2030

Über Mauro F. Guillén

Foto: © privat

Mauro F. Guillén, geboren 1964 in Spanien, ist Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe und war lange einer der einfluss-reichsten Professoren an der renommierten Wharton Business School in Philadelphia. 2021 wurde er als Direktor an die Judge Business School der Universität Cambridge berufen. Er ist Experte für die Herausforderungen der Globalisierung.

 

Der Übersetzer

Stephan Pauli übersetzt Sachbücher aus dem Englischen und Spanischen, u. a. von Adam Alter, James Hawes, Ben Schott und Amy Stewart.

 

Geburtsort der nächsten industriellen Revolution: Subsahara-Afrika

Grund: zwei Millionen Quadratkilometer fruchtbares, aber noch nicht kultiviertes Agrarland

Die Größe von Westeuropa: zwei Millionen Quadratkilometer

 

Anteil von Frauen am Vermögen der Erde im Jahr 2000: 15 Prozent

Anteil von Frauen am Vermögen der Erde im Jahr 2030: 55 Prozent

Wären die Lehman Brothers die Lehman Sisters gewesen: Die globale Finanzkrise hätte vermieden werden können

 

Anzahl der Menschen, die 2017 hungern mussten: 821 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2030 hungern werden: 200 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2017 adipös waren: 650 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2030 adipös sein werden: 1,1 Milliarden

Prognostizierter Anteil der US-Amerikaner, die 2030 adipös sein werden: 50 Prozent

 

Anteil der Erdoberfläche, die 2030 von Städten bedeckt sein wird: 1,1 Prozent

Anteil der Weltbevölkerung, die 2030 in Städten leben wird: 60 Prozent

Anteil der Städte am weltweiten CO2-Ausstoß im Jahr 2030: 87 Prozent

Anteil der Stadtbewohner weltweit, die 2030 von steigenden Meeresspiegeln bedroht sein werden: 80 Prozent

 

Der größte mittelständische Verbrauchermarkt 2030: China

Anzahl der Menschen, die 2030 in die Mittelschicht aufsteigen: 1 Milliarde

Anzahl der Menschen, die derzeit in den Vereinigten Staaten der Mittelschicht angehören: 223 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2030 in den Vereinigten Staaten der Mittelschicht angehören werden: 209 Millionen

Die Uhr tickt

»Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen.«

Harper Lee, Wer die Nachtigall stört

Wir schreiben das Jahr 2030.

In Westeuropa ist es von Paris bis Berlin ungewöhnlich heiß. Das Ende der Rekordtemperaturen dieses Sommers ist nicht in Sicht, und die internationale Presse gibt sich zunehmend alarmiert. Rehema ist gerade in ihrer Heimatstadt Nairobi gelandet. Sie kommt aus London, wo sie zwei Wochen bei entfernten Verwandten verbracht hat. Da sie Großbritannien durch die Augen von Einwanderern sehen konnte, erhielt sie einen faszinierenden Einblick in die Vielfalt der Welt, die sie dort umgab. Während sie durch den Flughafen läuft, sinniert sie darüber, wie sehr sich ihre Heimat von jenem Land unterscheidet, das vor noch nicht einmal einem Jahrhundert zu den unangefochtenen Kolonialmächten auf dem Kontinent zählte. Sie war schockiert, als sie sah, dass die Briten immer noch Bargeld benutzen. In Kenia ist das Bezahlen mit Smartphones lange schon die Regel, das Smartphone hat die Brieftasche ersetzt. Auf der Heimfahrt scherzt sie mit dem Taxifahrer über die seltsamen Reaktionen der Briten, wenn sie davon sprach, dass sie seit ihrem sechsten Lebensjahr zusammen mit ihren Nachbarskindern eine Online-Schule »besucht« hatte.

***

Diesen Satz hört man heute oft. Ein weiterer lautet, dass die Vereinigten Staaten und China in absehbarer Zukunft um die globale Vorherrschaft streiten werden. In beiden Behauptungen steckt jeweils ein Körnchen Wahrheit, doch sie zeigen kaum das ganze Bild. Im Jahr 2014 verblüffte Indien die Welt, als es erfolgreich eine Raumsonde in die Umlaufbahn des Mars brachte. Dieses Kunststück war noch keinem Land im ersten Anlauf gelungen. Seit Beginn des Weltraumzeitalters war weniger als die Hälfte aller von den Vereinigten Staaten, Russland und Europa gestarteten Missionen erfolgreich, was Indiens Leistung wirklich herausragend erscheinen lässt. Noch dazu erzielte die indische Weltraumforschung diesen Erfolg mit einem Budget von nur 74 Millionen US-Dollar.

Um einige Vergleichszahlen zu bemühen: Eine einzige Space-Shuttle-Mission verbrennt gut und gerne 450 Millionen US-Dollar. Die Produktion des Films Interstellar verschlang 165 Millionen US-Dollar, und immerhin 108 Millionen US-Dollar waren nötig, um Der Marsianer in ein Kino ganz in Ihrer Nähe zu bringen.

