für Freyja
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-036338-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036339-7
epub: ISBN 978-3-17-036340-3
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Diese kurze Einführung in die Beschäftigung mit der »Ägäischen Frühzeit« verdankt ihre Entstehung der Anregung seitens Studierender der »Alten Geschichte« bzw. der »Archäologie« an der Universität Graz. Anlass hierzu boten Lehrveranstaltungen zum Themenbereich »Geschichte der Frühzeit des ägäischen Raumes«, im Rahmen derer von Lehrveranstaltungsteilnehmenden immer wieder nach einer Einführung in diese Materie gefragt wurde, die über bislang existierende ähnliche einschlägige Werke sowohl an Ausführlichkeit als auch hinsichtlich des zu eng gefassten geographischen Rahmens hinausginge. Daraus entstand dieses Buch als der erste Teil einer solchen Einführung. Es beruht im Wesentlichen auf dem Inhalt einschlägiger Lehrveranstaltungen. Beim Verfassen dieser Einführung konnte ich mich hinsichtlich der wissenschaftlichen Tragfähigkeit der Darstellung auf Hilfe meiner Kolleginnen und Kollegen der Archäologie (Maria Christidis, Manfred Lehner und Gabriele Koiner) sowie der Alten Geschichte (Margit Linder und Sabine Tausend) stützen. Zur besseren Verständlichkeit der Ausführungen trugen die Korrekturen einiger Studierender (vor allem von Verena Reiter und Matthias Scholler) sehr wesentlich bei. All diesen Personen sei an dieser Stelle gedankt, ganz besonders aber meiner Frau Sabine für ihre stetige Hilfe und Geduld. Nicht zuletzt sei natürlich auch dem Kohlhammerverlag für die Aufnahme dieses Buches in sein Programm gedankt, vor allem aber Herrn Peter Kritzinger für dessen Mühe und unerschöpflichen Langmut bei der Korrektur des Manuskripts.
Das vorliegende Buch soll eine knappe übersichtsartige Darstellung der Geschichte und Kulturen des ägäischen Raumes in prähistorischer Zeit bieten. Den geographischen Rahmen der Darstellung bilden hierbei das griechische Festland, die Westküste Kleinasiens, die Inseln der Kykladen sowie die große Insel Kreta. Gewissermaßen aus diesem Rahmen fallend wird auch die Insel Zypern behandelt, da sie – zumindest zeitweise – in enger Beziehung zu den Kulturen der genannten Gebiete gestanden hat.
Den zeitlichen Rahmen geben das Neolithikum sowie die frühe und mittlere Bronzezeit vor, also die Zeit vom 7. Jahrtausend bis zum 17. Jahrhundert (die Angaben beziehen sich im gesamten Buch – sofern nicht anders angegeben – auf die Zeit vor Christi Geburt), wobei diese beiden Grenzen nicht in allen Gebieten gleichermaßen gezogen werden können bzw. sinnvoll zu ziehen sind. Die nachfolgenden Epochen der späten Bronzezeit, also die mykenische Zeit und die frühe Eisenzeit, die ebenfalls der Prähistorie angehören, werden in einem zweiten Band vorgestellt werden, wobei die Teilung dadurch gerechtfertigt erscheint, dass in der mykenischen Epoche der gesamte Raum der Ägäis uns kulturell relativ einheitlich als jener der »Mykenischen Kultur« entgegentritt und zudem die zur Verfügung stehenden Quellen ein wesentlich größeres Spektrum an behandlungsrelevanten Themen bieten, sodass sich schon aus Platzgründen eine Zweiteilung der Darstellung empfiehlt.
