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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74097-293-6
»Wie lange ist es jetzt her, dass wir uns das letzte Mal getroffen haben?« Daniel Norden sah seinen alten Freund fragend an.
»Schon eine ganze Weile.« Dr. Anton Aumüller stellte sein Weinglas auf dem Tisch ab. »Früher haben wir uns jedes Jahr auf dem Hausärztetag getroffen. Aber seit du Chefarzt der Behnisch-Klinik bist, lässt du dich dort nur noch selten sehen.«
Daniel erwiderte lächelnd: »Nun, eigentlich habe ich da auch gar nichts mehr zu suchen. Schließlich sind meine Hausarztzeiten längst vorbei. Ich schaue da nur noch hin und wieder rein, um einen guten Freund wiederzusehen und mich mit ihm zum Abendessen zu verabreden.«
»Zu einem exzellenten Abendessen, wenn du mich fragst.« Anton sah sich in dem eleganten, aber trotzdem gemütlichen italienischen Restaurant um. Eigentlich bevorzugte er zünftige Wirtshäuser, in denen eine deftige Schweinshaxe oder Weißwürste auf der Tageskarte standen. Wenn’s dazu noch eine kühle Maß Bier gab, war Anton rundum glücklich. Aber er konnte sich auch gelegentlich mit einem leichten Pastagericht und einem Glasl Wein zufriedengeben, wenn die Gesellschaft stimmte. Und Daniels Gesellschaft entschädigte ihn allemal für die entgangenen Gaumenfreuden.
»Wie läuft deine Praxis?«, erkundigte sich Daniel.
»Jetzt, wo’s kälter wird, habe ich tüchtig zu tun. Alle plagen Schnupfen und Husten, und sie rennen mir die Bude ein oder klingeln mich mitten in der Nacht aus dem Bett, weil sie ein bisschen Fieber haben.« Anton war ernst geworden, und auf einmal fiel Daniel auf, wie erschöpft sein Freund aussah. Sofort machte er sich Sorgen. Anton Aumüllers siebzigster Geburtstag lag schon ein paar Jahre zurück. Das Alter, das üppige Leben und seine Landarztpraxis hatten ihre Spuren hinterlassen. Außerdem wusste Daniel, dass Anton mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. Der Blutdruck war zu hoch, und sein Herz machte Sperenzchen.
»Hast du schon mal daran gedacht, etwas kürzerzutreten?«, fragte Daniel vorsichtig, als er dieses sensible Thema ansprach.
Sein Freund war mit Leib und Seele Landarzt. In den Ruhestand zu gehen, das kam für ihn überhaupt nicht infrage.
»So ein Schmarrn!«, wetterte Anton auch prompt. »Mir geht’s gut! Sogar sehr gut!« Dabei rieb er sich mit der flachen Hand über seine linke Brust und erregte damit augenblicklich Daniels Aufmerksamkeit.
»Bist du sicher?«, fragte er alarmiert nach.
»Natürlich. Alles bestens.« Antons Stimme klang merkwürdig gepresst, auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißperlen gebildet. »Mir geht’s gut. Der Magen drückt nur ein bisschen nach dem Essen. Also kein Grund, so besorgt dreinzuschauen.«
Weiter kam Anton nicht. Er stöhnte laut auf, bevor sein Kopf nach vorn sank und er das Bewusstsein verlor.
Als Anton wieder zu sich kam, lag er bereits auf der KWE, der Kardiologischen Wacheinheit der Behnisch-Klinik. Seit seinem Zusammenbruch waren mehrere Stunden vergangen, von denen er jedoch nichts mitbekommen hatte. Während der Fahrt im Rettungswagen befand er sich in einer tiefen Bewusstlosigkeit. Er wusste nicht, dass der herbeigerufene Notarzt zusammen mit Daniel um sein Leben gekämpft hatte. Dieser Kampf, von dem Daniel einige Male befürchtet hatte, ihn zu verlieren, fand seine Fortsetzung in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik. Im Schockraum taten die Ärzte und Pflegekräfte alles, um Anton Aumüller von der Schwelle des Todes zurückzuholen. Mit viel Mühe gelang es schließlich.
Auf der KWE, in einem Klinikbett liegend, kam Anton wieder zu sich. Nur ganz allmählich fand er in die Wirklichkeit zurück. Verwirrt sah er sich um. Es musste schlimm um ihn stehen, wenn sein Freund Daniel bei ihm am Bett saß und ihn mit sorgenvoller Miene betrachtete.