Die Inder bewiesen, dass auch sie über The Right Stuff verfügen, um mit einem Buchtitel von Tom Wolfe zu sprechen. Sie zeigten, dass sie eine technologische Macht von Weltformat sind. Die Marsmission war kein Glückstreffer. Tatsächlich war es bereits das zweite Mal, dass Indien an den etablierten Supermächten der Welt vorbeigeprescht war. 2009 erbrachte seine erste Mondmission erstmalig den Beweis, dass es auf dem Erdtrabanten Wasser gibt, »offensichtlich konzentriert auf die Pole und womöglich von Solarwinden gebildet«, wie der Guardian berichtete. Die NASA benötigte zehn Jahre, um Indiens Ergebnisse unabhängig zu bestätigen.

Die meisten von uns wuchsen in einer Welt auf, in der die Erforschung des Kosmos ein kostspieliges Unterfangen war, das von Raketenwissenschaftlern entworfen, von den beiden Supermächten, den USA und der UdSSR, mit enormem Aufwand finanziert und

Es war einmal eine Zeit, in der die Welt nicht nur fein säuberlich in wohlhabende und rückständige Volkswirtschaften aufgeteilt war, sondern in der es auch viele Kinder gab, in der die Arbeiter die Rentner zahlenmäßig weit übertrafen und Menschen danach strebten, Häuser und Autos zu besitzen. Unternehmen mussten sich nicht mit den Märkten jenseits von Europa oder den Vereinigten Staaten befassen, um erfolgreich zu sein. Gedrucktes Geld war das gesetzliche Zahlungsmittel für alle Schulden, ob öffentlich oder privat. In der Schule hatten wir gelernt, dass es gewisse Spielregeln zu beachten galt. Wir wuchsen in der Annahme auf, dass sich die Regeln dieses Spiels nicht ändern würden, und in diesem Bewusstsein traten wir unsere ersten Jobs an, gründeten Familien, sahen unsere Kinder das Haus verlassen und gingen in Rente.

Diese uns vertraute Welt verschwindet zusehends. Wir sehen uns mit einer verwirrenden neuen Wirklichkeit konfrontiert. Schon bald wird es in den meisten Ländern mehr Großeltern als Enkelkinder geben; in ihrer Summe werden Mittelschichtmärkte in Asien jene in den Vereinigten Staaten und Europa zusammen übertreffen; Frauen werden mehr Vermögen besitzen als Männer; und wir werden feststellen, dass es mehr Industrieroboter als Arbeiter geben wird, mehr Computer als menschliche Gehirne, mehr Sensoren als menschliche Augen und mehr Währungen als Länder.

Das wird die Welt von 2030 sein.

Ich habe in den letzten Jahren darüber geforscht, wie die Welt in einem Jahrzehnt aussehen wird. Als Professor der Wharton School sorge ich mich nicht nur um den künftigen Zustand der Wirtschaft, sondern auch darum, wie Arbeiter und Konsumenten von der

Niemand weiß mit Sicherheit, was die Zukunft bringen wird. Falls Sie es wissen, lassen Sie es mich wissen – wir werden zusammen richtig viel Geld verdienen. Doch wenn Vorhersagen auch nie hundertprozentig exakt sein können, so können wir doch eine Reihe von relativ sicheren Annahmen darüber aufstellen, was im kommenden Jahrzehnt passieren wird. So ist zum Beispiel die Mehrheit der Menschen, die von den Vorhersagen in diesem Buch betroffen sind, bereits geboren. Wir können ganz allgemein beschreiben, was wir von ihnen als Konsumenten in Abhängigkeit von ihrem voraussichtlichen Bildungsabschluss oder den gegenwärtigen Mustern ihrer Social-Media-Aktivitäten erwarten. Wir können auch mit angemessener Genauigkeit berechnen, wie viele Menschen achtzig oder neunzig Jahre alt werden. Und wir können vielleicht sogar mit ausreichender Überzeugung vorhersagen, dass ein bestimmter Prozentsatz an Senioren eine Pflegekraft benötigen wird – ob dies ein Mensch oder ein Roboter sein wird, sei dahingestellt. Was Letzteren anbelangt, so können Sie davon ausgehen, dass er verschiedene Sprachen mit mehreren Akzenten sprechen wird, dass er keine Vorurteile hegen, keinen Urlaub nehmen und seine Patienten weder finanziell noch anderweitig ausnutzen wird.

