Titel

Christa Wolf

Sämtliche Essays und Reden

Band 3: 1991-2010 Nachdenken über den blinden Fleck

Herausgegeben von Sonja Hilzinger

Suhrkamp

Brief anläßlich der Ausstellung
»Zensur in der DDR«

Berlin 8. ‌2. ‌1991

Lieber Herbert Wiesner,

in einer Ausstellung über die Zensur in der DDR sehe ich eine Gefahr, die sicher auch Ihnen bewußt ist: Die Belegstücke, die man zeigen kann, verdecken womöglich den Vorgang, der in dem Wort »Zensur« steckt. Zensur ist ein kompliziertes, konfliktreiches Handeln zwischen Personen, nicht nur der anonyme Eingriff einer staatlichen Institution in Publikationsmöglichkeiten. Um den interessierten Besucher einer solchen Ausstellung – besonders den, der die Verhältnisse in der DDR nicht kennt – wirklich zu informieren und ihn nicht nur mit spektakulären Einzeldaten zu füttern, müßte man von Fall zu Fall erzählen; dabei müßte man Namen verschiedener Protagonisten nennen, es könnten Entwicklungen einzelner zutage treten. Das ist hier nicht möglich. Ich scheue mich, bestimmte Namen in einen unrühmlichen Zusammenhang zu stellen, der mehr als zwanzig Jahre zurückliegt. Daher will ich versuchen, Methode und Auswirkungen der Zensur an einem meiner Bücher möglichst schematisch zu skizzieren.

Nachdenken über Christa T.

Die Auseinandersetzung mit mir ging noch das ganze Jahr 1969 über weiter, zum Beispiel im Präsidium des Schriftstellerverbandes. Aber auch in anderen Institutionen wurden von Mitarbeitern Stellungnahmen verlangt. Im Germanistischen Institut der Humboldt-Universität Berlin waren zwei Dozentinnen, Dr. Inge Diersen und Sigrid Töpelmann, nicht bereit, ihre eigene positive Einschätzung des Buches aufzugeben. Sie wurden gemaßregelt. Die eine wurde für einige Jahre zur Kulturarbeit an das Kulturhaus Bitterfeld geschickt, die andere verließ die Universität und wurde meine Lektorin im Aufbau-Verlag.

»Nachdenken über Christa T.« durfte in der DDR nur in den beiden Literaturzeitschriften »Sinn und Form« und »Neue Deutsche Literatur« besprochen werden.

Dies ist ein Muster für einen möglichen Verlauf. Ähnlich könnte ich über andere meiner Titel schreiben. Allerdings ist die Zensur in der DDR seit Ende der sechziger Jahre sich selbst nicht immer gleich geblieben, sie war nicht immer gleich streng, borniert und folgenreich für die Autoren, Verlagsmitarbeiter, Kritiker, Germanisten.

»Nachdenken über Christa T.« wurde seit 1972 in der DDR immer wieder aufgelegt und erreichte bis heute eine sehr hohe Auflagenziffer.

Ein Posten ist vakant

Zum Tod von Max Frisch

Mit dieser Nachricht mußten wir rechnen, aber doch, wie immer in solchen Fällen, nicht gerade jetzt. Seit über einem Jahr wußte Max Frisch, und mit ihm wußten es seine Freunde, wie es um ihn stand. Er hat dieses Jahr genutzt, um auf seine Weise Abschied zu nehmen. Er hat manche Begegnung herbeigeführt, manches ausgesprochen, worüber er sonst schwieg. Er hatte eine unvergeßliche Art zu sprechen. Ich blättere in seinen Büchern, den sieben blauen Bänden des Suhrkamp-Verlags. Wieder fällt mir auf, wie häufig seine Prosa-Texte in der Gegenwartsform stehen: Eine Stimme spricht. Ich höre, während ich mich in einem seiner Texte festlese, die Stimme von Max Frisch, als sei der »Herr Geiser«, durch weltuntergangsähnliche Unwetter festgehalten in jenem Tessiner Tal, das Frisch selbst nur zu gut kannte, auch sonst das alter ego seines Autors. Aber so ist es ja nicht. »Der Mensch erscheint im Holozän.« Wie alle seine Figuren, selbst die, die ihm am nächsten, ja: scheinbar mit ihm identisch waren, ist auch diese ihm entfremdet, ferngerückt durch die Schrift, um eine gewisse, manchmal winzige Drehung, die allerdings entscheidend ist, der platten Gleichsetzung entzogen und in jene andere Wirklichkeit der Literatur versetzt.

