen Verkehrsmitteln neuerdings die Finger zu Peace-Zeichen hochstrecken und einen Haufen Selfies machen, die man mit reichlich Emojis und coolen Filtern pimpen kann.

»M’n’M« steht auf einem Bild. Klingt natürlich besser als »M und S«.

Ich tippe eine Nachricht ein.

Hey ☺ Treffen wir uns bald mal wieder? ☺ ☺

Aber ich drücke nicht auf Senden. Stattdessen richte ich mich im Bett auf, knipse die Nachttischlampe an und starre eine gefühlte Ewigkeit auf meine Frage. Als würde ich darauf warten, dass Mie mir zuvorkommt, dass sie sich entschuldigt, dass sie schreibt, sie vermisse mich, ein Nachmittag mit Mitra, Kakao und Herbstfilter sei viel langweiliger, als sich mit mir zu treffen. Aber es kommt keine Nachricht, und am Ende drücke ich doch auf Senden und lasse das Handy schnell unterm Kopfkissen verschwinden. Dann schleppe ich mich ins Wohnzimmer, schüttle die Sofakissen auf, falte die Decke zusammen, räume ein paar Bücher ins Regal.

Als ich einen Blick auf die Uhr werfe, merke ich, wie spät es inzwischen ist. Ich bin müde, aber schlafen will ich noch nicht. Also verschwinde ich in meine Gedanken, in die Bilder in meinem Kopf. Wache Nächte mit Mie, die immer zu kurz waren, weil wir so viel zu bequatschen hatten. Nie war es so still zwischen uns, wie es jetzt ist.

Nach einer Weile schleiche ich in mein Zimmer zurück. Die Nachricht ist als gelesen markiert.

Seufzend drehe ich mich um und gehe in die Küche, räume leise sämtliche Teller und Gläser aus dem Schrank, wische die Regalböden ab und stelle alles wieder zurück. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer komme ich an Papas Schreibtisch vorbei und knipse das Licht an. Am liebsten würde ich hier auch ein bisschen Ordnung schaffen, aber ich starre nur auf den Zettelberg, vollgeschriebene Blätter, übersät mit Kaffeeflecken und Radiergummispuren.

Papa und die Wörter, über die ich nichts weiß.

Plötzlich höre ich ein schwaches Summen – mein Handy! Ich schalte das Licht aus, rase in mein Zimmer und greife unters Kissen.

Klar. Freitag?

Am liebsten würde ich mit hundert Emojis antworten.

Mie verdreht die Augen. Es ist Freitagabend, und wir sind bei ihr. Sie erzählt, wie anstrengend es ist, die Hälfte der Zeit bei ihrer Mutter und die andere bei ihrem Vater zu sein. Bei ihrer Mutter, die kaum zu Hause ist. Bei ihrem Vater, der nicht mal so tut, als würde er sich für sie interessieren.

Ich überlege, wie es wäre, wenn ich mich auch zweiteilen würde. Wenn ich mal bei Papa, mal bei Mama wäre. Halb lebendig, halb tot.

»Und ständig machen sie mir ein schlechtes Gewissen, wenn ich zu dem anderen gehe – obwohl das doch die Abmachung ist. Obwohl sie eigentlich einen Scheiß darauf geben, wo ich bin.«

Während sie redet, schaut sie mich nicht ein einziges Mal an. Ihr Blick klebt die ganze Zeit an ihrem Handy, sie drückt auf dem Display herum, und ihre Augen flackern hin und her.

Ich lächle und nicke mechanisch wie eine Puppe. Wende den Blick nicht eine Sekunde von ihr ab, für den Fall, dass sie doch noch von ihrem Handy aufschaut. Sie soll merken, dass ich sie sehe, dass ich mir Mühe gebe, dass ich immer noch ihre Freundin bin.

»Klingt echt anstrengend«, sage ich.

Mie reagiert nicht.

»Auch wenn ich da natürlich nicht mitreden kann«, füge ich hinzu und lache leise, merke aber sofort, wie bescheuert es klingt. Am liebsten würde ich ihr sagen: Du hast wenigstens eine Mutter. Eine Mutter, die rummeckert und nervt und sich Sorgen macht. Ich will ihr sagen, dass eine überbesorgte Mutter immer noch besser ist als eine, die unter der Erde liegt und langsam verfault, weil ihr Herz aufgehört hat zu schlagen. Deren Haare und Nägel nicht mehr wachsen, weil das nur ein Mythos ist.

Dass eine rumnervende Mutter besser ist als ein Vater, der höchstens noch dazu imstande ist, ab und zu einen Bleistift über ein Blatt Papier wandern zu lassen.

Aber stattdessen sitze ich stumm da und denke an Mitra, die bestimmt viel bessere Ratschläge auf Lager hat als ich. Und wenn ich mich nicht täusche, bekommt Mie sie in genau diesem Augenblick serviert – deshalb ist sie pausenlos mit dem Handy beschäftigt.

