Cover

Für alle leidenschaftlichen Träumer

und sensiblen Seelen da draußen

Playlist

Vignette

Flora Cash – You’re Somebody Else

Chord Overstreet – Hold On

Lewis Capaldi – Bruises

Gracie Abrams – Long Sleeves

Michael Schulte – Falling Apart

ARIZONA – Nostalgic

Sasha Sloan – Version Of Me

Shawn Mendes – Perfectly Wrong

Alina Baraz feat. Khalid – Electric

Isak Danielson – Ending

Anson Seabra – Broken

Sabrina Carpenter – Exhale

The 1975 – Somebody Else

SYML – Where’s My Love

Billie Eilish – Ocean Eyes

Anson Seabra – Can You Hear Me

Claude Debussy – Clair de lune

Loren Allred – Never Enough

Luca Fogale – I Don’t Want to Lose You

Martin Garrix feat. Khalid – Ocean

Prolog

Vignette

Abby

Vor zehn Jahren

Es war Nacht der Wünsche.

Immer wenn bunte Lichter am Himmel explodierten und in einem Farbspiel aus Silber, Gold und Rot auseinanderstoben, durfte ich mir etwas wünschen.

Ich stand zwischen Mommy und Daddy, die die Arme umeinander gelegt hatten und voller Zuversicht einer neuen Zeit entgegenblickten. Eine Hand hatten sie jeweils auf meiner Schulter platziert, sodass wir zusammen einen Kreis bildeten. Einen Kreis, den man nicht durchbrechen konnte und der mindestens so hell strahlte wie die Kringel am Himmel.

Mommy kniete sich zu mir herunter und in ihren eisblauen Augen spiegelte sich das Funkeln von tausend Lichtern wider. Sie fuhr mit dem Daumen sanft über meine Wange und wischte die Schneeflocken weg, die meine Haut geküsst hatten.

Ich kicherte. »Das kitzelt.«

Mommy lächelte und verriet mir mit einem Zwinkern, dass es endlich so weit war. Sie gab mir ihre Hand, die ich fest umschloss. Dann hob ich den Kopf und atmete tief ein und aus. Ein Wölkchen bildete sich vor meinem Gesicht und verblasste im Schein der Lichter.

»Dieses Mal kann es gerne ein anderer Wunsch sein.« Daddy strubbelte mir durchs Haar. »Du hast eine endlose Auswahl.«

Ich bedankte mich im Stillen dafür, dass ich frei wählen durfte, aber griff so wie in den letzten Jahren wieder nach dem Wunsch, der am schönsten glitzerte.

»Prinzessin«, flüsterte ich mit geschlossenen Augen. »Prinzessin auf dem Eis.« Genauso wie Mommy, fügte ich in Gedanken hinzu.

Als ich die Augen wieder öffnete, nahm sie mich und Daddy an der Hand. In dem Moment spürte ich bereits, wie mein Wunsch seine Magie entfachte.

Danach gingen wir endlich aufs Eis. Kaum betrat Mommy es, war sie bereits von einer majestätischen Aura umgeben. Ihre Bewegungen waren weich und schön. Sie glitt über das gefrorene Wasser, als würde sie schweben. Und jedes Mal, wenn sie sich drehte, war es wie ein magischer Tanz, den ich nur aus Märchen kannte. Sie war die Beste von allen. Die Königin auf dem Eis.

Daddy half mir dabei, in kleinere Schuhe zu schlüpfen, die nicht so schön waren wie die von Mommy. Je fester er die weißen Bänder um meine Füße schnürte, umso vollständiger fühlte ich mich.

Dann stellte er sich auf und bot mir seinen Arm an. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Prinzessin?«

»Daddy! Nein!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin noch keine Prinzessin. Ich habe mich noch nicht verwandelt.«

»Entschuldigung, mein Schatz.« Er versuchte es erneut. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Fräulein?«

Ich nickte eifrig, griff nach seinem Arm und ließ mir von ihm auf die Tanzfläche helfen, wo auch andere Anwärterinnen auf den Thron bereits ihr Können unter Beweis stellten. Eine mit Zöpfen machte das schon so gut, dass ich für einen Moment fürchtete, sie würde mich in den Schatten stellen. Aber dann glitt Mommy an uns vorbei, sah mich an, mit einem Lächeln auf ihren Lippen, das versprach, dass ich die Einzige war, die ihr auf den herrschaftlichen Stuhl folgen durfte. Schließlich floss durch unsere Adern dasselbe Blut.

Sie flog über das gefrorene Wasser, verteilte bei jeder Drehung die Kristalle, die sich in ihren Haaren verfangen hatten, wie Glitzerstaub in der Luft. Jeder, an dem sie vorbeiglitt, war wie verzaubert, hielt an und hatte nur noch Augen für sie.

Auch Daddy war wie versteinert. Er hatte das Herz der Königin bereits vor Ewigkeiten gewonnen – obwohl er selbst ein Tölpel auf dem Eis war – und doch betrachtete er sie, als würde er ihre Magie zum ersten Mal erblicken.

Ich zog an seinem Arm, damit wir uns endlich in Bewegung setzen konnten. Meine ersten Schritte waren ungelenk und wacklig. Wie jeden Winter, wenn ich wieder in Kontakt mit der Kälte unter mir kam.

Ich streckte den Fuß und wollte nach rechts, rutschte aber weg. Daddy bewahrte mich vor dem Sturz, indem er mich im letzten Moment an sich zog.

»Langsamer«, sagte er, griff nach meiner anderen Hand und stand nun vor mir. Vorsichtig zog er mich nach vorne. »Schritt für Schritt.«

Ich nickte.

Schritt. Schritt. Schri… Rutsch!

Daddy zog mich hoch, ehe meine Knie auf dem Boden aufschlagen konnten. Aber eine Windböe sorgte dafür, dass mein Schal sich von meinem Hals löste.

Als Daddy mich losließ, um ihn festzuhalten, fürchtete ich jeden Moment wieder das Gleichgewicht zu verlieren, aber ich schaffte es, aufrecht stehen zu bleiben, was mich mit Stolz erfüllte.

Daddy bückte sich, um meinen Schal zu fassen zu kriegen, aber der Wind trug ihn davon. »Verflixt!«, fluchte er und jagte ihm nach. Trotz seiner festen Schuhe kam er nicht so schnell vorwärts, denn er musste immer wieder den anderen Kindern und Eltern ausweichen.

Ich seufzte leise und blickte wieder zu Mommy, die sich gerade in einer ganz anderen Welt befand. Immer, wenn sie ihre Augen schloss, hielt sie sich in einem Palast aus purem Eis auf und tanzte, bis ihr die Füße wehtaten.

Ich wollte nichts mehr, als auch an diesem Ort zu sein. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Und noch einen. Und noch einen. Dann schloss ich die Augen.

Ich konnte den kristallenen Palast sehen. Er war wunderschön und mit tausenden Diamanten in Form von klitzekleinen Schneeflocken bestückt. Durch die großen Fensterfronten erhaschte ich einen Blick auf Mommy, die ein elfenbeinfarbenes Kleid trug, das bei jeder Bewegung leise klingelte und Glitzer in die Luft stoben ließ. Auf ihrem Kopf trug sie eine unbeschreiblich schöne Krone aus hauchdünnem Eis.