»Keine Nacht ohne Gewitter und Wolkenbruch« – reihenweise hätten wir im vorigen Mai solche Sätze zitieren können, aber wir haben uns gehütet, nur immer wieder an sie denken müssen, als wir zu dritt eine Gewitternacht im Haus von Max Frisch in Berzona erlebten, eine von jenen, die selbst hier ungewöhnlich sind, wie Frisch halb irritiert, halb anerkennend einräumte. »Was heißt Holozän«, denkt »Herr Geiser« gegen Ende seines Katastrophenberichts. »Die Natur braucht keine Namen. … Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.«

Schreiben bedeutet, Gedächtnis zu bewahren, zu bilden. Auf einmalige Weise umkreist das Werk von Max Frisch den Menschen unserer Zeit, seine Spiel-Arten, seine Möglichkeiten, seine Verstrickungen, sein Versagen. Merkwürdig ist, wie er jene Werte, ohne die er sich Menschlichkeit nicht denken kann, befestigt, indem er zugleich die »Persönlichkeit« in eine Menge austauschbarer Rollen aufzulösen scheint. Noch den feinsten Verästelungen der Heuchelei spürt er nach, jener geläufigen Abspaltung unserer Rede und unserer Handlungen von der Wahrheit, mit deren Hilfe der moderne Mensch sich angewöhnt hat, sein Leben zu fristen.

Max Frisch hat auffallend häufig über den Tod nachgedacht und geschrieben. Auch auffallend früh, und sehr persönlich. Es kann nicht ausbleiben, daß manches gerade aus diesen Äußerungen heute wie eine Vorausschau auf seinen eigenen Tod erscheinen muß. Man lese in diesen Tagen die Rede nach, die er 1984 an »junge Ärztinnen und Ärzte« richtete: »Vom Tod war hier die Rede, weil nur aus unserem Todesbewußtsein sich das Leben als Wunder offenbart. Ich brauche kein anderes Wunder.«

Man wird Sätze, ganze Passagen aus seinen Arbeiten zitieren. Aber ein Schriftsteller wie Max Frisch, der keine Sprüche machte, hinterläßt als Vermächtnis eben die Gesamtgestalt seines mehrtausendseitigen Werkes, dessen lebendige Widersprüchlichkeit, wenn wir uns auf sie einlassen, uns tiefer und nachhaltiger betrifft, als jedes einzelne Zitat es könnte.

Der Zufall will es – aber hat Max Frisch an den »Zufall« geglaubt?, daß zwei eminent politische Texte nun seine letzten sind: Das Palaver zwischen einem Großvater und seinem Enkelsohn über die Frage, ob die Schweiz eine Armee brauche. Mit Stolz sprach er mit mir über die Aufführung dieses seines letzten Stückes im Zürcher Schauspielhaus. Und die Rede aus Anlaß der Goethe-Preisverleihung 1989 in Frankfurt am Main, in der er sich auch der deutschen Problematik annimmt, wie immer als kritischer, verläßlicher Freund.

Wer soll, wer könnte diese Stelle einnehmen? In dem Netz europäischer Gesittung ist ein wichtiger Verknüpfungspunkt ausgefallen. Ein Mensch, auf den auch ich gewöhnt war zu blicken, mich zu beziehen, lebt nicht mehr. Ein Posten ist vakant.