Diese Kurzdarstellung, die alle aufgrund der zur Verfügung stehenden Quellen erschließbaren Bereiche der prähistorischen ägäischen Kulturen behandelt, wendet sich an einen breiten Leserkreis. In erster Linie wurde es verfasst, um Studierenden der altertumswissenschaftlichen Fachrichtungen – also der Klassischen Archäologie, der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte – sowie denen der nahe verwandten Fächer – konkret der Ägyptologie, der Hethitologie und Altorientalistik – einen leicht verständlichen Einstieg in die Geschichte einer Zeit zu bieten, die in den gängigen Überblickswerken allenfalls am Rande Erwähnung gefunden hat. Des Weiteren richtet sich das Buch an eine Leserschaft, die über die zahlreichen populärwissenschaftlichen Abhandlungen hinausgehend an Themen der Antike interessiert ist, der jedoch diverse sehr eingehende Untersuchungen zur ägäischen Prähistorie allzu speziell erscheinen.
Den Anforderungen dieses Zielpublikums entsprechend wurde in der vorliegenden Darstellung zwar versucht, örtlich wie zeitlich sämtliche Themenbereiche der Ägäischen Frühzeit zu behandeln oder zumindest anzusprechen, auf die Erörterung kontrovers diskutierter Punkte, wie sie vor allem in der Prähistorie häufig anzutreffen sind, wurde großteils verzichtet, und solche Themen wurden nur in den Fällen angesprochen, in denen es nach der Meinung des Verfassers um grundlegende Fragestellungen geht, wie etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – um die in jüngster Zeit sehr unterschiedlich bewertete politisch-wirtschaftliche Rolle der minoischen Paläste. In allen übrigen Fällen hält sich das Buch an die jeweils vom Großteil der modernen Forschung vertretene Position oder bringt – deutlich gekennzeichnet – die Ansicht des Verfassers zum Ausdruck.
Dementsprechend beruht das vorliegende Buch – neben sehr wenigen umfangreicheren Monographien, die ihrerseits alle auf jeweils eine der bronzezeitlichen Kulturen beschränkt sind – auf einer Fülle von Einzeluntersuchungen zu speziellen Bereichen der zu behandelnden ägäischen Kulturen, welche zu einem hoffentlich instruktiven Gesamtbild des Darstellungszeitraumes zusammengefasst wurden. In der Bibliographie am Ende des Buches finden sich sodann die wichtigsten Untersuchungen zu den einzelnen Themenbereichen, wobei Vollständigkeit weder angestrebt wurde, noch realisierbar gewesen wäre. Zwar hat sich der Verfasser mit den jeweiligen in diesem Buch behandelten Themen auf Basis der neueren Forschungsliteratur auseinandergesetzt, doch hat er nur in einigen Ausnahmefällen selbst zu solchen neuen Forschungsergebnissen beigetragen, zumal sein Forschungsschwerpunkt in der Mykenologie liegt, die allerdings erst im zweiten Band im Mittelpunkt der Betrachtung stehen wird.
Der ägäische Raum bildet seit Jahrtausenden eine geographische Entität, da die hier gelegenen Länder und Inseln durch das Meer weniger getrennt als vielmehr verbunden sind. In der Tat beeinflussten sich diese Gebiete gegenseitig, wobei naturgemäß der Verkehr und besonders der Handel über See eine wichtige und unmittelbare Rolle spielte.1
Abb. 1: Die Kulturräume der Ägäis im Neolithikum und in der Bronzezeit
All dies ist für historische Epochen, das heißt für die Zeit nach dem 9. Jahrhundert längst bestens bekannt und bedarf auch keiner weiteren Erörterung. Nicht so selbstverständlich ist, dass die Kontakte und gegenseitigen Beeinflussungen der die Ägäis umrahmenden Kulturen weit älter sind: sie reichen nämlich über die Bronzezeit bis in die (mittlere und späte) Jungsteinzeit zurück! Diese Epochen im Ägäisraum zu beleuchten und die Interpendenzen der einzelnen Kulturen (Festland, Kreta, Kykladen und Troia) aufzuzeigen, ist das Ziel der vorliegenden überblicksartigen Darstellung. Die Geschichte des (groß-) griechischen Raumes muss daher der Geschichte der vorderasiatischen und der ägyptischen Kulturen an die Seite gestellt werden.