Ich streckte mich ihr entgegen, weil ich Teil dieser einzigartigen Welt sein wollte, doch der Wind ließ mich taumeln und zerstörte meinen Traum aufs Neue.

Als ich die Augen wieder öffnete, pochte mein Po vor Schmerzen. Ich sah die Welt plötzlich von unten. Wie Daddy gerade meinen Schal zu fassen kriegte. Wie Mommy tanzte und tanzte und tanzte.

Ich winkelte mein Bein an, um wieder nach oben zu gelangen und weiter zu trainieren, aber ich schaffte es nicht. Egal, wie ich die Arme und Füße streckte, es gelang mir nicht mich aufzurichten, um so aufrecht wie eine Prinzessin zu stehen.

Mommy sah mich nicht und Daddy wurde auf dem Weg zu mir immer wieder von der Menge aufgehalten. Die Kälte kroch meine Haut hoch, schmerzte plötzlich so sehr, dass meine Lippen zu zittern begannen.

Aber dann war da plötzlich diese Hand.

Sie gehörte einem Jungen, der ganz normale Straßenschuhe trug. Er war wohl auch ein Tölpel wie Daddy. Ich nahm sie an und während er mich hochzog, blickte ich in seine kastanienbraunen Augen, die einen Hauch von Trauer in sich trugen. Vielleicht wäre er ja gerne ein Prinz.

»Wo sind deine Eisschuhe?«, fragte ich ihn.

»Zu Hause«, antwortete er. Die Zahnfee hatte ihn bereits besucht. Der rechte Eckzahn war weg und jetzt wuchs in der Lücke ein neuer.

»Wie lange machst du das schon?«, fragte er mich und deutete auf meine Füße.

»Drei Jahre.« Stolz reckte ich das Kinn, wie es sich für eine Prinzessin gehörte.

Seine Augen weiteten sich. »Wow, so lange schon.«

Ich nickte. »Ja, jedes Mal an Silvester, wenn wir Tante Stella besuchen, übe ich ganz viel.«

»Ich wünschte mir, ich wäre auch so gut wie du«, sagte er und schmollte ein wenig.

»So gut wie ich?«, wiederholte ich überrascht. »Aber ich bin doch nur das Mädchen auf dem Eis. Guck mal! Das da drüben ist meine Mommy. Sie ist die Königin.«

»Dann bist du eine Prinzessin?«

»Noch nicht, aber bald«, antwortete ich hoffnungsvoll.

Kapitel 1

Vignette

Abby

Gegenwart

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Innerhalb eines Wimpernschlags öffnete ich den Chat und musste vor Enttäuschung die Zähne zusammenbeißen. Wieder nur eine nervige Werbeanfrage für einen anderen Account. Ich löschte sie und machte den Bildschirm wieder aus.

»An, aus, an, aus. Abby, ich dachte, wir hatten uns auf handyfreie Zeit geeinigt«, mahnte mein Vater mich von der Fahrerseite aus. »Wenn ich mein Geschäftstelefon für zwei Wochen zu Hause lassen kann, schaffst du das doch mit links.«

Ich ließ das Handy in meiner Jackentasche verschwinden. »Sorry, Dad. Kommt nicht wieder vor.«

Um ihm das zu beweisen, begann ich in Moms altem Märchenband zu blättern, der die ganze Fahrt über schon auf meinem Schoß lag, als könnte es mich vor allem Bösen beschützen. Doch kaum hatte ich ihn aufgeschlagen, vibrierte mein Handy erneut. Sofort war es wieder draußen. Dieses Mal war gerade jemand dabei, jedem meiner Videos ein Herzchen zu verpassen.

Als ich zu Dad blickte, warf er mir durch seine Brillengläser einen kurzen, aber äußerst kritischen Blick zu. »Ich glaube, da hat jemand ein ernsthaftes Problem.«

Ich lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze und seufzte verzweifelt. Er hatte recht. Ich hatte ein Problem. Ich wartete jetzt schon viel zu lange auf diese eine Nachricht und ehe sie nicht eintraf, konnte ich nicht von meinem Handy ablassen.

Während unser Auto sich an eisigen Feldern und gefrorenen Tannen vorbei schlängelte, fühlte ich wieder diese Schwere auf meiner Brust. Sie wurde größer, je näher wir uns unserem Ziel kamen.

»Müssen wir unbedingt zu Tante Stella?«, murrte ich und begann auf mein Handydisplay zu trommeln. Es war nicht so, dass ich sie nicht leiden konnte – im Gegenteil, ich mochte sie von all meinen Tanten am liebsten, aber es waren die Umstände, die den Besuch unerträglich machten. Allein die Landschaft und alten Wege wiederzusehen, sorgte dafür, dass sich ein Knoten in meinem Magen bildete.

Dad fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Ja, das sind wir ihr schuldig. Wir waren lange nicht mehr in der Heimat deiner Mutter und es wird zu Beginn sicher schwierig in Banff, aber du musst das Ganze von der anderen Seite aus betrachten: Die anderen vermissen uns. Auch wenn deine Mutter nicht mehr da ist, sind wir immer noch Teil der Familie.«

Dad sagte andauernd solche Sachen, um mich zu beruhigen, aber meistens sagte er das nur, um sich selbst zu entkrampfen. Mir entging nicht, wie er seine zitternden Finger fest ums Lenkrad klammerte, bis seine Knöchel weiß hervortraten.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Das bezweifle ich. Roxy und Rachel haben sich kein einziges Mal gemeldet.«

Easton irgendwann auch nicht mehr. Nur in Banff hatten wir jeden Winter zusammenkommen können, weil mein Zuhause Vancouver viel zu weit weg lag, aber dann war ich nicht wieder hergekommen. Auch er war kurze Zeit später gegangen. Das hatte ich durch eine Nachricht herausgefunden, die ich Roxy geschrieben hatte, um mich nach ihm zu erkundigen. Er war aus Banff weggezogen und hatte mich vermutlich schon längst vergessen. Funkstille.

»Wenn es dich so ärgert, warum hast du nicht den Kontakt aufrecht erhalten?«, fragte Dad und setzte den Blinker, um von der Landstraße abzufahren.

Warum ich den Kontakt nicht aufrecht erhalten hatte? Lag das nicht auf der Hand? Es war zu schwer gewesen. Ich wusste nicht, wie ich meinen Verlust in Worte fassen sollte und lange Zeit hatte ich einfach nichts gesagt.

Auch jetzt verfiel ich wieder in Schweigen. Nach drei endlosen Jahren voller Schmerz und Trauer die alljährliche Silvestertradition ohne Mom fortzusetzen, ohne sie in ihre Heimatstadt zurückzukehren, fühlte sich so unfassbar falsch an.

Dad hatte vielleicht mit allem abgeschlossen, aber für mich war die Wunde noch offen. Ich fühlte mich wieder wie ein kleines Mädchen auf dem Eis, das seine Mutter nicht erreichte, weil diese in einer anderen Welt lebte. Die Kälte fraß sich immer tiefer in mich hinein, spitze Kristalle aus Eis stachen mir mitten ins Herz und ich konnte sie nicht entfernen, weil sie nun schon so lange darin steckten, dass ich es gar nicht mehr anders kannte.