April 1991

»Die Wahrheit unserer Zungen«

Zu Grace Paleys Geschichten

»Ich weiß nicht. Früher wußte ich's«, sagt Grace Paley, befragt nach dem »zentralen Anliegen« ihrer Erzählungen. Koketterie? Kaum ein unpassenderes Wort könnte es geben, auf sie bezogen – wenn ich schon über sie und ihre Geschichten reden soll, anstatt ihr einfach einen Gruß von Mecklenburg nach Vermont zu schicken, wo sie jetzt im Sommer lebt. Hallo, Grace, jetzt soll ich also Lesern und Leserinnen, die dich noch nicht kennen, deine Geschichten nahebringen. Ich sehe, sie glaubt nicht an »Nahebringen«, sie zuckt die Achseln und schweigt. Unnachahmliche, nicht nacherzählbare Geschichten, sage ich, aber wenn Grace irgend etwas über sie weiß, so ist es ja das. Ihr Vater schon hat es ihr unter die Nase gerieben: »Wie ich sehe, bist du nicht imstande, einfache Geschichten zu erzählen. Also, verschwende keine Zeit darauf.« Scharfsinnig und zugleich resigniert, dieser Vater, während die Tochter geduldig und ein kleines bißchen hinterhältig ist, alles zuzugeben scheint, gerade indem sie ihm einzureden sucht, jene unglückliche Frau und Mutter, über deren himmelschreiend ungerechtes Schicksal er sich derartig aufregt (»ich kenne sie und habe sie erfunden«), könne sich letzten Endes doch ändern und damit ihrem Leben eine andere Wendung geben. Anderswo aber bekennt sie, ohne sich um auftretende Widersprüche zu kümmern: »Möglicherweise schulde ich meiner eigenen Familie und den Familien meiner Freunde etwas. Nämlich, ihre Geschichten so einfach wie möglich zu erzählen, um, wie man es ausdrücken könnte, wenigstens ein paar Leben zu retten.« Dies meint sie nicht nur metaphorisch, glaube ich, sondern auch ganz wörtlich. Sie denkt nicht sehr optimistisch über die Zukunft unserer Erde. »Natürlich bin ich wegen dieses Planeten, der in giftigem Ekel von uns abfällt, kaum je zu Hause.« Was, zum Teil, meint sie, erklärt, warum sie nur kurze und, wie sie denkt, zu wenige Geschichten geschrieben hat, und keine Romane. Statt dessen dieses eigentümliche Gewebe von Erzähltem, von Stimmen, Berichten, Beobachtungen, die im Grunde alle miteinander zusammenhängen.

Da ich deutlich spüre, man kann ihr nicht beikommen, greife ich doch immer wieder nach ihrem Buch, komme ins Blättern, lese mich fest, gerate in den gleichen Sog. Ihre Wörter und Sätze erzeugen eine andere Art von Bewunderung und Begeisterung in mir als jede andere Prosa, und zugleich spüre ich diesen Stachel: Wie macht sie das! »Die Form ist eine Sache der Gnade« – eine ihrer bündigen Behauptungen. Gut, gut. Aber trotzdem: Etwas muß doch herauszufinden sein. Ich schrecke nicht mehr davor zurück, mit einem Stift an die Texte heranzugehen. Die Ausbeute ist mager, wie erwartet. Was habe ich letzten Endes vermerkt? In der ersten Geschichte, »Adieu und viel Glück«, steht ein einziges Wort am Rand: »Dialoge!« Ein fast ärgerlicher Anerkennungsruf. Gemeint ist folgendes: Der Schauspieler Vlashkin sagt zu Rosie, die immerhin ein Leben lang mehr oder weniger seine Geliebte ist: »Du verlierst deine Zeit. Verstehst du das? Eine Frau sollte ihre Zeit nicht verlieren.« Darauf Rosie: »Oi, Vlashkin, wenn du mein Freund bist, was heißt dann Zeit?«