Die Ägäische Frühzeit umspannt beinahe sieben Jahrtausende und vier politisch, wirtschaftlich und kulturell miteinander in Verbindung stehende Siedlungsräume: Die West-Küste Kleinasiens (besonders Troia), die Inseln der Kykladen, Kreta und das griechische Festland; gleichsam als ›Außenposten‹ sowie ›Bindeglied‹ zu Anatolien und der Levante soll auch die Insel Zypern in die Betrachtung miteinbezogen werden. Die, verglichen mit den davor liegenden Epochen der mittleren und späteren Jungsteinzeit, wesentlich besser dokumentierte Bronzezeit (BZ) in den drei zentralen Kulturräumen wird als Kykladikum (C) auf den Inseln, als Minoikum (M) in Kreta und als Helladikum (H) auf dem griechischen Festland bezeichnet und jeweils in eine frühe (F), mittlere (M) und späte (S) Phase unterteilt, die ihrerseits wiederum in zwei bis drei Abschnitte unterteilt werden. Die vierte Kultur, die den Raum der bronzezeitlichen Ägäis geprägt hat, ist die der kleinasiatischen Westküste. Ihre Einteilung und Datierung wird nach der bedeutendsten Siedlungsstätte dieses Gebietes vorgenommen, nach Troia. Die Datierung dieser Stätte erfolgt allerdings nicht wie die der anderen Kulturen nach dem Schema »Früh-, Mittel- und Spät-« sondern nach den auf einander folgenden auf einander folgenden Siedlungsschichten Die nach diesen Siedlungsschichten benannte Einteilung Troia I bis VII a und b wird mit den Datierungen der anderen Kulturräume verglichen und synchronisiert.
Diese Datierungen basieren allesamt einerseits auf relativer Chronologie, d. h. der Abfolge der Fundschichten an den jeweiligen Ausgrabungsstätten, welche aufgrund der archäologischen (vor allem keramischen) Evidenz der einzelnen Räume erstellt und chronologisch zueinander in Beziehung gesetzt werden kann, andererseits aber auf Synchronismen mit Befunden zeitgleicher Kulturen des Vorderen Orients, Kleinasiens und Ägyptens, die (oftmals in Gräbern) mit Artefakten des Ägäisgebietes vergesellschaftet sind. Zuweilen gelingt es, das daraus entstehende chronologische Gerüst auch durch Daten, die mittels naturwissenschaftlicher Methoden (der Dendrochronologie, der Thermoluminiszenz, vor allem aber der C14-Datierung) gewonnen werden, zu ergänzen.2 Die diversen Methoden ermöglichen eine vorläufige chronologische Tabelle des Neolithikums und der Bronzezeit im Ägäisraum zu erstellen, die jedoch durch neue Funde jederzeit revidiert werden kann und daher als ›vorläufig‹ anzusehen ist:3
Tab. 1: Chronologische Tabelle des prähistorischen Ägäisraumes
Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die sich etablierende Altertumswissenschaft den Beginn der Geschichte Griechenlands und des griechischen Raumes mit Homer und der sog. »Homerischen Zeit«, also mit dem 8. Jahrhundert, angesetzt. Zwar war es auch den Gelehrten jener Zeit klar, dass es eine Geschichte vor Homer gegeben haben musste, wofür vor allem archäologische Überreste – zum Teil von gewaltiger Größe – deutlich Zeugnis ablegten. Solche waren in erster Linie die Ruinen mykenischer Burgen, besonders die von Tiryns, aber auch die von Mykene sowie die noch zu einem großen Teil erhaltenen Kuppelgräber jener Zeit, die man jedoch für »Schatzhäuser« hielt. Dass es sich hierbei nicht um Bauwerke der »Griechen« handelte, sondern um die einer älteren Gesellschaft, konnte zwar noch nicht durch archäologische Untersuchungen untermauert werden – solche begannen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts –, wurde aber von den Aussagen antiker Autoren bestätigt. Als Kronzeuge wurde hierbei der antike Perieget Pausanias aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. herangezogen, von dem schließlich nicht nur die Beschreibung einiger der beeindruckendsten Überreste der vorgriechischen Zeit stammte, sondern auf den auch Bezeichnungen wie »Schatzhaus des Minyas« für das Kuppelgrab von Orchomenos in Boiotien zurückgehen.