»Abby«, sagte mein Vater in sanftem Ton, »es ist für niemanden leicht, nicht für dich, mich oder deine Tante, aber wir müssen versuchen das Beste draus zu machen. Es bringt nichts, wenn alle an Silvester nur traurig sind.«

Er fuhr sich erneut mit der Hand durchs Gesicht. Das Haar an seinen Schläfen war beinahe grau, was mich daran erinnerte, dass die Zeiger der Uhr nicht eingefroren waren, sondern stetig weiterliefen. So lange schon und immer noch keine Nachricht von ihr.

Ich wollte Einwand erheben, aber als ich plötzlich das Ortsschild von Banff sah, bekam ich keinen Ton mehr heraus.

Dad setzte den Blinker und fuhr auf den Seitenstreifen. Zumindest vermutete ich das. Denn die Markierungen waren aufgrund der Schneemassen nicht eindeutig zu erkennen. Er machte den Motor aus und lehnte sich zurück. Wir musterten beide das Schild, auf dem der Name von Moms Heimat geschrieben stand, der Ort, an dem sie gelebt und gelernt hatte, wie eine Königin eiszulaufen, bevor sie Dad kennengelernt und zu ihm nach Vancouver gezogen war.

Dad schniefte. »Ist in Ordnung, wenn du nervös bist. Ist verständlich.«

Ich griff zur Seite und fischte eine Packung der Notfall-Taschentücher hervor, die ich extra für meine und Dads Heulanfälle gekauft hatte. Er nahm sich gleich drei Stück. Im Gegensatz zu ihm war mir nicht nach Weinen zumute, sondern einfach nur übel. Ich wusste, dass es nicht an der neunstündigen Autofahrt lag, sondern an dem, was erst noch kam.

Als Dad erneut schniefte, zog sich mein Herz fester zusammen. Ich griff nach seinen Fingern und dann hielten wir uns eine ganze Weile bei den Händen. Langsam sahen wir der Sonne dabei zu, wie sie sich dem Horizont näherte.

Ich wusste nicht, wie lange wir bereits einfach nur dasaßen, als plötzlich Dads Handy klingelte und wir aus unserer Starre aufschreckten. Dad atmete tief ein und aus, bevor er nach einem weiteren Klingeln ran ging.

»Wo bleibt ihr denn?«, schallte Tante Stellas Stimme durch den Lautsprecher. »Steckt ihr etwa im Stau?« Sie fragte noch so viel mehr, aber ihre Worte gingen in einem Rauschen an mir vorbei. Fest presste ich meine Hand auf das vergilbte Cover des Märchenbands und wünschte mir, dass die Zeit gefror.

Dad beschwichtigte Tante Stella, legte auf und warf mir einen letzten Blick zu, der mich wohl beruhigen sollte, bevor er den Motor wieder startete und losfuhr. Er wagte sich tatsächlich über das Ortsschild hinaus. Es war das erste Mal ohne Mom und dass es so schnell ging, machte es umso schmerzvoller.

***

Das Hotel von Tante Stella war größer als in meiner Erinnerung. Als wir auf den von Schnee freigeschaufelten Parkplatz einfuhren, ragte die Mountain Lodge wie ein hölzerner Palast vor Mount Norquay auf. Funkelnde Tannengirlanden umschlängelten die kastanienbraunen Stützbalken und gaben dem vierstöckigen Hotel eine heimelige Atmosphäre. Schon von hier aus konnte ich den gigantischen Weihnachtsbaum sehen, den sie in der Lobby aufgestellt hatten.

Sofort fühlte ich mich zurück in meine Kindheit versetzt. Jedes Silvester, jede Nacht der Wünsche, die wir hier als Familie zusammen verbracht hatten, spielte sich wie eine schöne, aber fast vergessene Melodie in meinem Kopf ab. Sie handelte von einer Zeit, in der ich dachte, dass Mom, Dad und ich auf ewig zusammenbleiben würden. Einer Zeit, die ich mehr als alles auf der Welt wieder herbeisehnte.

Das Rumoren in meinem Magen wurde lauter. »Dad, können wir nicht doch wieder nach Hause fahren?«

»Zu spät. Deine Tante hat uns schon gesehen.«

Ich musste zweimal hinsehen, um Tante Stella zu erkennen. Denn auf den ersten Blick sah ich nur Mom. Lockiges weißblondes Haar, das eine anmutige Blässe und ein strahlend breites Lächeln mit einer kleinen Lücke in der Mitte umrahmte. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich die Unterschiede. Tante Stella war viel kleiner als Mom und trug auch mehr auf den Rippen. Sie sah aus wie jemand, der andere gerne ganz fest umarmte.

Doch gerade war mir so gar nicht nach Umarmungen. Ich wollte einfach nur schnell weg von hier. Dad sagen, er sollte den Rückwärtsgang einlegen und sofort vom Parkplatz brettern, ehe sie uns schnappen und in ihr Hotel entführen konnte.

Aber Dad war bereits dabei auszusteigen. Ich zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm zufiel. Hätte ich schon meinen Führerschein, hätte ich bestimmt in Erwägung gezogen, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen.

Ich checkte mein Handy (immer noch keine Nachricht) und holte tief Luft, um mich mental vorzubereiten. Wie schlimm konnte es schon werden?

Sehr schlimm. Kaum war ich ausgestiegen, wurde ich bereits in die Mangel genommen und fest gedrückt. »Oh, Abby-Schatz, ich hab dich ja so vermisst.« Tante Stellas Stimme quietschte in meinen Ohren, als sie mich zusammenquetschte wie eine Packung Trinkschokolade.

Sie roch nach Seife und Zimt und ich jetzt bestimmt auch, denn sie küsste mich gleich dreimal auf die Stirn. Das hatte ich schon mit elf gehasst und jetzt mit siebzehn hatte sich meine Meinung dazu kein Stück geändert.

»Ich freu mich auch dich zu sehen, Tante Stella«, brachte ich in der Hoffnung hervor, endlich losgelassen zu werden, aber sie drückte mich gleich noch ein Stückchen fester.

Mein Vater räusperte sich. »Wo bleibt meine Umarmung?«

Tante Stella lachte laut und herzlich. »Geduld, Louis. Jetzt lass mich doch erst mal dein Mädchen in den Blick nehmen.«

Endlich ließ sie mich los und schob mich eine Armlänge von sich weg. Sie betrachtete mich einmal von oben bis unten.

»Aus dir ist ja eine richtige Frau geworden«, staunte sie mit leuchtend blauen Augen. Dann legte sie den Kopf schief und seufzte ganz schwermütig. »Du siehst genauso aus wie Claire.«

Plötzlich fühlte ich mich wie das weiße Pulver in einer Schneekugel. Völlig durchgeschüttelt. Mein Magen protestierte lautstark, was ich mit einem falschen Lachen zu kaschieren versuchte.