Möglichst schonend brachte ihm Daniel bei, warum sie sich - statt beim Italiener - nun in der Klinik gegenübersaßen. Doch an der Tatsache, dass es wirklich schlimm um Anton gestanden hatte, gab es nichts zu verharmlosen oder zu beschönigen.
»Ein Myokardinfarkt?«, fragte Anton sofort nach.
»Ja, leider. Ein Teil deines Herzmuskels wurde nicht mehr mit Blut versorgt. Wir haben bei der Katheteruntersuchung das verstopfte Blutgefäß geweitet und dir zusätzlich einen Stent verpasst.«
Anton nickte geistesabwesend. »Danke, Daniel. So wie’s aussieht, hast du mir das Leben gerettet.«
»Nicht nur ich, mein Freund«, erwiderte Daniel lächelnd, obwohl der Schock, den ihm Antons Infarkt versetzt hatte, noch immer tief in seinen Knochen saß. »Du warst für uns ein Gemeinschaftsprojekt. Dass du dich wieder vollständig erholen wirst, ist der Verdienst vieler.«
»Was meinst du, wie lange muss ich hierbleiben?«
»Nun, eine Weile wird’s schon dauern. Du musst noch überwacht und gründlich durchgecheckt werden. Und dann folgen natürlich noch sechs Wochen Reha, damit du …«
»Nein!« Anton klang energischer, als es Daniel bei seinem angeschlagenen Gesundheitszustand erwarten hätte. »Keine Reha! Ich kann meine Praxis unmöglich für mehrere Wochen schließen. Meine Patienten brauchen mich.«
»Im Moment zählt nur, was du brauchst! Du hattest einen Infarkt, Anton! Was das bedeutet, muss ich dir als Mediziner ja wohl nicht erst erklären. Dein Herz ist noch lange nicht belastbar. Du kannst nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Du musst dich jetzt unbedingt schonen.«
Anton nickte. »Ja, und das werde ich auch. Ganz bestimmt. Aber nicht in der Reha. Ich werde ein paar Tage hierbleiben und dann nach Hause fahren. Dort kann ich mich am besten erholen. Bei meiner Arbeit und bei meinen Patienten.«
»Das kannst du unmöglich ernst meinen«, stieß Daniel ungläubig hervor. »Deine Arbeit und dein bisheriger Lebensstil haben dich doch erst hierher gebracht. Du kannst nicht einfach so weitermachen wie bisher.«
»Keine Sorge, Daniel. Das werde ich auch nicht. Ich werde ein paar Dinge ändern. Kann ja nicht schaden, ein wenig kürzerzutreten.«
»Dieser Vorsatz mag ja löblich klingen, aber er wird sich nicht umsetzen lassen. Wenn deine Patienten vor deiner Tür stehen oder dich nachts anrufen, wirst du sie ganz bestimmt nicht abweisen.«
»Natürlich nicht!«, wies Anton dieses Ansinnen auch gleich zurück. »Was wäre ich denn dann für ein Arzt?«
»Genau das meine ich. Wenn du in ein paar Tagen nach Hause fährst, wirst du genauso weitermachen wie vor deinem Infarkt. Bloß dass dein Herz nun weniger leistungsfähig sein wird, weil du ihm keine Erholung gegönnt hast.« Voller Sorge um seinen Freund sprach Daniel weiter: »Das kann nicht gutgehen. Und beim nächsten Mal … bei deinem nächsten Infarkt ist vielleicht niemand bei dir, der dir helfen kann.«
»Das weiß ich doch alles, Daniel«, erwiderte Anton kleinlaut. »Aber was soll ich denn machen? Du müsstest mich eigentlich am besten verstehen. Immerhin hattest du früher auch eine Praxis und weißt, dass man nicht einfach ein paar Wochen ausfallen kann.«
»Gibt es denn niemanden, der dich vertreten kann?«
Anton schüttelte traurig den Kopf. »Meine Praxis ist die einzige in der Gemeinde. Genug Arbeit für zwei Hausärzte wäre schon da, aber keiner von den jungen Ärzten will heute noch aufs Land. So kann ich nur froh sein, dass es wenigstens den Dr. Wegener in Mittfelden gibt. Wir vertreten uns gegenseitig, wenn es mal um ein paar freie Tage geht. Aber sechs Wochen? Nein, das schafft der Hubert auch nicht mehr. Er kann unmöglich so lange zwei Praxen führen und außerdem die ganzen Bereitschaftsdienste machen. Wahrscheinlich wäre Hubert dann der Nächste, der im Rettungswagen in die Klinik fährt.«
Daniel verstand, in welcher schwierigen Lage sich sein Freund befand. Anton lebte für seinen Beruf. Für ihn hatte es immer nur seine geliebte Praxis gegeben. Sie war ihm so wichtig, dass er nie die Zeit gefunden hatte, eine eigene Familie zu gründen. Seine Patienten waren seine Familie, und die konnte er unmöglich in Stich lassen.