Es war den Gelehrten des 19. Jahrhunderts also klar, dass es eine historische Epoche vor der Zeit Homers gegeben hatte, doch fehlten ihnen – abgesehen von den wenigen Ruinen – die Zeugnisse für diese Epoche. Als Beispiel für Altertumsforschung dieser Zeit sei zunächst eine der ersten umfassenden »Griechischen Geschichten« von Ernst Curtius genannt:4
»Die Hellenen selbst hatten keine Überlieferung einer massenhaften Einwanderung ihres Volkes; es findet sich in ihren Sagenkreisen keine Erinnerung einer fernen Urheimat; sie wussten auch von keinem fremdartigen Volke, das sie in ihrem Lande vorgefunden und dann ausgetrieben oder unterworfen hätten.«5
Die Urheimat der Hellenen sei daher in Kleinasien zu suchen, von wo sie nach Griechenland gekommen seien: »So weit ist der Inhalt der Sagen klar und deutlich; es ist das Bewußtsein einer aus Osten durch Colonisation übertragenen Cultur.«6
Curtius nimmt also eine vorgriechische Bevölkerung an, konkret die Pelasger, sieht in dieser jedoch »Stammesverwandte« der Hellenen. Zu dieser zählte er auch die Minoer, die Vorbevölkerung Kretas, welche die erste »Reichsmacht des hellenischen Alterthums« gegründet hätten.7 Ebenfalls dieser Vorbevölkerung schreibt Curtius die Bewohner Troias zu und handelt ausführlich über die vorteilhafte Lage dieser Stadt – freilich ohne deren genaue Lokalisierung zu kennen.8 Die Bewohner Griechenlands entstammten aus den autochthonen Pelasgern und einwandernden aber stammesverwandten Gruppen aus Kleinasien. Aus dieser Vermischung entsprangen die Menschen, die Homer Achäer nannte und von denen die zur Zeit Curtius’ sichtbaren gewaltigen Ruinen stammten. Wie deutlich sichtbar, wurde die griechische Vorgeschichte von Curtius aus der Überlieferung der Sagen rekonstruiert.
Da es sich für die Forschung auf jeden Fall um eine vorgriechische Epoche gehandelt haben musste, kamen für andere Gelehrte die in den griechischen Sagen und Mythen überlieferten Stoffe als historische Quelle nicht in Frage, da es sich bei den Protagonisten dieser Überlieferung um Griechen mit – zum Teil wenigstens – griechischen Namen handelte, während die Träger der Vorgängerkultur die nichtgriechischen Pelasger waren. Dementsprechend wurden diese Stoffe für Sagen ohne jedweden historischen Bezug angesehen – eine Ansicht, die diese Gelehrten von Curtius, aber auch von jenen etwas späterer Zeit unterschied. Lediglich die Namen einiger Völker, die auch in den Sagenstoffen als die von vorgriechischer Bevölkerung angeführt wurden, wie beispielsweise die Karer oder Leleger, besonders aber die Pelasger, wurden als historisch relevant angesehen. Diesen Völkern wurden somit folgerichtig auch die archäologischen Überreste der vorgriechischen Zeit zugeschrieben, freilich ohne über die Geschichte dieser Völker mehr aussagen zu können als dass sie vor den Griechen im Raum der Ägäis gelebt hatten.