Endlich wandte sie sich Dad zu. »Louis, hallo! So schön, dass ihr es geschafft habt. Euer Besuch war längst überfällig!« Sie nahm auch ihn genau in Augenschein. »Ach, Gottchen, du hast ja schon graue Haare vom ganzen Im-Büro-Hocken. Die frische Luft wird dir guttun.«

Weil es offensichtlich kein Zurück mehr gab, fing ich an, unsere Koffer aus dem Wagen zu hieven. Als Letztes nahm ich meine Schlittschuhtasche von der Rückbank, wo ich sie fest angeschnallt hatte. Als Tante Abby sie sah, brach die nächste Fragenflut ohne Punkt und Komma über mich herein. »Ist das Geschenk pünktlich zu Weihnachten angekommen? Haben dir die Schlittschuhe gefallen? Warst du schon mit ihnen auf dem Eis?«

Ich nickte wie einer ihrer Hotelgäste, die sie bestimmt genauso mit Fragen bombardierte, obwohl ich die Schuhe eigentlich noch gar nicht getragen hatte. Sie steckten noch in ihrer Originalverpackung im Kofferraum.

Tante Stella kannte sich zwar mit dem Hotel-Business aus, aber das Eiskunstlaufen war meine Welt und die Schuhe, die sie mir geschenkt hatte, waren meinem aktuellen Modell markentechnisch um Welten unterlegen. Also hatte es nur zwei Optionen gegeben: Sie verschenken oder zurückgeben. Meine beste Freundin Nancy wollte sie jedoch nicht und Dad hatte mich ermahnt, weil man Geschenke seiner Meinung nach behalten musste. Dabei hatte ich genau gesehen, wie er selbst die gestrickten Pullover von Grandma Olivia im Spenden-Karton hatte verschwinden lassen.

»Du musst sie unbedingt tragen, wenn du mit Roxy und Rachel zusammen aufs Eis gehst. Besonders Rachel würde sich darüber freuen. Wir haben sie zusammen ausgesucht.« Tante Stella drückte meinen Arm und ich nickte, wie es sich gehörte, während Dad mir einen Jetzt-musst-du-sie-erst-recht-behalten-Blick zuwarf.

Die erste Begrüßungsrunde endete und wir verließen den Parkplatz. Tante Stella wechselte prompt in den Managerin-Modus und brach in einen ausschweifenden Monolog über die Erweiterung und Modernisierungsmaßnahmen des Hotels aus.

Als wir vor dem Eingang mit seinen großen, weiten Türen standen, durch deren Glaseinfassungen man bereits einen Blick in die gemütliche Lobby werfen konnte, ergriff mich der Fluchtinstinkt. Allein die Vorstellung, ohne Mom über diese Schwelle zu treten, war ein Stich ins Herz.

Wenn Tante Stella merkte, dass Dad und ich wie zu Eis erstarrt waren, dann überspielte sie es ziemlich gut. Ohne zu zögern legte sie uns jeweils eine Hand auf den Rücken und schob uns mühelos hinein.

Es war wie eine Reise zurück in die Vergangenheit. Der Eingangsbereich hatte sich praktisch nicht verändert. Links war immer noch die Rezeption, mit dem glatten, braunen Tresen und der schönen Holzverkleidung an der mit Auszeichnungen bedeckten Wand dahinter. Von Preisen für das beste Hotel Banffs bis zu diversen Awards in Gastronomie und für den besten Ausblick auf Mount Norquay war alles dabei. Darüber hing der Elchkopf, der mir als Kind immer eine Heidenangst eingejagt hatte. In der Mitte der Lobby streckte der Weihnachtsbaum seine Zweige in alle Richtungen aus. Rechts saßen einige Gäste auf denen zum knisternden Kamin hin ausgerichteten Sesseln und Stühlen. Auch das kleine Café daneben hatte dasselbe gemütliche Flair wie früher. Der Geruch nach getrockneten Tannenzweigen, Holz und gerösteten Kaffeebohnen lag in der Luft.

Wenig hatte sich verändert und doch war alles anders. Zum ersten Mal in unserem Leben waren wir ohne Mom im Hotel und je länger ich hier stand, desto schmerzhafter spürte ich diese Tatsache körperlich. Fester umklammerte ich den Griff um meinen Koffer. Sie hatte uns genauso verlassen, wie sie sich auf dem Eis bewegt hatte. Still und leise, schnell.

Zu schnell.

Wow, war mir übel.

Ich packte Tante Stella am Arm. »Wo sind die Toiletten? Schnell!«

Besorgt zog sie die Augenbrauen zusammen. »Immer noch den Gang runter und dann rechts.«

Ich ließ alles stehen und liegen und legte einen Sprint ein. Als ich endlich eine Toilettenschüssel unter mir hatte, traf ich mein Frühstück von heute Morgen wieder.

Ich betätigte die Spülung und ließ mich an der Kabinentür hinter mir zu Boden gleiten. Ich versuchte ruhig zu bleiben, aber auf einmal war es so, als würde alles wieder an die Oberfläche kommen. Obwohl ich dachte, ich hätte meine Gefühle eingefroren, spürte ich dieses verräterische Brennen in meinen Augen.

Wieder holte ich mein Handy heraus, wartete auf die Nachricht, die immer noch nicht da war, bis der Bildschirm vor meinen Augen verschwamm.

Fest presste ich die Lippen aufeinander. Offenbar war ich immer noch nicht gut genug. Ich musste aufs Eis, trainieren, trainieren, trainieren und nicht meine Zeit damit vergeuden, heulend auf dem Boden einer Toilettenkabine zu sitzen.

Ich atmete tief ein und aus, stand wieder auf und ging raus ans Waschbecken. Dort spülte ich mir den Mund aus und schnappte mir ein paar Tücher, um die verlaufene Mascara zu richten.

Meine Mutter hatte niemals geweint. Denn sie war eine Königin und Königinnen weinten nicht.

Als ich den Waschraum verließ, standen Dad und Tante Stella schon an der Rezeption. Ein Hotelpage war dabei, unser Gepäck auf den Rollwagen zu heben. Gerade wollte er nach meinen Schlittschuhen greifen.

»Die nicht.«

Verwundert drehte er sich zu mir um. »Oh, Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass Sie das selbst nehmen wollen.«

Ich erkannte ihn sofort. Das gelockte braune Haar, die kastanienbraunen Augen und die bezaubernden Grübchen. Vor mir stand niemand Geringeres als Easton Mackingley.

Aber das war unmöglich. Roxy hatte mir doch geschrieben, er würde nicht mehr in Banff leben. Vielleicht irrte ich mich ja und er war es doch nicht.

»Abby?«, sprach er mich plötzlich an und erwiderte meinen Blick genauso erstaunt. »Abigail Atkins?«

O mein Gott, er war es wirklich. In einer älteren Version. Und er war gewachsen. Auf einmal überragte er mich um einen halben Kopf, obwohl doch immer ich die Größere von uns beiden gewesen bin. Er trug ein weißes Hemd mit Weste in den Farben des Hotellogos. Beides passte nicht ganz und saß locker auf seinem schlanken, aber sehnigen Körper.

»Easton!«, brach es atemlos aus mir heraus. Ohne darüber nachzudenken, sprang ich in seine Arme.

Offenbar hatte ich ihn vollkommen überrumpelt, denn erst stand er einfach nur steif da. Ein paar Sekunden verstrichen, bis er meine Umarmung erwiderte.

Er duftete wunderbar nach Winter, Tannenzweigen und einer leichten Note Aftershave. Auf einmal fielen mir wieder die schönen Momente ein, die ich hier erlebt hatte. Das nächtliche Rausschleichen, die Schneeballschlachten, die Gespräche in Berry’s Coffee Place, wie ich in endlosen Schleifen eislief, Easton mich am Rand stehend anfeuerte und Bilder machte, die Nacht der Wünsche und … der erste Kuss.