Die Uhr tickt. Das Jahr 2030 ist nicht irgendein ferner Punkt in einer unvorhersehbaren Zukunft. Es wartet gleich um die Ecke, und

Für viele von uns ist diese Entwicklung nicht nur verwirrend, sondern zutiefst beunruhigend. Bedeutet sie unseren Niedergang? Oder ist sie der Anfang einer neuen Blütezeit? Dieses Buch will dabei helfen, einen Überblick zu gewinnen über die Fülle an Variablen, die für diese Entwicklung verantwortlich sind. Grundsätzlich gilt: Jedes Ende markiert einen Neuanfang und steckt voller Möglichkeiten zum Besseren. Wir können daher optimistisch in die Zukunft blicken – wenn wir lernen, die Trends zu antizipieren, uns zu engagieren, statt uns abzuwenden, wenn wir es wagen, wirksame Entscheidungen für uns, unsere Kinder, Lebenspartner, künftigen Familien, Firmen und so weiter rechtzeitig zu fällen. Denn die Veränderungen betreffen uns alle.

***

Es ist hilfreich, sich epochale Transformationen als langsame Prozesse vorzustellen, bei denen jede winzige Veränderung uns so lange einem Paradigmenwechsel näherbringt, bis plötzlich alles ganz anders ist. Wir vergessen gerne, dass diese kleinen Veränderungen kumulativ sind. Stellen Sie sich vor, wie ein Gefäß sich tropfenweise füllt und das tropf-tropf-tropf ein Gefühl davon vermittelt, wie die Zeit vergeht. Wenn schließlich mit einem Mal das Wasser überfließt, fühlen wir uns überrumpelt.

Man bedenke, dass um 2030 Südasien (Indien, Bangladesch, Pakistan, Bhutan u.a.) und Subsahara-Afrika um den Titel der bevölkerungsreichsten Region der Welt wetteifern werden. In den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als Ostasien (China, Südkorea, Japan u.a.) diese Auszeichnung für sich beanspruchte,

Man könnte ins Feld führen, dass die reinen Bevölkerungszahlen nicht viel besagen. Aber multiplizieren wir diese zusätzlichen Menschen einfach mit dem Geld, das diese Menschen in den kommenden Jahren vielleicht in ihren Taschen haben werden, dann zeigt sich, dass um 2030 herum asiatische Märkte – selbst wenn man Japan nicht mitrechnet – so groß sein werden, dass das gesamte Gravitationszentrum des globalen Konsums sich nach Osten verlagern wird. Unternehmen werden also keine andere Wahl haben, als sich an den Markttrends in diesem Teil der Welt zu orientieren. Dabei werden die meisten neuen Produkte und Dienstleistungen die Vorlieben asiatischer Konsumenten widerspiegeln.

Halten wir einen Augenblick inne und denken wir darüber nach. Was wäre, wenn wir diesen Trend an ein paar weitere, miteinander in Verbindung stehende Entwicklungen koppeln. Weniger Kinder in den meisten Teilen der Welt bedeuten, dass wir dort kontinuierlich auf eine schnell alternde Bevölkerung zusteuern. Ein Großteil dieses demographischen Wandels wird von der Tatsache befördert, dass immer mehr Frauen einen Schulabschluss machen, einer geregelten Arbeit (und nicht nur einem einfachen Job) nachgehen – und weniger Kinder bekommen. Es wird schon bald mehr Millionärinnen als Millionäre geben. Zudem wird der Wohlstand urbaner werden: Die Bevölkerung von Städten wächst jede Woche um 1,5 Millionen Bewohner. Obwohl Städte nur 1 Prozent der weltweiten Landfläche bedecken, leben in ihnen 55 Prozent der Weltbevölkerung, die 80 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs (und des CO2-Ausstoßes) verursachen. Deshalb werden Städte an vorderster Front gegen den Klimawandel kämpfen.

Sehen wir uns Abbildung 1 an. Sie zeigt einen Prozess zusammenhängender kleiner Veränderungen. Isoliert betrachtet wird keine von ihnen zu einem Wandel von wahrhaft globalen Ausmaßen führen. Wir werden wahrscheinlich mit jeder einzelnen dieser Veränderungen gut leben können, solange wir sie von den anderen getrennt halten. Menschen verstehen es hervorragend, Dinge

Eine alternde Bevölkerung wird sowohl in Amerika als auch in Westeuropa zum Normalfall. Gleichzeitig treiben jüngere Generationen den Aufstieg der Mittelschicht in den Schwellenländern voran. Diese unterscheidet sich in ihrer Art radikal von allen Konsumentengruppen, wie wir sie bislang gekannt haben. So ist sie zum Beispiel viel mehr auf den sozialen Aufstieg bedacht. Breitet diese Mittelschicht sich aus, häufen immer mehr Frauen Wohlstand an. Männer und Frauen nehmen urbane Lebensweisen an und lösen in Städten auf der ganzen Welt die größten Migrationsströme aus, die die Welt je gesehen hat.

