Die Frauen in diesen Romanminiaturen haben viel erlebt und manches hinter sich gelassen.
Sie sorgen sich um Fremde, kümmern sich um große Kinder und alte Eltern und verlieren
sich darüber fast selbst.
Tanja Schwarz erzählt von Frauen aus dem liberalen, oft prekären Bürgertum, ihre Leben
sind auf normale Art schwierig und brüchig. Durch politische oder private Krisen sind
sie aus ihrer saturierten Starre erwacht. Tanja Schwarz umkreist ihre Figuren mit
spärlicher und doch bis ins Mark reichender Prosa.
Tanja Schwarz
In neuem Licht
Romanminiaturen
hanserblau
Sonnenwende
Unabomber
Datteln aus Mekka
Élysée
Cover Me
Torfbaby
Axalp
National Trust
Eine Harzreise
Das Gespinst
Lockdown
Kilimandscharo
Scharbockskraut«, sagte meine Mutter, »wilde Malve.« — »Odermennig.«
Strich mit dem Zeigefinger über die zähen, pelzigen Stängel, die Dolde winziger blassgelber Blüten, die sich nach oben hin in Samentöpfchen mit klettendem Schopf wandelten. Ruprechtskraut: zarte, lilafarbene Blumen am Wegrand, mit Storchenschnäbeln an den winzigen, verblühten Köpfen.
Sie blieb stehen, beugte sich mit ihrem ohnehin schon krummen Rücken zu den Blumen hinunter, als müsste sie deren Anblick unbedingt festhalten, eine letzte Schau des Schönen in sich aufsaugen. Ich griff nach ihrer Hand, zog sie durch das Junigras, das uns bis an die Knie reichte, zwischen den Obstbäumen hindurch, an denen noch unreife, bucklige Birnen und Äpfel hingen, hin zu dem Kirschbaum, riesig war der, eine Frühsommerkathedrale mit hellroten Kugeln im Laub, was konnte man bei dem Anblick anderes empfinden als Freude, ich zog sie hin, Mama mit dem weißen Haar, reckte mich zu den unteren Ästen, pflückte die prallen, wie Organe geformten Früchte und fütterte sie damit. Sie nahm sie mit krummen Fingern, lutschte das Fruchtfleisch von den Kernen, ich beobachtete ihr Gesicht, die faltigen Wangen in Bewegung, und lächelte sie an. Sie förderte einen Kern zutage, ließ ihn aus dem Mund fallen und lächelte scheu zurück.
»Und du meinst nicht, ich habe alles falsch gemacht«, fragte sie, sicher zum fünfzehnten Mal, seit ich sie von der gerontopsychiatrischen Station abgeholt und hierher mitgenommen hatte mit dem Versprechen, sie vor dem Abendessen zurückzubringen. Die Frage, die sie wie die anderen Zwangsgedanken in quälender Frequenz wiederholte, hatte etwas von ihrer Dringlichkeit verloren, bildete ich mir ein, meine Mutter wirkte beinahe unkonzentriert, während sie sie stellte.
»Nein«, sagte ich, »hast du nicht«, und reichte ihr Kirschen, etwas zu helle vielleicht, darunter eine mit einem schon verschorften Riss, sie nahm sie und aß. Ich reckte den Arm und sprang zu einem besonders üppig tragenden Ast, einmal, zweimal, bis ich einen der Zweige mit den fingrigen Blättern zu fassen bekam und herunterzog. Die Früchte waren von der Sonne gewärmt und voller Süße. Eine Kirsche erschien mir als die schönste, so prall war sie, hell und auf einer Seite rotbackig, es hätte mich nicht gewundert, hätte sie einen Herzschlag gehabt.
»Ich hoffe, du kannst rennen. Falls uns einer erwischt«, sagte ich im Versuch, einen Scherz zu machen.
Ich nahm ihre Hand und führte sie über die Wiese, oft waren wir vom Neubaugebiet aus, wohin sie nach meinem Weggang gezogen war, über die hügelauf- und -abwärts führenden Feldwege zwischen den Gärten und Obstwiesen gegangen. Wir erreichten ein asphaltiertes Stück Weg, das über den Bach führte. Ich fühlte in Abständen ein Zucken in ihrer Hand, Ruhe hatte sie keine, dennoch blieb sie stehen und lauschte dem vielstimmigen Geräusch des Wassers. Es war ein helles, akustisches Glitzern, heiter und machtvoll zugleich.
»Hier war ich noch nie«, sagte sie beinahe andächtig und schaute mich, immer noch lauschend, an.
Meine Mutter wohnte seit fünfzehn Jahren im Neugreut, in einem der viergeschossigen Blocks, die als eine Reihe erster Gebäude an den damals neu erschlossenen Straßen standen. Für das Viertel war ein Teil der alten Obstgärten und -wiesen gerodet, eingeebnet und bebaut worden. Die noch übrig gebliebenen Wiesen und eingezäunten Grundstücke zogen sich nach Westen bis hinunter ins Österbachtal, am anderen Bachufer gingen sie in eine Landschaft aus Wacholderheide über, das Tal war früher als Truppenübungsgelände genutzt worden. Der Blick war eingerahmt von den Bergen, die nach Süden hin der Stadt im Rücken standen. Als Riesenwesen mit oben abgeflachten, bläulich dunkelgrünen Rücken umstellten sie den Horizont, taten alle paar Jahre einen Atemzug und bewachten meine Träume.
Ich kam normalerweise zwei-, höchstens dreimal im Jahr hierher. Seit Sina geboren war, waren mir die siebenstündigen Bahnfahrten auf eine neue Art wichtig geworden, ich entdeckte die Landschaft in meiner DNA, wollte meiner Tochter Kindheitsbilder mitgeben, in denen die Alb, die Streuobstwiesen und Kalksteine vorkamen.