Wärme breitete sich in mir aus und erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich ihn eigentlich vermisst hatte. Seit wir uns das erste Mal vor zehn Jahren getroffen hatten, hatten wir jedes Silvester zusammen gefeiert. Doch dann, vor drei Jahren, war alles wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Mom hatte uns verlassen und die Vorstellung, jemals wieder hierherzukommen, war unerträglich gewesen. Und jetzt war ich plötzlich doch wieder hier.

Ich schreckte vor ihm zurück, als mir einfiel, dass ich bestimmt nach Erbrochenem roch. Hastig strich ich mir durchs Haar und zupfte meine Kleidung zurecht.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich Easton.

Er grinste breit. Spätestens am fehlenden Stück seines Schneidezahns hätte ich ihn garantiert wiedererkannt. Mit einer ausschweifenden Bewegung deutete er auf sich selbst. »Ich finde ja, es ist ziemlich offensichtlich, dass ich hier arbeite.«

»Ach was?« Ich schlug gegen seinen Arm. »Ich meine, was machst du hier in Banff?«

Jetzt zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Na, hier wohnen?«

Verständnislos starrte ich ihn an. »Aber ich dachte, du wärst weggezogen. Roxy hat gesa…«

»Abigail!« Wie aus dem Nichts erschien Besagte und zog mich in eine viel zu feste Umarmung. Offenbar lag es in der Familie, anderen aus Zuneigung die Luft aus dem Brustkorb zu pressen.

Nachdem sich Roxy von mir gelöst hatte, fasste sie mir in die Haare. »Krass, sind die gewachsen! Was für ein Shampoo benutzt du?«

Sie war ganz nach ihrem Vater gekommen und hatte pechschwarzes Haar, das sie in einem hohen Dutt auf ihrem Kopf trug und im Kontrast zu ihrer rosa Haut stand. Die Lippen waren in ein tiefes Rot getaucht, das sehr ihren olivgrünen Augen schmeichelte, die mich wie die einer Raubkatze in den Blick nahmen. »Sag mal, hast du geweint oder ist deine Mascara immer so bröcklig? Wenn du magst, leih ich dir meine.«

Kurz erstarrte ich, weil ich gehofft hatte, dass niemand etwas bemerkte. Dann machte ich schnell eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, nicht nötig. Ich hab zwei mit.«

Sie duftete wunderbar nach Vanille. Nicht so wie ich nach Erbrochenem. Als hätte sie meine Gedanken gehört, machte sie einen Schritt zurück.

An ihrer Hand baumelte eine große schwarze Handtasche aus Leder. Ein ebenso dunkler Mantel schmiegte sich perfekt an ihren kurvigen Körper. »Ich muss leider los. Treff mich mit Freunden, aber morgen machen wir garantiert was zusammen. Ja?«

Ich nickte.

Dann drehte Roxy sich zu Easton. »Wir sehen uns später«, raunte sie, zog seinen Kopf zu sich herunter und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

In diesem Moment wurde mir so einiges klar. Was mich aber wirklich überrumpelte, war das Zucken in meiner Brust.

»Ich muss dann auch mal los«, sagte ich schnell, griff nach meiner Tasche und lief zurück zu Dad und Tante Stella.

»Waren das etwa Roxy und Easton?«, fragte Dad, während er seine Brille mit einem Tuch sauber rieb.

»Ja«, grinste Tante Stella breit. »Sie sind schon so lange befreundet und vor Kurzem endlich zusammengekommen. Wenn ich die beiden zusammen sehe, geht mir das Herz auf. Sind sie nicht bezaubernd?«

Ja, wirklich sehr bezaubernd.

Ich zog mein Handy hervor und checkte meine Benachrichtigungen. Noch mehr Herzchen, ein paar nette Kommentare, aber keine Nachricht von Mom.

Kapitel 2

Vignette

Easton

Wenn Roxy Abigail nicht vor meinen Augen in die Arme genommen hätte, hätte ich sie womöglich für eine Erscheinung gehalten. Aber sie war es wirklich. In Fleisch und Blut.

Vollkommen perplex stand ich in der Mitte der Lobby, zu keiner Bewegung in der Lage. Warum hatte Roxy mir nicht erzählt, dass sie kommen würde?

Ich sah Roxy hinterher, wie sie im Eilschritt das Hotel verließ, was mich umso mehr verwunderte. Vielleicht hatte sie ja auch keinen blassen Schimmer davon gehabt, dass Abby heute anreisen würde. Sonst hätte sie sich doch unmöglich mit ihren Freundinnen verabredet.

Mein Blick wanderte wieder zurück zu Abby. Gerade holte sie ihr Handy heraus und checkte ihre Nachrichten, stand da, als wäre sie nie weggewesen. Der Duft ihres Erdbeer-Shampoos hing noch immer in der Luft. Und noch immer spürte ich die Wärme und Vertrautheit ihrer Umarmung auf meinem Körper.

Ich stieß die Luft in einem Atemzug aus.

Vier Jahre. Vier verdammte Jahre!

Vor vier Jahren hatten wir das letzte Mal die Nacht der Wünsche zusammen verbracht, wie es bei uns seit der ersten Begegnung zum Ritual geworden war. Doch als ich im nächsten Winter hier ins Hotel gekommen war, selbe Zeit, selber Ort, um sie zu begrüßen und ihr mein Weihnachtsgeschenk zu geben, war sie nicht da gewesen.

Ich fühlte mich in die Vergangenheit zurückkatapultiert und konnte sehen, wie mein 14-jähriges Ich zur Rezeption trottete und ungeduldig fragte, wann Abby und ihre Familie endlich einchecken würden. Der Typ an der Rezeption hatte daraufhin erklärt, dass die Familie Atkins die Buchung schon vor einigen Tagen storniert hatte.

»Storniert?«, hatte ich verzweifelt gefragt und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. »Die kommen aber jeden Winter hierher!«

Der Rezeptionist hatte nur mit den Schultern gezuckt und sich anderen Gästen zugewandt. Danach war ich sehr verwirrt zu den Dankos gestapft, deren Haus direkt neben dem Hotel lag. Ich hatte so lange gegen die Tür gehämmert, bis Roxys Vater sie mir endlich geöffnet hat. Als ich gefragt hatte, wo sie steckten, hatte allein sein Blick Bände gesprochen.

»Was ist passiert?«, hatte ich blass gefragt und beinahe das Geschenk fallen lassen.

Dann hatte er mich ins ausgestorbene Haus gelassen, mir einen Tee gemacht und erklärt, dass die anderen nach Vancouver gefahren waren, weil Abbys Mutter Claire verschwunden war. Von einem auf den anderen Tag. Einfach so. Auf meine Fragen hatte er keine Antworten. Er konnte mir nur die Nummer der Atkins in die Hand drücken. Ich rief jeden Tag dort an, bestimmt einen Monat lang, aber niemand ging ran. Als unter der Rufnummer niemand mehr erreichbar war, wusste ich, dass nun auch Abby verschwunden war.