In diesen Städten wird es gleichzeitig immer mehr Erfinder und Unternehmer geben, die an neuen Technologien arbeiten, die traditionelle Technologien »disruptiv« vom Markt verdrängen. Ganz neue Möglichkeiten des Wohnens und Arbeitens, des Produzierens und Konsumierens werden sich eröffnen. Woraus sich wiederum alternative Bezahlkonzepte entwickeln, die dezentraler verwaltet werden und einfacher zu verwenden sind. Einige dieser Trends sind bereits heute zu beobachten, doch werden sie erst um 2030 voll durchschlagen. (Sie alle beschleunigen und verstärken sich jedoch, wenn ein unvorhersehbares Ereignis wie die Covid-19-Pandemie eintritt, auf die ich im Nachwort genauer eingehen werde.)

Nun erhalten wir aus dieser linearen Darstellung der Veränderungen, die um uns herum stattfinden, zwar eine ordentliche und praktische Kapitelreihenfolge für dieses Buch – doch so funktioniert die Welt in der Realität natürlich nicht.

Auch Firmen und Organisationen denken so. Sie sortieren die Überfülle an Informationen in eine übersichtliche Anzahl von Kategorien. Sie stecken Kunden in Schubladen wie »Innovatoren«, »Early Adopters« (»Frühe Anwender«) und »Laggards« (»Nachzügler«). Sie klassifizieren Produkte nach ihrem gegenwärtigen Marktanteil und potenziellem Wachstum als »Stars«, »Cash Cows«, »Dogs« oder »Question Marks« (»Fragezeichen«). Und sie betrachten ihre Angestellten als »Team-Player« oder »Karrieristen«, beurteilen sie nach ihren Einstellungen, ihrem Verhalten und ihrem Potential. Doch wer immer und ausschließlich in den ewig gleichen Kategorien denkt, ist blind für neue Möglichkeiten.

Um ein Beispiel zu nennen: Neben der Glühbirne, dem Telefon und dem Automobil war die Erfindung des »Ruhestands« eine der großen Errungenschaften des späten neunzehnten Jahrhunderts – ein Lebensabschnitt, in dem wir uns unseren Hobbys und unserer Familie widmen und die Gelegenheit haben zu ernten, was wir im Leben gesät haben. Aus dieser Epoche stammt unsere Vorstellung vom Leben als einer Folge von unterschiedlichen Stadien – Kindheit, Arbeit, Ruhestand –, die wir hoffentlich alle zu ihrer Zeit genießen werden.

Mit dem Geburtenrückgang und dem neuen Kräftespiel der Generationen muss unsere künftige Gesellschaft sich mit dieser traditionellen Vorstellung neu auseinandersetzen. Auch Senioren sind Konsumenten mit unterschiedlichen Lebensstilen, und sie können neue Technologien mindestens genauso schnell annehmen wie Millennials. Denken wir an die virtuelle Realität, an künstliche Intelligenz oder Roboter und wie diese Technologien unseren

Ich empfehle, dass wir ein lineares, zuweilen »vertikal« genanntes Denken wie in Abbildung 1 vermeiden. Stattdessen sollten wir Veränderungen »lateral« betrachten. Der Erfinder und Berater Edward de Bono entwarf das Konzept des lateralen Denkens, dem es nicht darum geht, »mit bereits existierenden Elementen zu spielen, sondern das versucht, ebendiese Elemente zu verändern«. Im Wesentlichen geht es darum, Fragen in einen neuen Zusammenhang zu stellen und Probleme »seitwärts« anzugehen. Durchbrüche kommen nicht zustande, indem man sich innerhalb der etablierten Paradigmen bewegt, sondern indem man vorgefasste Meinungen aufgibt und Regeln ignoriert – kurz: wenn man kreativ wird. Pablo Picasso und Georges Braque erfanden den Kubismus, indem sie in ihrer Malerei die allgemein anerkannten Regeln der Perspektive und der Anatomie über Bord warfen. Le Corbusier hob die moderne Architektur erst aus der Taufe, als er Mauern wegließ, um riesige offene Räume zu schaffen, Fenster über die volle Länge einer Fassade laufen ließ und Stahl, Glas und Beton in ihrer eigenen Eleganz zur Schau stellte, statt sie hinter Fassaden zu verstecken. »Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man nach neuen Landschaften sucht«, schrieb Marcel Proust, »sondern dass man mit neuen Augen sieht.«

Tatsächlich kann laterales Denken durch eine solche »periphere Wahrnehmung« noch erweitert werden – ein Konzept, das meine Kollegen an der Wharton School, George Day und Paul Schoemaker, entwickelt haben. Wie das menschliche Sichtvermögen können auch Firmen und andere Organisationsformen nicht effektiv sein,

So machte etwa das 1888 gegründete Unternehmen Kodak im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Verkauf von Filmmaterial riesige Gewinne. Zu Beginn der 1990er Jahre erkannten seine Ingenieure die ungeheuren Möglichkeiten der Digitalfotografie, doch die Führungsebene des Unternehmens dachte kurzfristiger und glaubte, die Menschen würden auch in Zukunft gedruckte Bilder bevorzugen. Das Ergebnis? Im Jahr 2012 meldete Kodak Konkurs an. Die Firma fiel einem Phänomen zum Opfer, das Richter Taylor in Harper Lees Roman Wer die Nachtigall stört mit den Worten auf den Punkt bringt: »Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen.« Für das Unerwartete, das Ungewöhnliche sind sie blind.