Die Gründe meines Weggangs verblassten zusehends. Damals hatte ich es Enge, Engstirnigkeit, Mangel an offenen Enden genannt. Ich war im Rückblick nicht sicher, ob ich in der Bilanz meines bisherigen Lebens mehr gewonnen hatte als verloren. Ich hatte natürlich Sina, eine nicht zu verrechnende Größe, Neuausrichtung des Mittelpunktes, auf den die Kraftpfeile meines Lebens zeigten.
Die Landschaft goss jetzt im Juni, im Licht des späten Nachmittags, das Übermaß ihrer Süße aus.
Ich sah die gebeugte alte Frau, die meine Mutter war, stehen und Kirschen essen. In einem einfachen grünen T-Shirt und hellgrauer Hose, mit leeren Händen und Taschen, hatte ich sie aus dem Krankenhaus abgeholt. Wir gingen weiter.
Es ging bergauf, sie geriet ins Schwitzen, Atem schöpfend und im Grübeln befangen blieb sie stehen, bemerkte dabei einen kleinen Vogel, der mit dem Kopf voraus den Stamm eines Nussbaums abwärtslief, ihre Lippen zuckten, als wollten sie seinen Namen sagen.
»Ein Kleiber«, half ich ihr aus, »so heißt er doch.«
Ihr Gesicht hellte sich auf, aber nur für einen Augenblick, dann versank sie wieder in ihrer grauen Unruhe.
»Ich weiß wirklich keinen Ausweg mehr.« Sie sah mich mit ihren alten Augen, ihren schon immer braunen, schon immer voll Liebe und Furcht auf mich gerichteten Augen an, ihr Blick versetzte mir einen Stich.
»Ja, Mama, ich weiß.«
Ich zog sie an der Hand weiter.
Vor ihr riss ich im Gehen von einem Haferfeld einige der matten, bläulich grünen Halme ab, mit ihren zitternden Rispen und einer noch knittrigen orangeroten Mohnblume, die ich ebenfalls pflückte, schien mir dies der schönste kleine Handstrauß, den es geben konnte, ich reichte ihn ihr.
»Oh«, machte sie, ein Laut der Freude, den ich ebenfalls kannte und der viele Jahre lang mein Missbehagen erregt hatte, drückte sie doch damit mehr Freude aus, als ich annehmen konnte, eine Bürde für mich, als hätte die Tochter eine ganz außergewöhnliche Leistung vollbracht. Dieses spezielle Zuviel hatte ich früher zurückgewiesen. Heute nahm ich es hin, begrüßte im Stillen jede ihrer Gemütsregungen, die eine andere war als Selbstanklagen und Angst. Ich ging voran.
Durch die Landschaft zu streifen, am Morgen, am Abend, zu allen Jahreszeiten, mir schien, als hätten meine Mutter und ich das immer zusammen getan.
»Eigentlich brauche ich fast gar nichts«, sagte Mama in meinem Rücken, leicht außer Atem. »Wenn ich so eine Wiese hätte und eine Hütte darauf, ich hätte nicht diese Depressionen.«
Sie war mir in diesem Moment, in diesem aufgelösten Zustand näher als während vieler Jahre zuvor.
»Ja«, sagte ich. »Das glaube ich auch.«
Es hatte vor zwei Wochen angefangen. Sina hielt das Telefon in der Hand, »Oma«, formte sie mit den Lippen. Es war spätnachmittags, ich war gerade zur Tür hereingekommen. Bei der Arbeit war ich länger geblieben als sonst, hatte nur noch mit Ungeduld die Ratsuchenden angehört, deren Anliegen mir alle gleich erschienen, wenn ich müde wurde. Es war schön draußen, es drängte mich, die Büroklamotten gegen meine Laufsachen zu tauschen und hinauszurennen. Ich warf meine Jacke und die Tasche von mir.
»Ich kenne das Gefühl«, sagte Sina ernsthaft in den Hörer, »man wünscht sich nur, dass es aufhört.«
Ich vergaß, was ich gerade im Begriff war zu tun, und horchte bei offener Badezimmertür, mit dem Rücken zu meiner im Flur telefonierenden Tochter, auf diesen mir aus ihrem Mund unbekannten Gesprächston.
»Die Wahrheit ist aber, es hört irgendwann auf. Ganz sicher. Daran musst du fest glauben.«
Nun wollte ich wissen, was los war. Ich bedeutete Sina, mir das Telefon zu geben. Sie wehrte mich ab, kehrte mir den Rücken zu und ging in ihr Zimmer.
»Oma. Das ist nur die Stimme deiner Angst. Und gar nicht die schlimme Sache selbst.«
Woher hatte mein Kind solche Sätze? Nicht zum ersten Mal ging mir auf, dass ich wenig Einblick in ihr Seelenleben hatte. Ich hatte gehofft, wenn ich eine andere Mutter würde als meine eigene, wäre das anders.
»Möchtest du Mama sprechen? — Tschüs, Oma«.
Ich war ihr nachgegangen und streckte die Hand aus, aber Sina legte das Telefon beiseite und nahm ein Schulbuch in die Hand. Sie sah mich gequält an, um nichts mehr bemüht, als von mir in Ruhe gelassen zu werden.
»Sie will nicht mit dir sprechen.«
»Was ist denn los?«
»Keine Ahnung.«
Als ich meine Mutter anrief, ertönte nur der Besetztton. Ich versuchte es in Abständen wieder, aber es blieb dauerhaft besetzt bis in den Abend.