Wie wahr, und was heißt schließlich das germanistisch-buchhalterische »Dialoge«? »Geht es dir gut? Wirklich, Rose? Du bist gesund? Du arbeitest?« – »Meine Gesundheit ist erstklassig, für das Gewicht, das sie tragen muß.« Aber so reden die Leute, sagt Grace Paley. »Sie sollten mal hören, wie die Menschen hier sprechen. Ich bin tief erstaunt.«

New York also, Lower-East-Side-Kultur, das einmalige Gemisch der verschiedenen Einwanderersprachen im Schmelztiegel des Amerikanischen. Grace Paleys Eltern, jüdische Immigranten, sprachen zu Hause russisch, sie selbst lebte mit ihren kleinen Kindern in einem Viertel mit jüdischen Familien verschiedener Herkunft, mit Puertoricanern, Polen. Sie, »ganz aus Ohren bestehend«, hat jede denkbare Gelegenheit, die Leute reden zu hören, im Park mit den anderen Müttern, im Supermarkt, zu Hause mit den Nachbarinnen, bei Demonstrationen und Sit-ins, beim Flugblattverteilen, in Cafés und den billigeren Restaurants. Und sie hört, hört, hört. Die Sprache des Ortes. Die »Wahrheit unserer Zungen«. Wie sprühend, phantasievoll, aggressiv, irrational, unlogisch und treffend sie sich die Meinung sagen. Grace Paley schafft ganze surrealistische Porträts nur aus Sprache. Sie weiß, wovon sie redet. Einmal ist sie mit mir durch Straßen gegangen, die an ihr unmittelbares Wohnviertel angrenzten – die Amerikaner sagen »neighbourhood« –, Straßen mit verwahrlosten Häusern, mit arbeitslosen, den Drogen und der Kriminalität preisgegebenen jungen Leuten, von denen manche auf Grace zukamen, sie zu begrüßen, ihr von sich zu erzählen. Sie kannte sie; sie und ihr Mann kümmerten sich um sie.

Zurück zu den Texten. Mir scheint, diese Geschichten, die ja sehr oft Kompositionen für eine Stimme sind, brauchen keinen anderen Kommentar als den entzückten Seufzer: So sind die Menschen. Und ist vielleicht alles, was diese menschenfreundliche Erzählerin schafft, daß wir am Ende von 487 Seiten diesen Seufzer verwandeln in: So sind wir Menschen? Und wäre das nicht viel? Mehr, als die meisten Erzähler erreichen, die sich so viel mehr vornehmen? Sie aber will ja nichts anderes als »wissen, wie Menschen in eben diesem Augenblick in Zeit und Geschichte leben«. Ich sage ja nicht, dies sei ein bescheidenes Programm für eine Schreiberin, aber jedenfalls ist es eines, das sie freihält von Absichten, die nicht aufs Papier gehören; das ihr die Möglichkeit gibt, zu warten, manchmal jahrelang zu warten, bis ein Material reif ist, um es aufzuschreiben. »In mir geht es lange, bis ich, was ich weiß, niederschreibe.«

Soviel ich sehe, kümmert sie sich nicht um irgendeinen Begriff von Kunst, ob »hoch« oder »nieder«. Sie weiß, »die wirklichen Experimente geschehen im Inhalt«. Das ist wahr, seit es Kunst gibt, nur wird es immer einmal wieder vergessen. »Eigentlich ist das eine klassenspezifische Überlegung«, fügt sie nachdenklich hinzu; so ist es wohl, jedoch auch das wird bestritten werden, wenn man leugnen möchte, daß es Klassen gibt. Zugleich aber mit diesem inhaltlichen Experiment, ganz und gar mit ihm verschmolzen, bereitet Grace Paley ihren Stoffen eine auffallend weibliche Form: »Dann plötzlich merkt man, daß man eine Art Behälter geflochten oder erschaffen hat, in den die Geschichte zu liegen kommt, oder eine Tasse, einen Teller, einen Bottich … oder die Wanne.« Wer sähe da nicht Frauen bei uralten weiblichen Tätigkeiten vor sich, beim Korbflechten, Töpfern, beim Herstellen von Fasern. Sie bittet ihre Geschichten, fürsorglich, behutsam, um sie nur ja nicht zu verletzen. Die Form als Geschenk. Ein Geschenk allerdings, das nicht von außen komme; für das man hart arbeiten müsse.