In Abbildung 2 sehen wir eine alternative graphische Darstellung dessen, was auf der Welt vor sich geht:

Hier ein praktisches Beispiel von lateralem Denken: Das Online-Portal Airbnb steht im Wettstreit mit Hotels. Gleichzeitig versucht es, den Banken die Kunden wegzuschnappen. Wie das? Viele Rentner merken irgendwann, dass ihre Ersparnisse für einen sorgenfreien Ruhestand nicht ausreichen werden. Viele von ihnen besitzen allerdings eine wichtige Wertanlage: ihr Eigenheim. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, das eigene Haus zu Geld zu machen, ohne es zu verkaufen. Der traditionelle Ansatz wäre, eine Hypothek aufzunehmen, was allerdings bedeutet, dass man künftig Schulden hat und zu monatlichen Zahlungen verpflichtet ist. Eine weitere Möglichkeit wäre es, gegen eine Leibrente eine Umkehrhypothek aufzunehmen, doch dann würden die Kinder das Elternhaus nicht mehr erben können.

Hier kommt Airbnb ins Spiel. Eltern erwachsener Kinder können leerstehende Zimmer an Reisende vermieten, die sich für eine bestimmte Zeit in der Region aufhalten. Dieses Arrangement ist für beide Seiten – Eltern wie Kinder – von Vorteil. Die Eltern könnten öfter ihre Kinder besuchen oder auf Reisen gehen und in dieser Zeit das ganze Haus an Urlauber vermieten. So oder so verdienen sie Geld und können ihr Haus behalten. Airbnb wäre nicht so erfolgreich, wenn das Unternehmen nicht auf mehrere, sich miteinander verbindende Trends reagieren würde: die abnehmende

Die Welt von morgen wird eine Welt neuer Möglichkeiten, aber auch neuer, unbekannter Gefahren sein, die uns alle, Individuen, Firmen und Organisationen, vor große Herausforderungen stellt. Im Schlusskapitel werde ich zeigen, dass wir diese Herausforderungen ganz anders angehen müssen, als wir dies in der Vergangenheit getan haben, und ich werde Ihnen, den Leserinnen und Lesern, ganz konkrete Tipps und Ratschläge an die Hand geben, wie Sie mit lateralem Denken die neuen Trends für sich nutzen können.

Und denken Sie daran, dies alles wird in unserer Lebenszeit stattfinden. Die neue Welt wartet bereits an der nächsten Ecke.

Während wir noch sehr unter den Auswirkungen einer Jahrhundert-Epidemie leiden, zeichnet sich heute bereits ab, dass mit Covid-19 eine Epoche des technologischen Wandels begonnen hat. Selbsternannte Experten verkünden darüber hinaus den Niedergang des Einzelhandels, das Ende des Personennahverkehrs und die Umkehrung der Globalisierung. Zwar glaube auch ich, dass die Narben dieser Krise noch lange spürbar sein werden, doch ist es wichtig, nicht zu übertreiben und mit den Prognosen vorsichtig zu sein, solange wir nicht alle Fakten beisammenhaben. E-Commerce, Homeoffice und antiglobale Tendenzen wie etwa Protektionismus und Ausländerfeindlichkeit sind derzeit in der Tat vorherrschende Trends, doch führen sie nicht unbedingt in jene Richtung, die diese Experten vorhersagen.

Anders als frühere Pandemien wird diese vorrangig bereits existierende Trends beschleunigen, sei es die Übernahme technologischer Neuerungen, die Alterung der Bevölkerung, den Aufstieg von Frauen in bedeutende gesellschaftliche Positionen oder die Transformation von Schwellenländern in die größten Verbrauchermärkte der Welt. Deutschland wird von der Beschleunigung jener Trends, die ich in diesem Buch im Detail beschreibe, sehr wahrscheinlich eher profitieren als darunter leiden. Seine Wirtschaft ist sowohl im europäischen als auch im globalen Kontext konkurrenzfähig, und das Land besitzt eine hochqualifizierte Bevölkerung, ein wichtiger