So beunruhigend es für mich gewesen war, Teile dieses Telefongesprächs mitzuhören, hatte ich die Episode doch beinahe ganz im Tumult des nächsten Tages vergessen. Auch am Abend hatte ich nicht daran gedacht, mich bei meiner Mutter danach zu erkundigen. Ich rief sie normalerweise am Wochenende an.
So traf mich die Nachricht, sie sei in die Psychiatrie gebracht worden, überraschend.
Hinter einem Stromzaun standen in einem exakt abgezirkelten Geviert Schafe, zu viele auf kleiner Fläche, wie mir schien, sie mussten vor nicht langer Zeit geschoren worden sein. Mit ihren kleinen Körpern, flauschigen Köpfen und uns aufmerksam zugewandten Ohren erinnerten sie an Hunde. Von einer um den Schafspferch herum erst vor Kurzem gemähten, stark duftenden Fläche hafteten Klee und Grasschnitt an unseren Schuhen. Der Himmel spannte sich weit, faserige kleine Wolken trieben über den Horizont. Hoch oben rüttelte eine Lerche und sang.
»Mama«, sagte ich, »es ist jetzt schlimm für dich, aber es wird wieder. Ich weiß es.«
Sie sah mich an, als müsste sie mich ausforschen, der Weg in ihr Inneres war offen. Davon ermutigt und von neuer Kraft durchströmt, führte ich sie weiter weg von ihrem Zuhause, ich hätte all das ewig machen können, mit ihr Hand in Hand gehen, Blumen und Kirschen pflücken, meine Beteuerungen, die immer waghalsiger wurden, es wird gut, ich verspreche es dir, du wirst wieder ganz gesund. Versprochen, versprochen.
Nach einer Weile schien sie müde geworden, auch das zauberhafte Licht wurde von einer Wolke, die sich vor die sinkende Sonne geschoben hatte, in etwas Matteres abgedämpft. Sie blieb stehen, ich konnte sie zu einem Holzstapel unter einem Birnbaum ziehen, wo sie sich in angespannter Haltung an die Kante lehnte.
»Ich sitze ganz schön in der Scheiße«, sagte sie und sah mich an. Allein die Wortwahl war neu.
»Warum denn«, gab ich zurück, »es hat sich doch gar nichts verändert. Es ist doch alles in Ordnung.«
»In Ordnung.« Sie lachte bitter, in ihrem entzündeten Gemütszustand vermochte sie mich noch zu überraschen, noch nie hatte ich von ihr sarkastisches Lachen gehört.
»Sie haben den Computer mitgenommen, heute in aller Frühe.«
Ihr Blick ruhte nachdrücklich auf mir. »Sie haben alles herausgenommen, und ich habe nur noch ein leeres Gehäuse.«
»So ein Quatsch«, entfuhr es mir voller Empörung, »du hast im Krankenhaus doch gar keinen Computer. Und wer sind sie überhaupt?«
Ihr Blick verriet leichtes Bedauern.
»Heutzutage braucht jeder Computer. Ich habe jetzt nichts mehr, keine Programme, nichts. Andere haben Kinder, die so etwas können.«
»Du hast aber doch auch ein Kind! Mich! Ich bin hier und höre mir diesen Quatsch an.«
»Die stellen mir die Taschen vor die Tür, du wirst sehen.«
»Wer denn?«
»Na, die vom Krankenhaus. Die brauchen das Bett. Es ist ja auch nichts bezahlt worden. Die wollen mich jetzt loswerden. Die mögen mich nicht mehr.«
Sie sah ganz normal aus, während sie all das vom Stapel ließ. Sie hockte auf den aufgeschichteten Aststücken, eine Amsel sang.
»Mama. Du kannst gerade nicht nach Hause. Du musst erst gesund werden.«
»Das alles muss ja jemand bezahlen. Das kann ich irgendwann nicht mehr überweisen. Ich bin ja gar nicht richtig versichert.«
»Hör auf!«
»Meine Wohnung ist auch bald weg.«
Sie rieb ihren in den letzten Jahren sich mehr und mehr nach außen krümmenden Zeigefinger.
»Die stellen mir heute Abend die Sachen vor die Tür.«
»Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Keiner will dich entlassen.«
»Heute Abend! Und der Computer ist weg, alles weg. Nur noch eine leere Hülle.«
»Mama.«
»Ich hab es doch gesehen. Sie haben alles mitgenommen. Ich bin am Arsch, am Arsch.«
»Mama!«
»Die anderen haben Kinder.«
Sie sprach ohne Pause weiter, ich sprang auf, und obwohl man das mit Menschen in ihrem Zustand nicht machen sollte, schrie ich sie an: »Du musst damit aufhören, um Himmels willen!«
Sie reagierte in keiner für mich erkennbaren Weise, nahm es hin, ließ beim Gehen die hohen Rispen der Gräser durch ihre Finger gleiten. Im Vorbeigehen an den Gärten riss sie eine noch unreife Samenkapsel, einen hellgrünen Ballon, in ein zartgrünes Geflecht gehüllt, von einem Busch Gartenblumen —, war es Jungfer im Grünen? — und ich empfand Sehnsucht nach ihr, wie sie früher war.
Zurück in der Klinik, wurde sie kleiner und kleiner, schon auf dem Flur, im Fahrstuhl, sie wurde noch kleiner, als wir Hand in Hand vor der Stationstür standen. Ich klingelte, wir warteten auf die Stimme aus der Sprechanlage. Wir betraten die Station, wo es nach inkontinenten alten Menschen roch, wo im Lichthof des Aufenthaltsraums ebendiese alten, zerstörten Menschen zwischen zusammengewürfelten antiken Sofas, Tischen und Kommoden herumirrten oder ganz teilnahmslos und von Schüttellähmung befallen in Rollstühlen saßen. Ich misstraute mir selbst, als ich, kaum dass wir eingetreten waren, etwas von der unerschütterlichen Robustheit der Schwestern annahm, ihre brutale Strukturiertheit, jetzt machen wir das und dann das, ich konnte nicht mehr anders. Zwei alte Frauen und ein Mann saßen auf Stühlen und blickten ausdruckslos erst uns, dann sogleich wieder die Stationstür an. Am Tresen der Schwestern und Pfleger stand eine weißhaarige Alte und wartete ins Leere, auch vor der Tür des Dienstzimmers warteten zwei Patientinnen.