Als Beispiel für diese Forscher sei hier nur G.F. Schoemann genannt, dessen Werk bereits einige Jahre vor dem Werk von Curtius erschienen war.9 Aber auch er betont die Verwandtschaft von Griechen und Pelasgern:
»Die Hellenen aber, die wir den Pelasgern entgegensetzen, waren ohne Zweifel selbst nichts anderes als ein einzelnes Glied in der Reihe verwandter Völkerschaften, die unter dem gemeinsamen Pelasgernamen begriffen sind.«10
Schoemann kommt auch auf die archäologischen Überreste der vorgriechischen Zeit zu sprechen: »Aus der vorhellenischen Zeit stammen einige Werke in verschiedenen Theilen Griechenlands, die einen nicht geringen Grad von Cultur verrathen und zum Theil wegen ihrer Grossartigkeit wahrhaft Bewunderung erregen.«11 Schoemann nennt als solche vor allem die »kyklopischen« Mauern von Tiryns, die Schatzhäuser des Artreus und des Minyas sowie das Löwentor von Mykene. Er bringt also bereits diese prähistorischen, zu seiner Zeit durchaus sichtbaren Überreste mit einem Volk in Verbindung, das vor den Griechen existierte. Über die Historizität der sagenhaften Überlieferung stellt er schließlich am Beispiel des Troianischen Krieges fest: »Der troianische Krieg und die damit zusammenhängenden Ereignisse, die den Inhalt der homerischen Gedichte ausmachen, gehören augenscheinlich vielmehr dem Bereich der Fabel als dem der Geschichte an.«12
Zusammenfassend kann man somit konstatieren, dass die frühe Forschung deutlich zwischen der griechischen Geschichte ab der homerischen Zeit und der davor liegenden Epoche zu unterschied und diese auch Völkern und Kulturen zuschrieb. Über die Geschichte jener Zeit konnte sie freilich nichts berichten, weshalb sie diese teilweise mit der Überlieferung der griechischen Sagenwelt ergänzte. Auch brachte sie die wenigen sichtbaren Überreste aus prähistorischer Zeit mit jener vorgriechischer Bevölkerung und Geschichte in Verbindung, ohne diese Überreste archäologisch beurteilen zu können.
In seiner stark wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten Arbeit stellt Ingomar Weiler fest:
»Neue Impulse erfuhr die Altertumswissenschaft durch jene Richtung, die sich auf die Erforschung der frühen Welt Griechenlands konzentrierte, vor allem durch Heinrich Schliemanns (1822–1890) Ausgräberaktivitäten. Sein erklärtes Ziel war es, jene Stätten wiederzuentdecken, von denen die Epen Homers handeln […].«13
Tatsächlich begann mit den Ausgrabungen Schliemanns in Troia, Mykene, Tiryns und Orchomenos in den 70er und 80er Jahren des 19 Jahrhunderts die archäologische Erforschung der Ägäischen Frühzeit. Gleichzeitig – zumal Schliemann nach eigener Aussage »mit der Ilias in der Hand« Troia entdeckt und ausgegraben hatte – wurden die Ergebnisse dieser ›neuen‹ Quellengattung im Lichte der griechischen Sagen, besonders der homerischen Epen, kritisch interpretiert.
Zu den ersten Gelehrten, die archäologische Befunde in hohem Maße in ihre Darstellungen der Frühgeschichte Griechenlands miteinbezogen und diese mit der epischen Überlieferung kombiniert haben, zählt Adolf Holm.14 Gleichsam als Bekenntnis zur Heranziehung der archäologischen Erkenntnisse erklärt der Gelehrte:
»Wir sind somit zu dem Schlusse gekommen, dass nicht nur Überlegungen allgemeinen Charakters, sondern auch die Prüfung einzelner Sagen zeigt, dass die überlieferten Sagen keine solide Basis für die älteste Geschichte darbieten. […] Was wissen wir nun im Einzelnen von den Zuständen der Griechen in den Zeiten vor der dorischen Wanderung? Vor Allem das, was uns die Funde lehren, welche auf griechischem Boden gemacht worden sind, und glücklicherweise an Orten, die im Alterthum als Hauptsitze der Macht und Kultur der ältesten Zeit galten.15