Während ich dies schreibe, rumort in mir ein Satz von Virginia Woolf, den ich kürzlich las, nicht ohne Widerstreben, so sehr ich sonst geneigt bin, ihren Sätzen mein Vertrauen zu schenken: »Und wenn man sein (des Schriftstellers) Geschlecht gänzlich vergessen kann, wird er sagen, um so besser; ein Schriftsteller hat keins.« Gewiß, kein Satz in der Ich-Form, sondern mit einem »Er«, das den »Kunden, den wir brauchen«, meint; doch kann ich mir nicht verhehlen, daß sie die Ansichten dieses idealen Bücherkunden, den ja auch wir uns heute gerne wieder erschaffen würden, weitgehend teilt. Nicht so Grace Paley. Fraglos ist sie ein »Schriftsteller« – beinahe durch Zufall, meint sie; leicht hätte sie eine unpublizierte Schreiberin bleiben können –, aber sie hat ein Geschlecht und verleugnet es nicht. Man konnte sogar sagen, es sei die Quelle ihrer Inspiration, was ja nicht heißen würde: die Summe aller positiven Antriebe; auch die aus vielen einzelnen schmerzhaften Posten bestehende Summe allen Kummers, aller Ängste, aller Verletzungen, aller absichtlich zugefügten Beleidigungen, aller Verkennung, Nichtbeachtung und Mißdeutung, denen eine Frau heute ausgesetzt ist; aber auch die Summe aus allen eigenen Versäumnissen, Irrtümern und Verschuldungen, zu denen wiederum besonders Frauen so häufig und tiefgreifend Gelegenheit gegeben wird, in diesen Gesellschaften, die sie zwingen, in kinderfeindlicher Umwelt Kinder aufzuziehen und ihnen vieles schuldig zu bleiben, wofür ihnen dann diverse Institutionen der gleichen Gesellschaft gehörige Schuldgefühle beizubringen wissen. Kein Wunder, daß eine ganze Reihe von Schreiberinnen auf Kinder verzichtet, sogar, wie Simone de Beauvoir, eine Theorie daraus macht: Nur ohne Kinder könne eine Frau sich ihre geistige Unabhängigkeit bewahren. Dagegen Grace Paley: »Ich könnte nicht schreiben, ohne zu leben, aber ich könnte auch ohne meine Kinder nicht leben.«

Eine Frau mit kleinen Kindern wird auf andere Art schreiben müssen als ein Mann oder als eine Frau ohne Kinder. Ihre Zeit wird zerhackt sein, ihre Konzentrationsfähigkeit, derer sie sich früher, vor den Kindern, sicher gewesen sein mag, wird zerfasern, vielleicht niemals wiederkehren. Sie wird sich daran gewöhnen müssen, die Intensität und Zeit, die sie an das Schreiben wendet, als von ihren Kindern abgezogene Intensität und Zeit zu begreifen, und die andauernde Versuchung, aufzugeben, abwehren, das andauernde Schuldgefühl aushalten müssen. Sie wird erfahren, wie schwer es einer Frau wird, sich selbst Gerechtigkeit angedeihen zu lassen – denn das ist Schreiben ja auch. »Wer könnte sich denn für den Dreck interessieren? Ich interessierte mich sehr dafür, aber ich hatte nicht genug soziales Ego, um es niederzuschreiben. Ich mußte es entwickeln bis zum Punkt, wo ich sagte: ›egal‹.« Egal, was andere, egal, was die Medien sagen mögen, denen der Hohn über »Selbstmitleid« bei Frauen locker sitzt. Da können sie nun bei Grace Paley nicht fündig werden. »Hart und fröhlich, wie ich immer gewesen bin«, sagt sie, genau die Mischung, die ihre Prosa explosiv macht. Keine Larmoyanz, keine Beschwichtigung, nicht die Spur von Selbstmitleid, eher Schonungslosigkeit, auch gegen sich selbst. Vitalität und vor allem: Humor als eine einmalige Legierung von Lebensfreude und Hoffnungslosigkeit. »Leben ist tragisch. Die Welt könnte am Ende sein«, das entbindet sie doch nicht von ihren Versuchen, zu verstehen.