»Ich kann nicht mehr bleiben«, sagte ich, schaute viel zu schnell schon nach der Tür, durch die hindurchzugehen ich alle Freiheit hatte, sie hingegen nicht. Sie erschrak, klammerte sich an mich, ich merkte genau, wie grausam ich war. Ich besann mich, wollte uns einen friedlichen Abschied bereiten und begleitete sie in ihr Zimmer.
Dort standen zwei Krankenhausbetten, dasjenige am Fenster war ihres, außerdem ein Tisch, zwei Stühle und zwei doppeltürige Schränke. Das zweite Bett war mit einer transparenten Schutzfolie überzogen.
Ich goss ein Glas Wasser ein und reichte es ihr, sie stellte es weg, ohne zu trinken, ich drängte sie sanft, bis sie durch fast geschlossene Lippen einen winzigen Schluck nahm.
Sie hielt das Band mit dem Schrankschlüssel unschlüssig in der Hand, um ihn fürchtete sie ebenso wie um ihre Aufzeichnungen, die sie in ihrer unverändert schönen Schrift in einen abgelaufenen Wochenkalender eintrug. Sie öffnete ihren Schrank, strich über das oberste von fünf oder sechs aufgestapelten T-Shirts, alle viel ordentlicher gefaltet und gebügelt, als ich es je könnte, und hob das oberste an, betrachtete es, nahm ein zweites und legte das andere zurück, hielt mir das zweite T-Shirt, himbeerrot mit einem Aufdruck, eine abstrahierte florale Fläche, entgegen und sagte: »Nimm, das ist zu schade für mich.«
Ich spürte, wie sich in meinem Inneren etwas schmerzhaft regte. Ich wollte sie nicht betrüben, indem ich ablehnte, aber auch nicht darin bestärken, dass sie ihrer Sachen nicht wert sei.
»Zu schade?«, fragte ich. »Aber nein, das steht dir doch bestimmt gut. Das grüne von heute gefällt mir auch.«
»Ich hab ja so viele schöne Sachen, viel zu viele«, murmelte sie, gab die Idee mit dem T-Shirt auf und ging zu ihrem Bett, es war aus weißem Stahlrohr mit Rollen, zog die Schublade des Nachtschranks auf und kramte darin herum. Sie förderte mehrere Taschentuchpackungen zutage, kleine Fotoalben mit bunten, biegsamen Plastikumschlägen, die Schokolade, die ich ihr mitgebracht hatte.
»Hier«, sagte sie, »nimm.«
»Aber die isst du doch gerne.«
»Ja, aber hier kommt doch alles weg.«
»Nicht, wenn wir schneller sind.« Ich versuchte ihr ein Lächeln zu entlocken, brach von der Schokoladentafel in der geschlossenen Packung zwei Querreihen ab, öffnete Papier und Silberfolie, teilte jede Reihe noch einmal durch zwei, für jede von uns zwei Rippchen, wie wir das früher genannt hatten, wir aßen die Schokolade im Stehen.
»Schmeckt gut«, sagte sie nachdenklich, die Schokoladenränder zu beiden Seiten an ihren Mundwinkeln bemerkte sie nicht. Sie ging zum Tisch und wandte sich wieder ihren Aufzeichnungen zu, blätterte darin, es steckten mehrere bis zum Rand vollgeschriebene Zettel in dem Kalender.
»Die lesen das«, flüsterte sie mir zu und gab mir mit Blicken und Kopfbewegungen zu verstehen, dass sie das Pflegepersonal oder die Ärzte meinte oder alle zusammen.
»Das alles war sicher ein Fehler. Ich habe zu viel preisgegeben.«
»Aber nein«, sagte ich, erschrocken von ihrer Intensität.
»Ich bin in so einer beschissenen Situation.«
Sie weinte, ich fühlte mich bestürzt und hilflos, eigenartige, gepresste Schluchzer drangen aus ihrer Kehle, dann war es schon wieder vorbei, keine Träne war in dieser kurzen Zeit geflossen, als könnte sie sich nicht einmal auf ihre Traurigkeit und Angst konzentrieren, obwohl sie davon derart beherrscht wurde.
»Bald bist du wieder gesund«, sagte ich, gern wäre ich überzeugter gewesen, ich spürte in diesem Moment nur die Erschöpfung, die von mir Besitz ergriff. »Ich muss jetzt gehen.«
»Ich sehe doch, was die mit den Leuten machen«, murmelte sie, ihr Blick wanderte unruhig hin und her, »die werden von hier aus runter in den Keller gebracht.«
Ich spürte Ungeduld und Verzweiflung aufsteigen, dies war nicht mehr meine Mutter, dies war eine Zerrversion von ihr. Ich spürte meinen fluchtbereiten, starken Körper, kaum konnte ich meine Beine stillhalten, ich wollte jetzt wirklich hinaus.
Von einer Flut von Zärtlichkeit überschwemmt, rannte ich beinahe aus dem Zimmer, es war eine Flucht, aber auch Mama wurde plötzlich schnell, und weil ich einen Augenblick warten musste, bis der langhaarige Pfleger mit seinem elektronischen Sendeknopf den Türmechanismus ausgelöst hatte, war sie bei mir und schob ihren Fuß in die Tür.