Ich sehe mich im Zimmer um und denke daran, dass ich schon mindestens tausend Mal hier war. Im Regal stehen weniger Bücher als früher. Eine Wand ist jetzt in einem dunklen Lilaton gestrichen und mit Postern beklebt, auf denen Menschen abgebildet sind, die ich nicht kenne. Musiker? Bands? Schauspieler? Keine Ahnung. Ich denke an die Brettspiele, die Mie früher hatte, die Spielzeugautos und Puppen und Buntstifte, die auf dem Boden verstreut lagen, wenn ich zu Besuch war. An unsere Lachkrämpfe und durchgemachten Nächte mit Süßigkeiten, Chips und Limo. Ich wünschte, ich könnte sagen, wann und warum das aufgehört hat.

Ich schaue zu Mie, die Selfies macht, grinsend und Grimassen schneidend.

»Mitra wirkt nett«, sage ich plötzlich und bereue es sofort.

Endlich blickt Mie von ihrem Handy auf. Ihr Grinsen verschwindet, und ihre Augenbrauen schnellen nach oben wie bei einer Zeichentrickfigur.

»Äh, ja?«, antwortet sie und guckt mich baff an.

Ich nicke. »Cool.«

Und schon starrt sie wieder auf ihr Handy.

Zwischen dem Klingelschild der Familie Schistad in der Vallegata und dem der Familie Waage in der Herman Foss’ gate liegen gut siebenhundert Schritte. Das habe ich nachgezählt, ungefähr tausend Mal. Ich gehe durch den Park, vorbei an dem braunen Blockhaus, das Bärenhaus genannt wird, an Bäumen und Rasenflächen. Ich hole mein Handy heraus und checke Snapchat und Instagram, um zu sehen, ob Mie etwas gepostet hat, ob sie der Welt mitteilt, dass wir uns getroffen haben, ob sie unseren Abend in hundert Emojis zusammenfasst. Aber ich sehe nur, dass sie Mitra und Jahaira in ein paar lustigen Facebook-Videos markiert hat.

Erst als ich in den Geitmyrsveien biege, merke ich, wie spät es ist. Aber Papa hat eh nichts gemerkt, das weiß ich. Hauptsache, ich habe ihn den ganzen Abend nicht gestört.

Als ich das Wohnzimmer betrete, dauert es einen Moment, bis ich ihn entdecke.

»Hallo«, sage ich, aber Papa reagiert nicht. Er sitzt auf dem Sofa und schaut Nachrichten. Ich frage mich, wie viel er überhaupt mitbekommt.

Gar nichts, schätze ich.

»Nacht«, sage ich und gehe in mein Zimmer.

Dann scrolle ich noch mal Mies Nachrichten durch.

Die letzte SMS vor den Sommerferien lese ich immer und immer wieder.

Die Neue ist ja soooooo überzeugt von

sich! Whatever, freu mich schon auf unsere

nächste Übernachtungsparty. Bald sind

Ferien! <3 Drück dich, Mama Mie

Die Neue. Tja, ganz so schlimm war sie dann wohl doch nicht.

Als ich am Montagmorgen in die Klasse komme, sitzt Mie auf dem Pult und baumelt mit den Beinen. Natürlich neben Mitra.

Mitra, das hübscheste Mädchen der Stufe, wenn nicht sogar der Schule. Die Erste in unserer Klasse, die sich richtig schminkt. Rosafarbener Lippenstift, schwarzer Lidstrich. Wenn sie lacht, wirft sie immer ihre glänzenden schwarzen Haare zurück. Als würde sie rund um die Uhr in einem Werbespot mitwirken und einen Kosmetikartikel anpreisen, von dem in Wahrheit kein Mädchen so hübsch wird wie sie.

Ich fasse mir ein Herz und gehe auf die beiden zu, die Fäuste fest um die Rucksackträger.

»Hey, Mama Mie«, sage ich, weil wir uns am Freitag getroffen haben und weil ich sie schon viel zu lange nicht mehr so genannt habe. Aber Mie starrt mich an, als hätte ich mir keine schlimmere Begrüßung einfallen lassen können.

Mitra antwortet für sie.

»Na, du«, sagt sie laut und selbstsicher, als wäre sie der Mittelpunkt der Welt, was sie wahrscheinlich auch ist. Ich hätte die beiden einfach nicht stören sollen. Mitra mustert mich von oben bis unten, meine weißen Sneaker, die blaue Jeans, den gelben Pulli, und gibt mir das Gefühl, dass ich etwas komplett anderes tragen sollte. Vor allem der Pulli scheint ein Fehlgriff zu sein. Mitra rümpft die Nase, als fände sie ihn hässlich oder zu kindlich.