Eine anders geartete, die zeitliche Dimension berücksichtigende Verbindung von den griechischen Sagenstoffen – besonders der in den homerischen Epen tradierten – mit den Erkenntnissen der archäologischen Forschung über die prähistorischen Stätten Griechenlands stellt zur gleichen Zeit Georg Busolt in seinem Werk her.16 Seine Arbeit beginnt mit einem kurzen Überblick über die prähistorische Ausgrabungen des ägäischen Raumes und über die diese Forschung dokumentierenden Literatur. Daran anschließend folgt eine ausführliche Darlegung der einzelnen Grabungsstätten und ihrer historischen Bedeutung:
»Gewaltige Mauern und Kuppelgräber sind die Marksteine der üppig entwickelten Kultur, welche kurzweg die mykenische genannt zu werden pflegt und für die Geschichte als älteste auf griechischem Boden in Betracht kommt […]. Unzweifelhaft waren die Burgen von Mykene und Tiryns Sitze bedeutender Fürsten […].«17
Das gesamte erste Kapitel von Busolts Werk beschäftigt sich mit der mykenischen Kultur in all ihren Aspekten, wobei sich der Autor bemüht, seine Aussagen so weit wie möglich auf die zu seiner Zeit fassbaren archäologischen Befunde zu stützen.18
Am Ende des ersten Abschnitts seiner Griechischen Geschichte bemüht sich Busolt methodisch korrekt das Verhältnis der mykenischen Kultur zu den Angaben der Epen zu beschreiben:
»Die homerische Kultur ist jünger als die mykenische, sie ist einfacher und maßvoller […] Zeigt die Kultur des Epos eine niedrigere Stufe der technischen Entwicklung […].«19
Die Grabungen Schliemanns schienen den Beweis dafür erbracht zu haben, dass die Sagen der Griechen Tatsachen und Ereignisse wiedergeben, deren Historizität und zeitliche Verortung im bronzezeitlichen Griechenland die Archäologie in der Lage war, durch ihre Befunde zu belegen. Diese Ansicht, die sich in der Nachfolge Schliemanns stark verbreitet hat, wird allein durch die Tatsache belegt, dass viele archäologische Monumente und Einzelfunde mit Namen versehen wurden, die der Sagenwelt – vornehmlich den homerischen Epen – entnommen wurden. Erinnert sei hier nur an das »Grab der Klytaimnestra« und die »Goldmaske des Agamemnon« in Mykene, den »Schatz des Priamos« in Troia, den »Nestorpalast« im mykenischen Pylos und den »Palast des Minos« in Knossos.
Darüber hinaus wurden nicht nur einzelne Namen des Mythos, sondern auch komplexe Ereignisse wie die Zerstörung von Troia oder die von Mykene mit archäologisch belegten Befunden in Zusammenhang gebracht. Ganz besonders gilt dies natürlich für die epische Überlieferung vom Troianischen Krieg, beschränkt sich aber keineswegs auf diese.
Dieser ›Behandlung‹ der griechischen Vorgeschichte widersetzten sich allerdings auch einige Forscher, sodass die Diskussion darüber entbrannte, ob und, wenn ja, in welcher Form und bis zu welchem Grad die griechischen Sagenstoffe historisch auswertbar sind.20 Als Beispiele für diese Kontroverse seien hier nur die Werke zweier Vertreter der Extrempositionen angeführt. Auf der einen Seite ist dies Franz Hampl, der in einigen Werken darzulegen versuchte, dass die Sagen keinerlei historische Aussagekraft haben und letztlich nicht grundsätzlich anders zu behandeln sind als Märchen.21 Dem gegenüber steht Fritz Schachermeyr, ein hervorragender Kenner des zu seiner Zeit verfügbaren archäologischen Materials, der versuchte, die gesamte Fülle griechischer Sagenstoffe historisch aussagekräftig zu machen.22 Als Beispiel, in welchem Maße Sagenstoffe als historische Ereignisse der ägäischen Bronzezeit präsentiert werden, mag hier eine 2008 erschienene Monographie dienen:
»Der Krieg [i. e. der Troianische] fand irgendwann zwischen 1230 und 1180 statt, wahrscheinlicher noch zwischen 1210 und 1180. Zum letzteren Zeitpunkt wurde Troja durch ein verheerendes Feuer zerstört«.