»Geh nicht«, sagte sie atemlos.
Der Pfleger rief aus dem Hintergrund ihren Namen. Mein Herz klopfte.
»Lass mich gehen. Bitte.«
Der Pfleger hatte sich zwischen uns gestellt, sie war drinnen, ich draußen.
Verlassen stand sie da, seltsam schief, in ihrem grünen Oberteil und der hellen Hose, ihr weißes Haar zurückgebunden, das Gebeugte, das Hilflose, ich drückte mich noch einmal an dem Pfleger vorbei nach drinnen, es war mir egal, was er davon hielt, und nahm sie in den Arm.
Ich wusste, dass sie sich seit Jahrzehnten danach sehnte, dass es zwischen uns leicht würde und wir uns in unverstellter Zuneigung begegnen könnten. Indem ich sie lange umarmte, tat ich also endlich, was sie sich viele Jahre lang gewünscht hatte, in der noch geöffneten Tür der ansonsten geschlossenen gerontopsychiatrischen Station.
Auf dem Weg durch die Flure, zur Pforte hinaus ins Freie war ich von einem so starken Gefühl des Lebendigseins durchdrungen, als käme ich von einem Leichenschmaus.
Es waren die Tage um den Mittsommer, ein schmerzhaft schöner Abend hatte begonnen, die Wohnstraßen am Krankenhaushügel waren von Wärme, Grün und Blütendüften erfüllt. Ich ging, atmete, als wäre die Luft aus den Gärten Nahrung, der Duft der tragenden Obstbäume und Blütenstauden, die schattigen Rasenflecken mit Schaukelgestellen und Gartentischen. Ich berührte eine Rosenblüte, die über den Zaun hing, ihre fest gefaltete Samtigkeit und Süße. Meinen begeisterten Zustand empfand ich als ausgleichenden Gegensatz zur Depression meiner Mutter. Sie konnte aus ihrer Verfinsterung nicht heraus, hätte aber gewollt, dass ich diese Atemzüge für sie mittat.
Ich erkannte einige Straßennamen, die in meiner Jugend klingende Wegmarken gewesen waren, jetzt erschienen sie als fast vergessene Erinnerungsstücke, die ich einzeln anhob und für unbedeutend befand, wie alles Große der Kindheit beim Wiederanblick geschrumpft erscheint.
Hügelaufwärts zum Neugreutviertel waren die Vorbereitungen für den Sommerabend zu spüren, eine treibende Erwartung, ein sich selbst überholender Puls hallte von den Wänden der Hochhäuser. Ein schwarzer BMW brauste vorbei, darin Frisuren, Bärte und Sonnenbrillen von vier jungen Männern, die so laut Musik hörten, dass sich die Karosserie von den Bässen aufzublähen schien.
Im Wohnheim der Fachhochschule standen die Fenster offen, auch von dort tönten Bässe.
Ich kam ins Wohngebiet, bog bei den Kleingärten ab auf den Spielplatz und setzte mich dort auf eine Schaukel. Der Spielplatz war mit Erinnerungen an Sina verbunden, mit der meine Mutter und ich bei jedem unserer Besuche hierher gegangen waren, seit Sina ein Baby war. Diese Zeit schien mir länger zurückzuliegen als meine eigene Kindheit und Jugend.
Ich schaukelte, die Luft war weich, auf und nieder bewegten sich die Bergrücken des Albtraufs. Ich spürte das kitzelnde Schwindelgefühl, das ich als Kind geliebt hatte, ich schwang kräftiger aus, blickte hinauf zu den Wolken. Sie wechselten rasch, dennoch unmerklich ihre Farbe und Gestalt, die Dramatik steigerte sich, ein feuriges Faltengewand war über dem Neugreut ausgerollt worden. Ich stieg von der Schaukel ab, ging den Weg, der zwischen den Gärten der Eigenheime und den Wohnblocks entlangführte, in Richtung der Wohnung meiner Mutter.
Auf den Balkonen der GWG-Blocks hatten sich deren Bewohner versammelt. Die gehobene Stimmung sprang von Balkon zu Balkon, ich hörte Lachen und Gespräche, roch Gegrilltes.
Zwei Hausnummern vor meinem Ziel, auf der rechten Straßenseite, ging die Haustür auf, und im Duft ihrer langen, wehenden Haare, den ich aus der Entfernung zu riechen meinte, trat ein toll aufgemachtes Mädchen heraus, in glänzenden, anliegenden Hosen, mit abendlichem Make-up und Handtasche, ein Auto wartete am Straßenrand, wo im Schimmer der Armaturenbeleuchtung eine zweite, ebenfalls gestylte junge Frau saß. Es gab einen Moment, als die eine junge Frau die Autotür öffnete, in dem das Lachen und die Begrüßungen der beiden sich mit der treibenden Musik aus dem Radio mischten, dann klappte die Autotür zu, und voller Erregung schwebte die weiß lackierte Kapsel in den Samstagabend hinaus.
Ich schlief in der Wohnung meiner Mutter. In den Räumen hingen Erinnerungen an das Zusammensein mit Sina. Ihr Wachstum war mit Bleistiftstrichen am Türrahmen dokumentiert, versehen mit den Daten unserer Besuche. Die Wände zierten Buntstiftzeichnungen, Fotos und selbst gestaltete Kalender, die Enkelin war längst stärker präsent als die Tochter. Ich empfand das als angemessen. In dieser Wohnung hatte ich nie gewohnt, wohl aber mit den meisten Möbeln. Also war das Hantieren in der Küche, das Sitzen auf dem Sofa und am Wohnzimmertisch für mich doch so, als wäre ich hier immer zu Hause gewesen.