Bei ihr kann man sehen, was Kinder für eine Schreiberin sein können: innigste Verbindung mit dem lebendigsten Kern des Lebens. Eine Fülle unerfindbarer Einzelheiten, die ihr aus dem Zusammenleben mit Kindern zufließen, das niemals zum bloßen Beobachten entarten kann. Eine Quelle für Unmittelbarkeit, Sprachwitz, Originalität, für Zartheit und Zärtlichkeit, die sehr wohl ästhetische Kategorien sein können, wenn man die denn unbedingt brauchen sollte. Mitgefühl, ja, auch das. Ich kenne nichts, was einen Menschen tiefer und dauerhafter sensibilisieren kann als der Umgang mit Kindern. Sensibilisieren im weitesten Sinn, denn Kinder, besonders die eigenen, zwingen eine Frau ja, den Zustand der Welt persönlich zu nehmen. »Ich hatte meinen Kindern versprochen, den Krieg zu beenden, bevor sie erwachsen wurden.« Seit dem Vietnam-Krieg geht Grace Paley protestierend auf die Straße.

Frauen, Freundinnen, Familie – ihre beliebtesten Themen, sie wird nicht fertig damit. Das »dunkle Leben von Frauen« habe sie »am Anfang zum Schreiben gebracht«. Frauen erscheinen ihr bemerkenswert: Wie stark sie sind. Es schwer zu haben heiße doch nicht, Opfer zu sein. Sie forciert nichts. Sie erlaubt es ihren Figuren nicht, sich umzubringen. Schriftsteller, die das zulassen, sagt sie, und meint ausdrücklich auch Tolstoi und den Tod der Anna Karenina, hätten »keine richtige Ahnung davon, ein wie entsetzliches Leben Menschen ertragen können«. In den Familien der Frauen, fast alle ohne Männer, Freundinnen seit ihrer Jugend, Spielplatzmütter wie sie selbst, findet sie genau das heillose Durcheinander, das dem Chaos in jeder normalen Familie aufs Haar gleicht, das also, wenn auch die äußeren Umstände stark voneinander abweichen mögen, ein jeder wiedererkennen müßte, der nicht mit Illusionen durch sein eigenes Familienleben läuft. Wenn auch eine Familie, in deren Zentrum eine Frau namens Faith wirtschaftet, kocht, sich abplagt, sich mit den Kindern streitet, »mit einer Hand hinter dem Rücken Maschine schreibt«, lange Diskussionen mit ihren Freundinnen über das Leben führt, ihre Ex-Ehemänner und ihre Liebhaber in spe abfertigt, an ihren Eltern im Altersheim verzweifelt und sich mit unstillbarem Hunger ihr Stück aus dem großen Kuchen Leben herausreißt – wenn auch eine solche Familie ihre eigene Art von Verrücktheit hat; ein Binnenklima, das dem Angehörigen eines anderen Clans als überhitzt, unzuträglich, aufreibend erscheinen muß.

Faith ist eine herrliche Erfindung, der Klang ihres Namens erinnert an »Grace«. »Faith«: »Treue«, »Vertrauen«. Eine Projektion ihrer selbst an den Horizont der Literatur, der solche Projektionen zugleich schärft und vergrößert. Faith selbst ist eine Figur, die wie ein Verstärker wirkt auf alles, was durch sie hindurchgeht: Schicksalsschläge, Ungerechtigkeiten, Alltagsunbill, Liebe und Liebesenttäuschung, innige Frauenfreundschaften; alltägliche Grobheiten, Gemeinheiten, Unbedachtheiten, denen eine Frau ausgeliefert ist; der häufige Mangel; all die Widerfahrungen, die sie ohne Ironie und Selbstironie kaum bestehen könnte.