Ich erinnere mich an meine Reisen nach Deutschland Ende der achtziger und in den neunziger Jahren. In meiner Studentenzeit verbrachte ich zwei Sommer als Stipendiat in Gießen und Wuppertal. Es war eine Zeit des Wandels und der Hoffnung mit der deutschen Wiedervereinigung und dem europäischen Integrationsprozess. Die Wirtschaft war nicht unbedingt in bester Verfassung, um es milde auszudrücken. Der Technologie-Sektor wuchs nicht in demselben Maß wie in den Vereinigten Staaten und Japan. Südkorea und zunehmend auch China stellten eine ernstzunehmende Bedrohung für den traditionell starken Produktionsstandort Deutschland dar. Lohnzurückhaltung, Automatisierung und Produktivitätszuwachs standen auf der Tagesordnung. Um die Jahrhundertwende wuchs die Wirtschaft zwar stark, jedoch nur, um sich inmitten einer europäischen Malaise wiederzufinden, die mit den zunehmenden Problemen der südlichen und östlichen Randgebiete ihren Anfang nahm. Trotz dieser Schwierigkeiten erfreute sich die deutsche Wirtschaft weiterhin einer niedrigen Arbeitslosigkeit und eines globalen Wachstums. Heute rühren die Probleme von den rasch wachsenden Volkswirtschaften in den Schwellenländern Asiens mit ihrer neuen Betonung des Inlandsverbrauchs, während Europa als Ganzes stagniert.

Um die Herausforderungen und Chancen zu erkennen, die durch die globalen Transformationen des kommenden Jahrzehnts in großem Stil auf uns zukommen werden, möchte ich auf einige der auffälligsten Trends eingehen, die in diesem Buch beschrieben werden: auf die bereits erwähnte Tatsache, dass wir auf eine Welt zusteuern, in der es mehr Großeltern als Enkelkinder geben

Zu den Folgen dieser Entwicklung gehört es, dass jenes Stufenmodell (Kindheit – Arbeit – Ruhestand), dem Otto von Bismarck vor 140 Jahren den Weg bahnte, an seine Grenzen stoßen wird. Das Modell erscheint aufgrund zweier Entwicklungen unzeitgemäß: Zum einen leben wir heute länger. Zu Bismarcks Zeiten betrug die Lebenserwartung in Deutschland weniger als fünfzig Jahre, heute liegt sie bei über achtzig Jahren. Zum anderen altert das Wissen, das wir uns in Schule und Studium aneignen, aufgrund des technischen Fortschritts immer schneller. Wir werden künftig nicht nur einmal im Leben die Schule besuchen, sondern mehrmals dorthin zurückkehren müssen. Die Menschen werden sogar mehrere berufliche Laufbahnen einschlagen und immer seltener bei einer bleiben. Staaten wie Unternehmen werden sich auf diese neue Wirklichkeit einstellen und auf völlig neue Weise über Arbeit nachdenken müssen.

Eine weitere demographische Verschiebung, die die Welt verändern wird, hat mit den Frauen zu tun. Ich habe bereits angedeutet, dass der Geburtenrückgang in erster Linie mit dem Zugang von Frauen zur Bildung zusammenhängt, was ihnen wiederum neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet. Infolgedessen verdienen heute mehr Frauen ihr eigenes Geld, sparen es und legen es gut an. Zudem leben Frauen im Schnitt sechs Jahre länger als Männer. Dies alles führt dazu, dass der Wohlstand in den kommenden

Nirgends ist das Ausmaß dieser Transformation sichtbarer als in der Welt der Technologie. Durch die Pandemie hat der Gebrauch von digitalen Plattformen in Schule, Studium und Arbeit sowie beim Konsum und in der Freizeit rasant zugenommen. Doch dies sind nicht die einzigen Technologien, deren Entwicklung durch Corona beschleunigt wurde. Der Ansporn zur Automatisierung ist größer geworden. Unternehmen haben verstanden, dass auf Roboter in Zeiten von Naturkatastrophen – und dazu zählen auch Notfälle im Gesundheitswesen – mehr Verlass ist als auf Menschen. Im Zeitalter des »Social Distancing« müssen sich auch die Beziehungen zwischen Kunden und Angestellten im Dienstleistungssektor ändern. Die Automatisierung eröffnet hier neue Möglichkeiten. Wir sind also Zeugen einer Trendwende, die dazu führen wird, dass es schon bald mehr Roboter als Angestellte geben wird.

In den folgenden Kapiteln werde ich außerdem zeigen, dass wir schon bald mehr Computer – oder, um genau zu sein, mehr Mikroprozessoren – haben werden als menschliche Gehirne. Das sogenannte »Internet der Dinge«, die »Blockchain-Technologie« und andere revolutionäre digitale Verfahren werden die Wirtschaft

Und schließlich kommen wir noch zu einem Punkt, der die größten Transformationsbrüche hervorrufen könnte: die Möglichkeit, dass wir statt der wenigen, von Staaten und ihren Zentralbanken ausgegebenen Währungen eine Vielzahl von Kryptowährungen verwenden werden, mit denen wir unsere Rechnungen bezahlen und in denen wir unsere Ersparnisse anlegen.