Am nächsten Morgen bestieg ich den Zug. Ich hatte meinen Computer im Gepäck, außerdem Bücher und Arbeitsunterlagen, die hervorzuholen mir während der Hochgeschwindigkeitsfahrt wie immer schwerfiel. Dennoch gelang es mir, ein paar Stunden an meinen Fallberichten zu arbeiten.
Nicht lang vor der Ankunft in Hamburg standen auf vielen parallelen Gleisen Güterzüge, einer davon war mit einer großen Zahl neuer Autos beladen, die auf doppelstöckigen Transportwaggons standen, jedes einzelne hob sich, mit einem weißen Überzug verhüllt, vom Rostrot der Güterwaggons, Gleisanlagen und Schuppen ab als schutzwürdige Kostbarkeit.
Innerlich hatte ich das Bild meiner Mutter vor Augen, so deutlich und schimmernd wie ein holografisches Amulett, das ich bei mir trug, während ich in den Abend und die Kulisse Hamburgs hineinfuhr, vorbei an blau-roten Hafenanlagen, Kränen und aufgetürmten Containern. Von der Brücke aus sah ich die Elbphilharmonie als glitzernde Welle im Licht, die Schiffe im Dock und am Kehrwieder, auf der Wasserfläche der Elbe Barkassen. In einer großen Gleiskurve fuhr ich am Kreuzfahrtterminal vorbei in mein Leben, ich hatte die Fülle, meine Mutter die Schreie der alten Männer, das Parkinson-Schlottern, die erhobenen Stimmen der Schwestern.
»Ich möchte dir antworten«, sagte sie zu mir am Telefon, »aber es kommt nichts heraus.«
»Ja, Mama. Ich höre dich trotzdem.«
»Ich finde die Unterlagen nicht.«
»Bleib bei der Frage. Bitte. Wie möchtest du leben.«
»Sie wollen mich hier raushaben.«
Ihre Stimme war kräftig, gegenwärtig, ihre Überzeugung absolut.
»Sie brauchen das Bett.«
Sie so sprechen zu hören, hätte mir gefallen, wäre nicht ihre Paranoia der Antrieb hinter dem Selbstbewusstsein gewesen, das ihr früher immer gefehlt hatte.
»Ich weiß nicht, wohin ich mein Gepäck bringen soll. Ich kenne mich hier nicht aus.«
»Mama, Liebe, das macht nichts. Was ich wissen will: Wenn du rauskommst aus dem Krankenhaus, in ein paar Wochen vielleicht, möchtest du dann in deine Wohnung zurück?«
»Die ist schon anderweitig vergeben worden. Da ist so lange keine Miete gezahlt worden.«
»Sie ist noch deine, Mama.«
Es rumorte in der Leitung. Dann hörte ich sie wieder in den Hörer atmen.
»Ich blick nicht durch. Ich reite alle in die Scheiße.«
»Tust du nicht!«
»Doch!«
Ihr Widerstand gefiel mir erneut, die Unterhaltung strengte mich jedoch dermaßen an, dass ich mich ebenfalls von der Krankheit befallen fühlte.
»Es ist in Ordnung. Ich liebe dich. Du hast Zeit.«
»Ich habe so viele Fehler gemacht«, sagte sie leiser, mehr zu sich, aber mit einer solchen Entschiedenheit, als wäre sie zum ersten Mal in ihrem Leben von etwas wirklich überzeugt.
Die zwei Wochen bis zu den Ferien schienen mir endlos.
Bei der Arbeit fühlte ich mich wund gerieben, geschwächt. Die ganzen Arbeitstage und U-Bahn-Fahrten hindurch spürte ich die Verbindung zu meiner Mutter überstark, es schmerzte und zog, sie hilflos in so großer Entfernung zu wissen. Das Wochenende durfte sie probeweise zu Hause verbringen.
Ich telefonierte mit ihr am Samstag, unter ihrer alten, noch fünfstelligen Nummer, nachdem vorher stundenlang das Besetztzeichen zu hören war.
»Hast du genug getrunken?« An ihrer brüchigen Stimme meinte ich zu hören, dass sie bis zur Erschöpfung mit allen Bekannten telefoniert, aber keinen Tropfen Wasser getrunken hatte. Ich war siebenhundert Kilometer von ihr entfernt.
»Es steht ein Glas vor mir auf dem Tisch.«
»Bitte, trink jetzt, für mich.«
»Ach, das kann ich jetzt nicht. Es gibt ja so viel zu regeln. Diese vielen Unterlagen.«
Während meiner Übernachtungen in ihrer Wohnung hatte ich mich davon überzeugen können, dass all ihre persönlichen Papiere wohl sortiert und beschriftet in einem leicht auffindbaren Ordner in ihrem Regal standen. An neuer Post war nichts Wichtiges gekommen. Werbebriefe hatte ich weggeworfen, um sie nicht zu irritieren.
»Es gibt nichts zu regeln. Du bist Patientin im Krankenhaus, alles geht seinen Gang, automatisch.«
»Aber ich bin längst nicht mehr versichert. Da kommen riesige Kosten auf mich zu.«
»Aber, Mama. Das haben wir alles viele Male besprochen. Die Krankenkasse bezahlt alles.«
»Da ist schon zu viel zusammengekommen.«
Ich ballte die Faust meiner freien Hand so stark zusammen, dass die Nägel in die Handballen schnitten. Ich war wütend auf sie, auf ihren verbohrten, verkapselten Zustand, und gleichzeitig auf mich selbst. Alles war organisiert für das Wochenende, die Nachbarin würde hereinschauen und ihr das Essen bringen, ihre Freundinnen wechselten sich ab, und dennoch war mir nicht wohl dabei, sie allein in ihrer Wohnung zu wissen.