Müde rieb sich Daniel die Augen. Die Nacht war weit vorangeschritten, und die Strapazen und Aufregungen der vergangenen Stunden machten sich jetzt auch bei ihm bemerkbar. Daniel drückte Antons Hand und stand auf.
»Ruh dich ein wenig aus und versuch zu schlafen. Der neue Tag bringt uns vielleicht eine Lösung für das Problem.«
*
Doch auch am nächsten Morgen hatte Daniel keine Ahnung, wie er Anton dazu bewegen sollte, für mehrere Wochen in die Reha zu fahren. Die Sorgen darüber hatten ihn kaum schlafen lassen. Und auch jetzt führte ihn sein erster Gang auf die KWE, um nach Anton zu sehen.
»Wie war seine Nacht?«, fragte er Dr. Sebastian König, der die EKG-Berichte der vergangenen Stunden auswertete. Der junge Internist wusste sofort, von wem sein Chef sprach.
»Ruhig. Herr Aumüller hat durchgeschlafen. Die Sauerstoffsättigung ist in Ordnung, und das Herz schlägt rhythmisch und kräftig. Blutdruck und Herzfrequenz liegen im Normbereich. Wenn er sich weiter so schnell erholt, kann er in wenigen Tagen in die Reha entlassen werden.«
Daniel setzte sich seufzend. »Daraus wird wohl nichts werden. Mein guter, aber leider uneinsichtiger Freund hat es sich in den Kopf gesetzt, auf eine Rehabilitation zu verzichten und stattdessen schnellstmöglich in seine Praxis zurückzukehren.«
»Das wäre Selbstmord!«, entfuhr es Sebastian sofort.
»Da gebe ich Ihnen recht, Herr König. Und auch Herr Aumüller weiß, wie viel er damit riskiert. Aber solange er keine Vertretung hat, die sich um seine Patienten kümmert, wird ihn nichts und niemand davon abhalten können, seine Praxistür aufzuschließen, sobald wir ihn entlassen.«
Als Sebastian König zu einer Erwiderung ansetzte, winkte Daniel resigniert ab. »Ich kann mir schon denken, was Sie mir jetzt vorschlagen wollen: Wir behalten unseren störrischen Patienten einfach länger hier, als es nötig wäre, damit er sich noch erholen kann. Die Idee hatte ich auch schon, aber leider wird sie nicht funktionieren. Irgendwann wird es ihm reichen; er wird seine Sachen packen und Hals über Kopf das Weite suchen.«
Sebastian stimmte dem Chefarzt der Behnisch-Klinik lächelnd zu. »Ja, wahrscheinlich würde es genau so ablaufen. Bei meinem Vater wäre es nicht anders. Auch ihn müsste man wohl in einem Verlies mit dicken Mauern anketten, damit er seine Praxis für mehr als drei Tage allein lässt. Herr Aumüller erinnert mich sehr an ihn.«
Überrascht sah Daniel auf. »Ihr Vater ist auch Hausarzt?«
»Ja, und so wie Herr Aumüller praktiziert auch mein Vater auf dem Land. Die Praxis ist seit jeher in Familienhand, und meine gesamte Kindheit fand in ihren Räumen statt. Meine Mutter hat dort als Schwester gearbeitet, und wenn mein Bruder und ich aus der Schule heimkamen, führte uns unser erster Weg dorthin. Oft haben wir in irgendeinem Behandlungszimmer gesessen, um unsere Schularbeiten zu machen. Oder wir haben dort unsere imaginären Patienten behandelt und waren dabei natürlich immer sehr erfolgreich. Für uns war das der schönste Platz der Welt. Entweder fand man uns dort oder draußen in der herrlichen Natur. Wir zogen durch die Wälder und tobten uns auf blühenden Wiesen aus.« Verlegen fuhr sich Sebastian mit einer Hand durch das dichte dunkle Haar. »Entschuldigen Sie, dass ich so ins Schwärmen gekommen bin. Ich wollte Sie nicht mit meiner Familiengeschichte langweilen.«
»Das haben Sie nicht«, versicherte Daniel schnell. »Ich bin nur etwas erstaunt, dass Sie hier in der Behnisch-Klinik arbeiten, wenn Ihr Herz doch anscheinend für die Praxis Ihres Vaters schlägt.«