Grace »ist« nicht Faith. Mal ist sie es mehr, mal weniger. Am nächsten kommt sie ihr in den Texten aus dem Friedenskalender auf das Jahr 1989, »Midrash und Glücklichsein«, »Conversation ii«, da spricht Faith mit Grace' Mund. Sie spielt mit der Figur, die zugleich scharf konturiert und etwas wie ein Medium für sie ist. »Faith ist tatsächlich Amerikanerin«, sagt sie, »und wie jede ist sie zur aufrichtigen Annahme ihres Glücks erzogen worden. … Faith erlaubt mir, für meine Leute zu sprechen, das heißt, für meine Freundinnen. … Mein Leben und das ihre sind austauschbar.« Was wie hochgradige Bescheidenheit, ja Selbstverleugnung klingen mag angesichts eines Kunstbetriebs, in dem fast jeder sich aufzustylen, zu profilieren und von fast jedem anderen abzusetzen sucht, das mag einfach Realitätssinn sein. Grace Paley fühlt sich nicht erschreckt oder beleidigt von der Vorstellung, ihr einzelnes Leben sei Teil einer gemeinschaftlichen Biographie, ganz besonders einer gemeinschaftlichen Biographie von Frauen. Interessant ist ihr das Gleiten von echten Erinnerungen zu erfundenen Figuren, das Sich-Herausbilden prägnanter individueller Gestalten aus dem unerschöpflichen Reservoir einer vielgestaltigen Gruppe. Es ist offensichtlich, daß Grace Paley diese Gruppe – »meine Leute« – braucht, nicht etwa als Stofflieferant, sondern zum Leben und Überleben. Ellen, eine ihrer Freundinnen, ruft »zwei Wochen vor Weihnachten« bei ihr an: »Faith, ich sterbe.« Faith selber denkt, daß sie sterben muß. »Was verlieren wir schon groß? Noch ein paar Jahre leben. Zugucken, wie die Kinder und der ganze Scheißkram und jedes Käseloch in dieser Welt draufgeht in Hitze, Druckwelle, Feuersturm …« Darauf sagt Ellen: »Ich will das alles sehen.« Zur Essenz des Glückes gehört für Grace Paley die intime Freundschaft mit Frauen.

Ein zentrales Motto. Im »Ertrinken« noch »sieht« sie: »Ich würde hinaufschauen zum Himmel.« Ihre Gedichte, die hier zum erstenmal in deutsch erscheinen (kongenial übertragen von ihrer Freundin Marianne Frisch), sind Stenogramme, mit aufgerissenen Augen notiert. Berichte über politische Aktionen aus dem »Peace Calendar 1989« geraten ihr zu Teilstücken der menschlichen Tragikomödie, an der sie teilhat.

Sie ist unbestechlich. Scheinbar mühelos durchstößt sie die Konvention, ignoriert das Urteil der »Welt«. Ihre Menschlichkeit ist das Maß für die Beziehungen der Gestalten, die so amoralisch sein können, wie sie wollen (und müssen), ohne je aus diesem Maß herauszufallen. Dieser Hintergrund von Werten (ohne den jede Menschenansammlung ein marodierender Haufen wäre), der in mancher Hinsicht unerhört dauerhaft, in anderer wechselhaft erscheint, wird durch das, was sie alle zusammen tun oder lassen, durch ihr Gerede, durch die Geschichten, die Grace Paley über sie schreibt, befestigt und verändert, jedenfalls aufgefrischt. »Ich will Ihnen sagen, was los ist: das Leben. Sie haben eine Meinung. Ich habe eine Meinung. Das Leben, das hat keine Meinung.«