Und zu den Protagonisten (nach der Ilias) dieses epischen Kampfes meint er (S. 21):
»Und was ist mit Hektor, Odysseus, Priamos, Paris und Hekabe, Agamemnon, Menelaos und Thersites? Gab es sie wirklich, oder hat ein Dichter sie erfunden? Wir wissen es nicht, aber Namen gehören zu den Dingen, die in der mündlichen Tradition am leichtesten weitergegeben werden, und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie einst tatsächlich lebten […]. Deshalb wird dieses Buch Homers Helden als Charaktere verstehen, die wirklich gelebt haben. Der Leser sollte immer daran denken, dass ihre Existenz plausibel aber nicht bewiesen ist. Ihre Beschreibungen basieren auf Homer und, wo immer es möglich ist, auf Details, die die Archäologie, Epigraphik, Kunst und anderes geliefert haben.«23
Angesichts solcher in jüngster Zeit getroffener Aussagen, scheint es angebracht, ein Wort über die Entstehung und Gestalt von Sagen – insbesondere von Epen – zu verlieren. Zu allererst soll festgehalten werden, dass Epen vor ihrer schriftlichen Fixierung eine lange mündliche Tradition voraussetzen, im Zuge derer immer wieder Neues hinzugefügt und Anderes weggelassen wurde. Diese Mnemotechniken der mündlich operierenden Dichter und Sänger wurden eingehend von der Forschung zur »Oral Poetry« behandelt.24
Bei der Frage nach dem historischen Gehalt von Sagen und Epen sind zunächst zwei Begriffe streng voneinander zu trennen: Der »Historische Kern« und der »Historische Hintergrund«. Unter letzterem sind alle Bestandteile einer Sage oder eines Epos zu verstehen, die nicht den eigentlichen Stoff betreffen, sondern vielmehr die nicht handlungsrelevanten Zusatzinformationen. Hierzu gehören immaterielle Dinge wie die sozialen Verhältnisse, die Herrschaftsformen, oder generell Sitten und Gebräuche, vor allem aber materielle Bestandteile, wie die Beschreibung von Bauwerken, Fahrzeugen (z. B. Wagen und Schiffen), von Waffen und Kleidung sowie von Schmuck und anderen Gebrauchsgegenständen. Diese den Historischen Hintergrund betreffenden Erwähnungen stammen – der langen Entwicklung einer Sage oder eines Epos entsprechend – aus den unterschiedlichsten Orten und Zeiten, beginnend von der ersten Tradierung eines Stoffes bis zur Zeit der endgültigen schriftlichen Abfassung.
Für das Beispiel der Ilias bedeutet dies, dass die einzelnen Elemente in den gesamten Zeitraum von der mykenischen Epoche bis zur Abfassungszeit des Epos (8. Jahrhundert) gehören könnten. Zu den mykenischen Elementen zählen hierbei vor allem Waffen, wie der Eberzahnhelm des Meriones oder der Turmschild des Großen Aias. Bemerkenswert ist hinsichtlich dieser beiden wohl ältesten Teile, dass sie in der Ilias deutlich als besondere Einzelstücke charakterisiert werden, während sie in mykenischer Zeit die ›Standartbewaffnung‹ gut gerüsteter Krieger darstellten. Die meisten Versatzstücke gehören allerdings deutlich einer späteren Zeit an, viele dem Jahrhundert der Abfassung des Epos. Dies gilt insbesondere für die immateriellen Teile des Historischen Hintergrundes, für Dinge also, die nicht in Form von antiquarischen Stücken lange Zeit erhalten geblieben sein können und somit erst von späteren Sängern oder Dichtern gesehen werden konnten. So gehören in der Ilias zwar manche Waffen oder Beschreibungen von Burgen und Palästen in die mykenische Zeit, gesellschaftliche Verhältnisse oder Regierungsformen hingegen stammen ausschließlich aus einer viel späteren Zeit.