Geld gehört zu einer sehr kurzen und exklusiven Liste von Erfindungen, die die Welt grundlegend verändert haben. Es steht dort in einer Reihe mit der Beherrschung des Feuers, der Erfindung des Rads, der Druckerpresse und der Dampfmaschine sowie der Entwicklung von Antibiotika. Gleichwohl glaube ich nicht, dass Kryptowährungen sich als solche durchsetzen werden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil souveräne Staaten es nie zulassen werden, dass man sie in zu vielen Bereichen einsetzt. Sie können kein Interesse daran haben, die Kontrolle über die Geldpolitik und das Geldvolumen zu verlieren. Man stelle sich vor, wie die Bundesbank und die Europäische Zentralbank darüber denken würden. Ich glaube, Kryptowährungen werden nur dann überdauern, wenn sie mit Coupons, Anreizen, »Smart Contracts« und anderen

Diese Transformationen werden Deutschland wie den Rest Europas und die ganze Welt verändern. Die einzelnen Staaten können auf diese Veränderung nur auf eine Weise reagieren: Sie müssen sich noch viel stärker als bisher mit dem Rest der Welt verbinden, um ihre Bevölkerung an den gewaltigen Chancen teilhaben zu lassen, die sich hier auftun. Protektionismus und Populismus – von Ausländerfeindlichkeit ganz zu schweigen – sind auf lange Sicht kontraproduktiv. Die beste Strategie besteht darin, die Gesellschaft und die Wirtschaft mit den globalen Trends in Einklang zu bringen. Davon abgesehen müssen Europa und die Vereinigten Staaten alles daransetzen, den größten politischen Fehler der letzten zwei Jahrzehnte zu korrigieren – nämlich jene zu vergessen, die bislang unter der Globalisierung zu leiden hatten.

Die Herausforderungen, die vor uns liegen, in Angriff zu nehmen, bedeutet zunächst einmal, sie als solche zu erkennen. Die Welt ist in einem grundlegenden Wandel begriffen. Das sind keine Fake News. Die Uhr kann nicht zurückgedreht werden. Die einzig mögliche Antwort auf den Wandel ist der Wandel selbst. Erst wenn wir diese Realität als solche annehmen, können wir die Entscheidungen treffen, die erforderlich sind, um unsere Zukunft zu gestalten. Das ist die Botschaft dieses Buches: Üben Sie sich in Selbsterkenntnis und werden Sie aktiv.

Folge den Babys

Bevölkerungsrückgang, der afrikanische Babyboom und die nächste industrielle Revolution

»Ein Baby kommt nicht nur mit einem Mund und einem Magen zur Welt, sondern auch mit zwei Händen.«

Edwin Cannan, britischer Wirtschafts- und Bevölkerungswissenschaftler

Es scheint erschreckend, mit welcher Geschwindigkeit die Weltbevölkerung wächst. Im Jahr 1820 gab es eine Milliarde Menschen auf der Erde. Ein Jahrhundert später waren es zwei Milliarden. Nach einem kurzen Stillstand in Folge der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs erreichte die Wachstumsrate eine atemberaubende Geschwindigkeit: drei Milliarden bis 1960, vier Milliarden bis 1975, fünf Milliarden bis 1987, sechs Milliarden im Jahr 2000 und sieben Milliarden im Jahr 2010. »Geburtenkontrolle oder ein Wettlauf in das Vergessen?« lautete der Slogan auf dem Umschlag von Paul und Anne Ehrlichs einflussreichem Buch Die Bevölkerungsbombe aus dem Jahr 1968. Seither waren Regierungen auf der ganzen Welt und große Teile der Öffentlichkeit höchst besorgt über etwas, das sie für unausweichlich hielten: Wir werden den Planeten überfluten und uns damit selbst vernichten (und mit uns Millionen von Pflanzen und Tierarten).

Tatsächlich aber werden wir im Jahr 2030 mit einem Mangel an Kindern konfrontiert sein.

Da die Geburtenraten in Ostasien, Europa und Nord- wie Südamerika sinken, während sie in Afrika, im Nahen Osten und in Südasien langsamer steigen als bisher, verändert sich das globale Gleichgewicht wirtschaftlicher und geopolitischer Macht. Man bedenke: Für jedes Baby, das heute in einem hochentwickelten Land geboren wird, werden mehr als neun in Schwellen- und Entwicklungsländern geboren. Anders gesagt werden für jedes in den Vereinigten Staaten geborene Baby 4,4 in China, 6,5 in Indien und 10,2 auf dem afrikanischen Kontinent geboren. Hinzu kommt, dass aufgrund einer verbesserten Ernährung und Gesundheitsvorsorge in den ärmsten Teilen der Welt immer mehr Kinder das Erwachsenenalter erreichen und ihrerseits wieder Kinder bekommen. Vor einem halben Jahrhundert starb in afrikanischen Ländern wie Kenia oder Ghana eines von vier Kindern, bevor es vierzehn Jahre alt wurde, heute weniger als eines von zehn. Diese rasanten Veränderungen der relativen Bevölkerungen in verschiedenen Teilen der Welt werden nicht nur davon bestimmt, wer mehr Babys bekommt, sondern auch, wessen Lebenserwartung schneller zunimmt. So ging man zum Beispiel davon aus, dass Menschen, die in den 1950er Jahren in den am wenigsten entwickelten Regionen der Welt geboren wurden, dreißig Jahre kürzer leben als jene aus den

Abbildung 3 zeigt den Anteil an der Weltbevölkerung in verschiedenen Regionen zwischen 1950 und 2017 sowie, nach Berechnungen der Vereinten Nationen, die entsprechenden Vorhersagen für das Jahr 2100.