»Trink einen Schluck, Mama.«
Stille.
»Oh.«
»Was.«
»Jetzt habe ich mir in die Hosen gemacht.«
»Das ist doch gar nicht schlimm«, sagte ich, um Fassung bemüht, »dann machen wir eine Pause.«
»Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.«
»Deine Sachen ausziehen. Und gleich in die Waschmaschine stecken. Danach nimmst du dir aus dem Schrank etwas Frisches. Ich ruf dich später wieder an.«
Die ganze Woche über erkannte ich an mir Anzeichen ihrer Krankheit. Sina mied wie in den Monaten zuvor meine Gesellschaft, wo es ging. Sie lebte hinter ihrer geschlossenen Zimmertür oder durchschritt den Flur mit lautem Klackern ihrer Absätze, bevor die Wohnungstür ins Schloss fiel. Ich unternahm nichts dagegen. Ich fühlte mich außerstande zu arbeiten. Wenn das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte, schrak ich zusammen, wenn Kunden hereinkamen, ebenso. Ich trug meine Mutter in mir, machte ihre Handbewegungen, erkannte ihre Stimmlage an mir, ihre Blicke. Ich versuchte ihren Arzt anzurufen, er ließ mir einen Telefontermin für Donnerstag geben. Am Samstag würde ich zu ihr fahren können.
»Wir haben noch eine letzte Möglichkeit«, sagte der Arzt, seine Stimme klang weich, die Dialektfärbung kam noch hinzu. Sicher war auch er müde. »Die medikamentösen Möglichkeiten haben wir ausgeschöpft. Wir sind ein Akutkrankenhaus. In diesem Zustand können wir sie nicht dauerhaft behalten.«
»Ich verstehe.«
»Bitte erschrecken Sie jetzt nicht.«
Ich stand am U-Bahnhof, hatte vom Bahnsteig kommend neben der Rolltreppe die Stufen genommen. Oben standen Busse mit laufendem Motor. Es nieselte leicht.
»Wir empfehlen eine Elektrokrampftherapie.«
Ich spürte, wie meine Knie unter mir nachgaben.
»Meinen Sie Elektroschocks?«
»Die EKT ist mittlerweile sehr gut erforscht, wir haben damit hervorragende Erfolge.«
Ich muss irgendein Geräusch gemacht haben, das er für Zustimmung hielt.
»Allerdings brauche ich dafür das Einverständnis Ihrer Mutter.«
Im Krankenhaus kam sie mir noch krummer entgegen, zu meinem Schrecken wirkte sie auf mich jetzt ganz ihrer Umgebung angepasst, kein Lächeln, kein Aufhellen ihres fahlen Gesichts bei meiner Ankunft. Der Patient mit der Schüttellähmung stand in einem raumgreifenden Fahrgestell zum Festhalten und Fortbewegen im Flur, sein Gesicht war zu einer grinsenden Grimasse verzerrt. Er trug ein Unterhemd und bewegte das Gestell in zufällig wirkenden Schubbewegungen vorwärts. Sein Tremor war schwächer geworden, vielleicht bestand darin der Erfolg seiner Behandlung. Ich begrüßte alle alten Frauen und Männer, die im Flur saßen, standen oder ruhelos wanderten. Ich führte meine Mutter in ihr Zimmer, dort blieb sie vor dem geöffneten Schrank stehen. Sie sah hinein, sie sah mich an, ihr Gesicht war gelblich grau, ihr Haar hing in ungewaschenen Strähnen herunter.
»Mama«, sagte ich. »Da bin ich wieder. Wie geht es dir.«
»Schlecht«, antwortete sie, mir fiel ihr trüber Blick auf, ein Schleier lag über ihren Augen, deren Lider auch etwas herunterzuhängen schienen.
»Ich muss heute den Schrank räumen, aber ich finde mich nicht zurecht.«
Ich nahm sie in den Arm. Sie schmiegte sich kurz an mich, versteifte sich dann wieder und wandte sich dem Schrank zu. Ich sah mit ihr zusammen hinein. Ihre Habseligkeiten waren darin verstaut, in den Fächern lag in Stapeln ihre Kleidung, Hosen, Oberteile, auch Unter- und Nachtwäsche, ein offener Waschbeutel, links unten Schuhe, auf der rechten Seite hingen an einer Stange auf Bügeln zwei Jacken, darunter zwei offene Taschen, in denen wie hastig zusammengerafft ihre persönlichen Dinge lagen, die kleinen Alben, Postkarten, Bücher, die ich und Bekannte von ihr mitgebracht oder geschickt hatten, als würde sie sich während dieses Krankenhausaufenthalts in herkömmlicher Weise beschäftigen, sinnvoll, wie man so sagt, stattdessen räumte sie ohne Sinn für gleich welchen Gegenstand ihre Taschen ein und aus, stopfte in der Annahme, sie müsse unter Zeitdruck packen, alles wahllos hinein. Hosen und Unterhosen, in die sie eingenässt hatte, lagen zuoberst in einer Tasche mit frisch gebügelter Kleidung. Weiter hinten im Schrank steckten bräunlich transparente, zugeknotete Tüten, in denen sich ebenfalls Schmutzwäsche befand.
Für einen Moment war ich mir unsicher, ob die Sache mit dem Packen eine ihrer Wahnideen war oder nicht.
»Warum sollst du denn den Schrank ausräumen, du bleibst doch noch hier. Du bist doch noch nicht entlassen.«
»Nein.«
Ihr Kopfschütteln war matt, aber dennoch entschieden.