Aber nun stand sie hier, im selben Raum wie ich. Ihre Haare waren gewachsen, immer noch blond, aber heller, und fielen ihr glatt über den Rücken bis auf die Taille. Ihre Augen funkelnd blau, die Haut fast so weiß wie Schnee. Sie war schöner als in meiner Erinnerung.

Sie und ihr Vater setzten sich in Bewegung, gingen den Gang hinunter, in Richtung Aufzüge. Auf der rechten Schulter trug sie wie selbstverständlich ihre Schlittschuhe. Sie träumte offenbar immer noch davon, Eiskunstläuferin zu werden. Alles andere hätte mich auch überrascht.

Ich hielt die Luft an, als ihr Blick plötzlich zurück zu mir wanderte und unmittelbar auf meinen traf. Automatisch wanderten meine Mundwinkel nach oben und ich hob die Hand.

Doch sie erwiderte den Gruß nicht, sondern huschte in den Fahrstuhl, raus aus meinem Blickfeld.

Ich ließ die Hand sinken, spürte, wie mir das Lächeln wieder verging. Hatte ich etwas falsch gemacht?

Patsch! Jemand donnerte mir seine Handfläche mitten in den Nacken, was mich zusammenzucken ließ.

»Mann, was stehst du denn hier so rum? Die Koffer stapeln sich nicht von selbst.« Mein bester Kumpel Jordan stand plötzlich neben mir und deutete auf die Ansammlung von Gepäck, die ich noch nicht auf den Wagen geräumt hatte.

»Sorry«, murmelte ich und begann wieder mit der Arbeit.

»Das ist doch ätzend. Ein Tag nach Weihnachten wieder arbeiten«, stöhnte er und packte mit an. »Gerade noch leckeres Essen und gemütlich vor dem Kamin hocken und jetzt schon wieder schuften.«

»Hier hast du doch auch einen Kamin«, witzelte ich.

»Haha«, machte Jordan und rollte mit den Augen, »deine Motivation hätte ich gerne.«

Ich konnte Jordans Gejammer verstehen, aber ich für meinen Teil war für jede Minute, die ich nicht zu Hause verbringen musste, dankbar. Außerdem brauchte ich das Geld dringend, wenn ich es nach meinem Abschluss auf ein gutes College schaffen wollte, das einen passenden Fotografie-Studiengang anbot. Natürlich hätte ich mich auch einfach auf dem Geld meiner Eltern ausruhen können, aber das hätte bedeutet, dass ich statt einem Fach, für das ich wirklich brannte, Medizin studieren müsste – ein Gedanke, der mich zum Erschaudern brachte und den ich schnell wieder abschüttelte.

Als ich Abbys rosafarbenen Koffer auf die Ablage hievte, fragte ich mich, warum sie sich nie gemeldet hatte, wenn sie sich doch gerade offensichtlich gefreut hatte mich wiederzusehen. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass sie wirklich gedacht hatte, ich wäre von hier weggezogen. Selbst wenn ich nicht mehr hier wohnen würde, hätte sie mir doch schreiben können. Wenigstens einmal.

»Da kommen ja noch mehr Gäste! Meine Güte, so viele passen doch gar nicht ins Hotel«, jammerte Jordan.

Im Gegensatz zu mir arbeitete er erst seit drei Wochen hier und schien sich noch eingewöhnen zu müssen. Ich hatte in meinen anderthalb Jahren im Hotel gelernt, dass die Nacht der Wünsche eine der beliebtesten Zeiten war, um Urlaub in den Rocky Mountains zu machen. Eine Menge Leute waren wohl der Ansicht, dass es nichts Schöneres gab, als massenhaft Schnee und Eis und eine vor Touristen überquellende Stadt. Wie froh ich war, wenn ich mit achtzehn meine sieben Sachen packen und »Adieu, Banff« sagen konnte.

Als es ruhiger wurde, holte ich meine Kamera hervor, die ich auf einem Regal hinter der Rezeption abgelegt hatte und stellte mich an den Tannenbaum, um Bilder von der Lobby zu machen. Wir hatten zwar schon welche für die Hotelwebseite, aber die brachten gar nicht rüber, wie schön es hier wirklich war. Nicht zu fassen, dass Tante Stella irgend so einem Kerl tausend Dollar für die aktuellen Bilder in die Hand gedrückt hatte. Ich stellte mir vor, wie weit mich so viel Geld bringen könnte. Raus aus der Stadt und zusammen mit meinem Ersparten könnte ich weit weg von hier mein erstes Semester starten.

Als Jordan die Kamera sah, blieb er stehen und zupfte an seinen dichten, dunklen Locken herum, die sein schmales Gesicht umrahmten. Im Vergleich zu mir passten ihm Hemd und Weste wie angegossen. Er war schlank, aber kräftiger gebaut als ich und seine Haut hatte einen warmen goldbraunen Farbton. Ich wartete, bis er neben der mit Tannengirlanden geschmückten Holzsäule eine passende Pose eingenommen hatte und drückte auf den Auslöser.

Als er kurz darauf das Bild überprüfte, stieß er einen Pfiff aus. »Easton Mackingley, Star-Fotograf wieder am Start.«

»Übertreib mal nicht.«

»Untertreib du doch nicht. Du weißt genau, wie genial du bist.«

Ich kratzte mich am Nacken. »Danke.«

»Kein Ding, Bro.« Er rieb freudig die Hände aneinander. »Schick mir das Bild, dann kann ich das nächste Mal, wenn meine Familie zu Besuch kommt, richtig angeben.«

»Mit deinem Job, den du so vergötterst?«

Er grinste breit. »Ja, genau dem.«

***

Nach der Arbeit gingen Jordan und ich noch in die Stadt. Weil wir beide auf Sparflamme liefen, waren dieses Mal nur Fritten drin. Wir hatten einen schönen Blick auf die leuchtenden Weihnachtsstände, um die sich jetzt wieder mehr Menschen tummelten, nachdem die ersten Feiertage vorüber waren.

Trotz meiner gefütterten Winterjacke fror ich mir den Hintern ab, was gar nicht so schlecht war, da ich so zumindest keine Chance hatte, müde zu werden. Bis Roxy von ihren Freundinnen zurückkam, würde es bestimmt noch eine Weile dauern.

Als hätte Jordan meine Gedanken gelesen, fragte er: »Wie war das erste Weihnachten mit Roxy?«

Ich lächelte. »Toll.«

Normalerweise zog ich an Weihnachten um die Häuser und machte hier und da ein paar Fotos, aber dann hatte Roxy mich spontan zu sich eingeladen. Wir hatten volle zwei Tage nur Filme geschaut und uns die Bäuche vollgeschlagen. Mir war da erst klar geworden, dass ich lange nicht mehr eine derart unbeschwerte und sorgenfreie Zeit erlebt hatte.

Jordan klopfte mir auf den Rücken. »Mann, dass du vor mir eine Freundin kriegst! Was ist das jetzt eigentlich zwischen euch? Liebst du sie?«

Liebe? Die Frage brachte mich ins Straucheln. »I-ich weiß nicht.« Ich wusste nur, dass ich mich in Roxys Gegenwart wohlfühlte. In ihrer Nähe war alles so viel einfacher.