Der Historische Kern, also der eigentliche Stoff einer Erzählung samt Orts- und Personennamen, ist viel schwieriger zu verorten. Doch welche Zerstörung? Im Laufe ihrer langen Geschichte wurde diese Stadt bekanntlich mehrmals zerstört – zweimal im 3. Jahrtausend., zwei bis dreimal im 2. Jahrtausend und schließlich zweimal im ersten Viertel des 1. Jahrtausends (dazu unten Kap. 2).
Um die Schwierigkeit zu verdeutlichen, den solchen Historischen Kern einer Sage festzumachen, sei als Vergleich ein anderes Epos kurz angesprochen: das Nibelungenlied. Bezüglich des Historischen Hintergrundes dieses in mittelhochdeutscher Sprache verfassten und im 13. Jahrhundert niedergeschriebenen Epos kann festgehalten werden, dass einige Schilderungen – vor allem was Waffen betrifft – aus dem Ende des Frühmittelalters stammen, der Großteil der Bezüge jedoch aus dem Hochmittelalter stammt, nahe der Abfassungszeit des Epos. Nun aber zum Historischen Kern, der wesentlich besser beurteilt werden kann, als im Falle der Ilias, da aus der in Frage kommenden Zeit – der Spätantike und dem Frühmittelalter – auch historiographische Quellen (in Latein) vorliegen, die für die Ilias natürlich fehlen.
Das Epos berichtet zunächst von den Taten des niederrheinischen (wohl fränkischen) Helden Siegfried, seiner Hochzeit mit der burgundischen Königstochter Krimhild und seinen Kämpfen gegen Sachsen und Dänen. Weiter erzählt das Epos vom Streit Krimhilds mit Brunhild, der Frau ihres Bruders Gunter und der aus diesem Zwist erwachsenen Ermordung Siegfrieds durch Hagen, den Dienstmann Gunters. Der zweite Teil des Epos handelt von der Rache Krimhilds an ihrem Bruder. Sie hatte nämlich den Hunnenkönig Etzel geheiratet und lebte mit ihm im Hunnenreich. Dorthin lud sie Gunter und all ihre Verwandten samt Gefolge ein, und ließ sie von den Hunnen töten, wobei ihr letztlich auch der mit Etzel und den Hunnen verbündete Gotenkönig Dietrich behilflich war. Sieht man von der sagenhaften Gestalt Siegfrieds ab – man denke an dessen Unverwundbarkeit, die Tötung eines Drachens und seine Herrschaft über Zwerge – so sind im Epos einige historische Ereignisse verarbeitet. Zum einen ist dies die Vernichtung des Burgunderreiches von Worms im Jahre 435 durch die Hunnen. In der Gestalt Gunters ging der damalige Burgunderkönig Gundahar in die Sage ein, ebenso wie Etzel, der historische Hunnenkönig Attila. Allerdings geschah die Vernichtung der Burgunden lange vor Attilas Regierung und sie geschah am Rhein nicht an der Donau (in Ungarn) auf hunnischem Gebiet. Der im Epos an diesem Kampf beteiligte Dietrich ist der historische Ostgotenkönig Theoderich, der allerdings erst eine Generation nach Attila und fünfzig Jahre nach dem Untergang des Burgunderreiches von Worms gelebt hatte. Der Streit zwischen Krimhild und Brunhild schließlich hat sein historisches Vorbild wohl im jahrelangen blutigen Streit der fränkischen Königinnen Fredegunde und Brunhilde im 6. Jahrhundert. Die Kämpfe gegen Sachsen und Dänen können historisch sogar erst in das 8. und 9. Jahrhundert datiert werden. Das Nibelungenlied bringt demnach Ereignisse und Personen völlig unterschiedlicher Zeiten und Orte, die miteinander auch nicht das Geringste zu tun hatten, in Verbindung und verdichtet sie zu einer Handlung. Stünden aber die historiographischen Berichte über die genannten Ereignisse und Personen nicht zur Verfügung, wäre es heute völlig unmöglich aus der Erzählungen des Epos die dahinterstehenden historischen Ereignisse zu rekonstruieren.