Betrachten wir einmal das Jahr 2030. In diesem Jahr wird Südasien (mit Indien) seine Stellung als bevölkerungsreichste Region gefestigt haben. Afrika wird zur zweitgrößten Region aufsteigen, während Ostasien (mit China) auf den dritten Rang zurückfallen wird.

Internationale Migrationsströme können diese epochalen Veränderungen zum Teil abschwächen, weil Menschen aus Teilen der Welt mit einem Geburtenüberschuss in andere mit niedrigen Geburtenraten abwandern werden. Tatsächlich ist dies in der Geschichte der Menschheit wiederholt geschehen, zum Beispiel, als viele Südeuropäer in den fünfziger und sechziger Jahren nach Nordeuropa einwanderten. Doch diesmal wird die Migration, die aus obiger Grafik ersichtlichen Entwicklungen nicht aufwiegen können. Ich betone das, weil zu viele Regierungen dieser Welt entschlossen zu sein scheinen, neue Mauern zu errichten – ob nun althergebracht mit Zäunen und Stacheldraht oder mithilfe moderner Technologien wie Laser und chemischen Detektoren zur Überwachung von Grenzübergängen, oder mit beidem.

Doch selbst wenn diese Mauern nie gebaut werden oder sich als wirkungslos erweisen sollten, veranschaulicht unsere Grafik, dass die Folgen der Migration keinen größeren Einfluss auf die Bevölkerungstrends haben werden. Ausgehend von gegenwärtigen Migrations- und Bevölkerungsentwicklungen wird Subsahara-Afrika – also jene rund fünfzig afrikanischen Länder, die nicht an das Mittelmeer grenzen – bis zum Jahr 2030 die Weltregion sein, in der die zweitmeisten Menschen leben. Einmal angenommen, das Migrationsvolumen verdoppelt sich in den nächsten zwanzig Jahren, dann werden doppelt so viele Migranten den Eintritt obiger Prognosen nur verzögern. Sie werden die Bevölkerungstrends, die zum Ende der Welt, wie wir sie kannten, führen werden, nicht umkehren, sondern lediglich um etwa drei Jahre auf das Jahr 2033 verschieben.

Was also steckt hinter der globalen Verlangsamung des Bevölkerungswachstums? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Schließlich gehört zur Zeugung von Babys eine allseits bekannte Methode, die ebenso einfach zu praktizieren wie überaus beliebt ist. Lassen Sie mich zunächst etwas über meinen eigenen Stammbaum erzählen. Eine meiner Ururgroßmütter in Spanien war einundzwanzig Mal schwanger und brachte neunzehn Kinder zur Welt. Ihr erstes wurde geboren, als sie neunzehn Jahre alt war, und ihr letztes, als sie zweiundvierzig war. Als das Land sich entwickelte und Frauen einen besseren Zugang zu Bildung erlangten, wurden die Familien kleiner, bis hin zu einem oder zwei Kindern pro Frau.

Man muss sich vor Augen führen, dass in einigen Teilen der Welt – und dazu gehören Afrika, der Nahe Osten und Südasien – Millionen von Frauen in ihrem Leben fünf, zehn oder sogar noch mehr Kinder zu Welt bringen. Doch im Durchschnitt sinkt mit der Zeit auch in den Entwicklungsländern die Zahl der Babys pro Frau, und zwar aus denselben Gründen, aus denen sie vor zwei Generationen auch in der hochentwickelten Welt stark zurückging. Frauen stehen heute mehr Möglichkeiten offen, als nur den Haushalt zu führen. Um diese Möglichkeiten auch tatsächlich zu ergreifen, bleiben sie länger in der Schule und entscheiden sich in vielen Fällen für eine Hochschulausbildung. Dies wiederum führt dazu, dass sie erst später Mütter werden. Die veränderte Rolle der Frau in der Wirtschaft – und allgemeiner in der Gesellschaft – ist der wichtigste Faktor, warum die Geburtenraten weltweit sinken. Frauen bestimmen zunehmend, was auf der Welt geschieht.

Betrachten wir etwa den Fall der Vereinigten Staaten, wo die Prioritäten von Frauen sich rapide verschoben haben. In den fünfziger Jahren heirateten amerikanische Frauen im Schnitt mit zwanzig.