Fester umschloss ich die Kamera, die sie mir geschenkt hatte. Im ersten Moment war ich ziemlich überfordert gewesen, weil es dafür, dass wir noch gar nicht so lange zusammen waren, ein viel zu großes Geschenk war – selbst wenn sie gebraucht war und Stella und Sasha, Roxys Eltern, meinen Weihnachtsbonus in sie investiert hatten. Ich hatte Roxy lediglich ein eingerahmtes Foto geschenkt, das ich in einem unbeobachteten Moment von ihr gemacht hatte. Aber es hatte ihr offenbar sehr gefallen, sonst wäre sie mir nicht wieder viel zu fest um den Hals gefallen. Automatisch wanderten meine Gedanken weiter zu Abbys Umarmung von vorhin. Sie nach all der Zeit wiederzusehen, ganz nah bei mir zu spüren … Es weckte etwas in meinem Inneren, von dem ich mir nicht sicher war, ob ich es wieder spüren wollte.

Jordan grinste. »Na, wenigstens einer von uns wird an Silvester geküsst.«

Wenn andere Silvester sagten, verspürte ich immer den Drang, sie zu korrigieren. Seit ich Abby kannte, war es für mich nur noch die Nacht der Wünsche.

»Was ist mit Valerie?«, erkundigte ich mich, um den Gedanken an Abby ganz schnell wieder abzuschütteln. Doch er ließ mich einfach nicht los, genauso wenig wie das Gefühl, das Abby auf meinem Körper hinterlassen hatte.

»Die war leider nur auf was Kurzfristiges aus«, seufzte Jordan und stopfte sich gleich fünf Fritten gleichzeitig in den Mund, die er vorher in Senf getunkt hatte. »Niemand will mich. Wahrscheinlich sind alle viel zu eingeschüchtert von meinem unfassbar guten Aussehen.«

»Sicher, dass es nicht an deinen merkwürdigen Essgewohnheiten liegt?«

»Achtung, Arschloch auf sechs Uhr!«, sagte er plötzlich. »Bloß nicht umdrehen.«

Obwohl ich wusste, dass ich es nicht tun sollte, tat ich es trotzdem. Und ich bereute es sofort. Denn Brix Callahan und seine Jungs waren der Richtung zufolge, in die sie stapften, offenbar auf dem Weg zum Training. Als sich unsere Blicke kreuzten, steuerten sie geradewegs auf uns zu. Alle drei trugen wieder diese blöden Eishockey-Schläger mit sich herum, damit bloß niemand verpasste, dass sie Asse auf dem Eis waren.

Jordan boxte mir in die Seite. »Mann! Musstest du dich umdrehen?«

»Sorry, aber du kannst so was nicht sagen und dann erwarten, dass ich still stehen bleibe.«

Brix baute sich direkt vor uns auf. »Sieh mal einer an. Mackingley. Clarke. Zwei Hotelboys nach der Arbeit, die sich Fritten teilen. Süß.«

Als er sich dann auch noch aus unserem Schälchen bediente, musste ich mir alle Beleidigungen verkneifen, die mir schon auf der Zunge lagen. Wie er sich immer alles erlaubte, kotzte mich an.

»Na, wie waren die Feiertage?«, erkundigte er sich mit seinem Zahnpasta-Lächeln.

»Entspannt«, antwortete Jordan locker und ließ sich von seiner Abneigung diesem Typen gegenüber nichts anmerken.

»Und du, Mackingley?«, fragte er. »Was hast du so getrieben?«

Was hast du so getrieben? kam zwar aus seinem Mund, aber in Wahrheit wollte er wissen: Warst du an Weihnachten mit Roxy zusammen? Seid ihr immer noch ein Paar?

»Waren ein paar schöne Feiertage bei Roxy und ihrer Familie«, antwortete ich, nur um zu sehen, wie das Lächeln kurzzeitig von seinen Lippen wich.

Ich konnte immer noch nicht verstehen, wie ausgerechnet dieser Typ Roxys Ex-Freund sein konnte. Er und ich ähnelten uns kein bisschen. Er war sportlich, in der Schule sogar bei den Lehrern beliebt und stand immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich dagegen sah den Sportunterricht bloß als notwendiges Übel an, schaffte vielleicht meinen Abschluss nicht und verbrachte die meiste Zeit damit, Fotos zu machen oder zu überarbeiten.

»Hast du die von ihr?«, fragte Brix plötzlich und deutete auf die Kamera in meinen Händen.

Warum überraschte mich das nicht? Sobald es auch nur annähernd um Roxy ging, war Brix Feuer und Flamme.

Er streckte seine Hand aus. »Zeig mal her.«

»Nein.«

Ein Wort, das Brix wohl viel zu selten zu hören bekam, denn als ich es sagte, hielten die Typen hinter ihm doch tatsächlich kurz die Luft an.

»Was auch immer. Deshalb sind wir nicht hier.« Brix zuckte mit den Schultern, aber mir entging das Funkeln in seinen giftgrünen Augen nicht, das mir bereits vorhersagte, dass ich das noch bitter bereuen würde. »Wir wollten euch eigentlich verkünden, dass soeben ein Platz in unserem Team freigeworden ist. Steven hat sich das Knie verdreht und jetzt brauchen wir Ersatz. Wer möchte?«

Von einer Sekunde auf die andere war mein Hals trocken und ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Aus Jordan dagegen brach ein leises Lachen heraus. »Wie? Und dann fragt ihr einen von uns? Gab es niemand Besseren? Oder hat keiner Lust bei den lahmen Banff Caribous zu spielen?«

»Wir steigen wieder auf!«, verteidigte sich einer der Jungs hinter Brix.

»Wann denn?«, fragte Jordan. »In hundert Jahren?«

Brix verengte die Augen zu Schlitzen. »Halt den Mund, Clarke.« Dann wandte er sich mir zu. »Mackingley, dich haben wir noch nie auf dem Eis gesehen. Wie sieht’s aus? Dein Onkel ist doch Profi.«

Ich stand da wie eingefroren. Obwohl es bitterkalt war, konnte ich spüren, wie meine Finger schwitzig wurden und die Kamera feucht. Mein Herz donnerte so hart gegen meinen Brustkorb, dass es in meinen Ohren dröhnte.

Ich wollte etwas erwidern, am liebsten genauso cool wie Jordan reagieren, aber aus meinem Mund kam kein Laut.

»Ich springe ein«, seufzte Jordan einen Wimpernschlag später und erlöste mich damit. »Dann habt ihr wenigstens eine realistische Chance auf den Aufstieg.«

Brix erdolchte mich noch einen Moment mit seinem Blick, dann wandte er sich Jordan zu. »Von mir aus. Aber wenn du weiterhin Witze machst, polier ich dir die Fresse. Kapiert? Das Training fängt in zwanzig Minuten an. Ausrüstung haben wir dort. Sei pünktlich.«

Als sie endlich gegangen waren, war meine Kehle immer noch wie zugeschnürt.

Jordan musterte mich wachsam. »Alles okay bei dir?«

»Du musst das nicht tun«, wandte ich mit krächzender Stimme ein.

»Hey, dafür sind Kumpel doch da.« Er grinste halb. Doch auch Sorge leuchtete in seinen dunkelbraunen Augen auf. Ich wusste ganz genau, was er dachte, aber ich wollte es nicht hören, also schüttelte ich den Kopf. Vergeblich.

»Ich will echt kein Arsch sein, aber du kannst die Wahrheit vor allen und besonders vor deinem Alten nicht ewig verschweigen. Mach reinen Tisch, bevor es zu spät ist.«

Das konnte ich nicht und das wusste er genau. Ich hatte mich mittlerweile so tief in das Konstrukt aus Lügen verstrickt, dass es kein Zurück mehr gab. Es waren doch ohnehin nur noch zwei Monate bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Nur noch zwei Monate, in denen ich Mom und Dad belügen musste, danach spielte nichts mehr eine Rolle.

***

Ich hatte es geschafft, den zwanzigminütigen Weg nach Hause auf anderthalb Stunden auszudehnen, indem ich immer wieder stehen geblieben war und Fotos gemacht hatte. Aber ich konnte mich nicht ewig vor zu Hause drücken. Mittlerweile war es stockdunkel, der Himmel wolkenverhangen, aus denen immer mehr Schneeflocken auf mich herunterrieselten.

Roxy hatte meinen Urlaub von zu Hause kurzfristig beendet, indem sie mir geschrieben hatte, dass das mit später doch nichts wurde, weil sie und ihre Freundinnen länger wegblieben und vielleicht bei einer von ihnen übernachteten.

Als unser Haus in mein Blickfeld kam, wollte ich am liebsten wieder umdrehen, aber ich zwang mich weiterzulaufen. Der Tag war lang genug gewesen und ich sehnte mich nach einem Bett.

Unser Haus stach aus der Menge heraus. Denn es war das einzige in der ganzen Straße, womöglich in der ganzen Stadt, das nicht dekoriert war. Weder an Weihnachten, Halloween noch einem anderen Feiertag im Jahr. Mit seiner weißen Fassade wirkte es fast unsichtbar, wenn es wie gerade in diesem Moment in den fallenden Schnee gehüllt war.

Die Reifenspuren, die in die Garage führten, waren nicht mehr frisch, was bedeutete, dass ich nicht mehr allzu vorsichtig sein musste. Dad und Mom müssten längst schlafen. Ich tat es aus Gewohnheit trotzdem.

Leise steckte ich den Schlüssel ins Schloss und bemühte mich, keinen Mucks von mir zu geben, als ich durch die Tür trat. Im Eiltempo streifte ich mir die Schuhe von den Füßen, schlüpfte aus der Jacke und wickelte meine Kamera darin ein. Dann schlich ich durch den Flur zur Treppe. Ich wagte es nicht, das Licht anzuknipsen, also erklomm ich die Stufen blind. Erst als ich in meinem Zimmer angelangt und die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, konnte ich wieder aufatmen. Ich knipste das Nachtlicht an, das nur spärliches Licht in den Raum warf, aber genug, dass ich mich in meinem Zimmer zurechtfand. Dann öffnete ich die unterste Schublade meines Kleiderschranks, legte meine Kamera hinein und bedeckte sie mit ein paar T-Shirts. So, das war erledigt. Jetzt nur noch schnell unter die Dusche, ins Bett und morgen so früh wie möglich wieder weg.

Als ich unter der Dusche stand und warmes Wasser auf mich herabprasselte, musste ich wieder daran denken, wie toll die letzten zwei Tage bei Roxy gewesen waren. Kein Rein- oder Rausschleichen, keine Schweißausbrüche, keine Panik. Ich hatte mich sehr wohl dort gefühlt und zu keiner Sekunde das Gefühl gehabt, mich verstecken zu müssen. Doch schnell mischte sich ein Funke schlechten Gewissens darunter. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich nicht genug in diese Beziehung steckte, dass sie sich viel mehr Mühe gab, aber manchmal auch zu viel. Roxy wollte unbedingt meine Eltern kennenlernen, aber ich hielt sie andauernd mit irgendwelchen Ausreden hin. Und dann war da jetzt auch noch Abby …

Ich stellte das Wasser ab, rubbelte mich mit einem Handtuch trocken und putzte mir die Zähne. Als ich fertig war und in den Flur trat, war das Licht an, was mir sofort den Puls in die Höhe trieb.

»Easton«, erklang die Stimme meines Vaters hinter mir.

Ich zuckte herum.

Da stand er, trat gerade aus dem Schlafzimmer und musterte mich verschlafen. »Sag mal, bist du gerade erst nach Hause gekommen?«, fragte er verwirrt und rieb sich die Augen.

»J-ja«, stotterte ich. »Training und dann haben Roxy und ich uns zum Lernen getroffen. D-das Übliche.«

Er klopfte mir auf die nackte Schulter, was mir einen kalten Schauder den Rücken hinunter jagte. »Weiter so«, gähnte er, »immer weiter so.«

Es war erschreckend, wie einfach es geworden war, ihm mitten ins Gesicht zu lügen. Solange es mit produktiver Arbeit zu tun hatte, glaubte er einfach alles.

»Nacht«, gähnte er und verschwand im Bad.

Ich ging zurück auf mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und fuhr mir durchs Haar. Das schlechte Gewissen meldete sich wieder, diesmal gegenüber meinen Eltern, pochte schwer in meiner Brust und vermischte sich mit der Angst, erwischt zu werden.

Dabei wusste ich, dass das nicht passieren würde, wenn ich mich weiter so geschickt anstellte wie bisher. Die gefälschten Zeugnisse, die manipulierten Fotos von den Eishockey-Spielen, bei denen ich angeblich gespielt hatte. Meine Ausreden ergaben ein bombensicheres Konstrukt aus Lügen, das niemand aufdecken konnte, weil meine Eltern viel zu beschäftigt mit sich selbst und ihrer Arbeit waren. Mom und Dad hielten mich für den perfekten Sohn, der in ihre Fußstapfen treten, Medizin studieren oder Profi-Eishockey-Spieler werden würde, genau wie Onkel Ethan. Dabei war ich … nur Easton. Der, der vielleicht seinen Abschluss nicht schaffte. Der, der Angst vor dem Eis hatte, obwohl er in einer Stadt lebte, die praktisch daraus bestand. Der, der als er selbst eben niemals genug war.

***

Vor zehn Jahren

»Ich wünschte mir, ich wäre auch so gut wie du«, sagte ich leise und schaute auf meine Füße, die in den alten Stiefeln steckten, die Onkel Ethan mir geschenkt hatte.

»So gut wie ich?« Das Mädchen riss die blauen Augen ganz weit auf. »Aber ich bin doch nur das Mädchen auf dem Eis. Guck mal! Das da drüben ist meine Mommy. Sie ist die Königin.«

Ich schaute in die Richtung, in die sie zeigte, und entdeckte eine Frau, die so gut lief, als würde sie das schon tun, seit sie ein Baby war.

Wenn sie die Königin war …

»… dann bist du eine Prinzessin?«, fragte ich erstaunt.

»Noch nicht, aber bald«, antwortete das Mädchen und grinste trotz der kleinen Träne, die ihr die Wange hinunterkullerte. Sie wischte sie schnell weg und schaute zuversichtlich.

Ein Mann kam zu uns und er sah ein bisschen so aus wie die Prinzessin. Bestimmt ihr Papa. Ich wollte schnell wegrennen, aber im Gegensatz zu meinem Papa konnte er sogar lächeln, also blieb ich. Er fragte das Mädchen, wer denn ihr neuer Freund sei. Dann sahen mich beide an.