»Sie sagen, sie brauchen das Bett. Es ist nichts überwiesen worden. Da kommen wahnsinnige Kosten auf mich zu. Ich bin wirklich ganz unten.«
»Komm«, sagte ich, »lass uns das hier einpacken für die Wäsche.«
Sie machte eine Geste, wie um sich durchs Haar zu fahren, brachte sie aber nicht zu Ende, die Hand stand unschlüssig in der Luft. Ihr Gesichtsausdruck war leidvoll, zermürbt.
»Ich bekomme überhaupt nichts mehr auf die Reihe.«
Sie sah mich an, ihr Blick war trübe, aber dennoch voller Angst.
»Ich weiß. Ich bin jetzt da. Hast du schon geduscht heute«, fragte ich mit Blick auf ihr strähniges Haar.
»Geduscht«, wiederholte sie. »Nein, wohl nicht. Das gehört auch gar nicht zu meinem Bereich.«
Das Ausmaß ihrer Hilflosigkeit machte mich fassungslos. Mich schauderte vor der aufscheinenden Vorstellung, über ihr restliches Leben bestimmen zu müssen.
»Bitte, geh jetzt duschen.«
Ich reichte ihr frische Sachen von ihren Wäschestapeln, Unterwäsche, Hose, T-Shirt und ein Paar zusammengesteckte Socken. Sie nahm alles, ließ sich noch einmal von mir auffordern und ging ins Bad.
Es verging einige Zeit, in der ich mich im Zimmer umsah, die Therapiepläne las, die über den Betten an der Wand hingen. Für meine Mutter waren über die Woche verteilt Einkaufen, Backen, Musik und Gruppengespräche angesetzt. Im Bad lief Wasser. Nach einiger Zeit kam sie aus dem Badezimmer zurück. Sie war teilweise anders gekleidet als zuvor, Teile des frischen Wäschestapels lagen jedoch unberührt auf dem Toilettendeckel.
»Du musst bitte frische Unterwäsche anziehen, Mama«, sagte ich, »vor allem frische Unterwäsche.«
Ich spürte ohnmächtigen Ärger aufsteigen, versuchte ihn gleichzeitig zu unterdrücken. Auch mit Sina war mir das so gegangen, wenn sie, für den Weg zum Kindergarten in mehrere Schichten Winterkleidung, einen Schneeanzug und Stiefel gepackt, mit piepsender Stimme gestand, dass sie noch mal musste. Unter keinen Umständen würde ich meine Mutter in mittlerer oder längerer Frist zu mir nehmen können. Sie ließ im Zimmer stehend ihre Hose zu Boden fallen, die Tür zum Flur stand weit offen.
»Nicht hier, zieh dich bitte im Bad um.« Sie zog die Hose wieder hoch, ließ sie wieder fallen. »Nein, im Bad«, sagte ich, diesmal in schärferem Ton. Ich schwitzte.
Da begriff ich, dass sie überhaupt nicht geduscht hatte. Ihr Haar war noch ebenso strähnig, sie hatte nur ein anderes T-Shirt über das alte gezogen. Sie stand da und sah mich an, grau, unsauber, zermürbt von quälenden Grübeleien. Ich begriff, dass sie eine komplexe Handlung wie Duschen nicht bewältigen konnte.
»Komm«, sagte ich, »duschen. Ich helfe dir.«
Ich verriegelte die Tür und stand in dem dampfigen, nicht ganz sauberen Gemeinschaftsbad, in dem sich ein Duschstuhl mit am Po ausgeschnittener Sitzfläche befand. Ich rollte ihn beiseite. Sie entkleidete sich, ihren Körper hatte ich als Kind gut gekannt und seither nicht mehr nackt gesehen, all die Krümmungen und Wülste und gealterten Formen, die Frau, die mich vor vierundvierzig Jahren geboren hatte, hielt den Duschkopf mit sprühendem Wasser in der Hand und erinnerte sich in diesem Moment offenbar genau an die angenehme und vertraute Handlung, sie ließ sich den Wasserstrahl über den Kopf laufen, da bemerkte ich, dass sie ihre Uhr und ihre Brille nicht abgelegt hatte.
»Mama«, sagte ich und stellte das Wasser aus. Ich wies auf Uhr und Brille.
Ihr Erschrecken offenbarte auf ihrem Gesicht wieder den Wahnsinn, der zuvor für einen Moment pausiert hatte.
»Nein«, sagte sie. »Sonst kommen die auch noch weg.«
Ich versuchte, ihr beides abzunehmen, gegen ihren Willen. Es war ein Kampf wie um Körperteile, meine nackte, nasse alte Mutter und ich, die ich in diesem Moment entschlossen war, ihre Wertgegenstände vor ihr selbst zu schützen. Sie begriff nicht, warum ich sie ihr entreißen wollte, ich drang nicht zu ihr durch, sie fürchtete nur einen weiteren Verlust. Ich fasste mich wieder.
»Mama«, sagte ich, »ich passe gut auf die Brille auf, solange du dir die Haare einseifst. Das geht doch viel besser ohne.«
Sie ließ sich, immer noch misstrauisch blickend, die Brille abnehmen, auch die Uhr, deren Verschlussmechanismus ich nicht gleich durchschaute, wie ausgeliefert muss sich ein Mensch fühlen, dessen Denken und Empfinden in dieser Weise gestört ist.
Wir hatten das Duschen hinter uns gebracht, mit langsam trocknenden, immer flauschiger und weißer aussehenden Haaren und einer kornblumenblauen Bluse sah sie gleich viel besser aus.
Ich zog sie an der Hand aus der Station hinaus zu einem Gang in den Garten, umkreiste mit ihr mehrmals das verbliebene Wildblumenbeet, unser Mantra von Blumennamen memorierend, Tagetes, Kornblume, Petunia. Mein gesamter Besuch war ein Zwangsprogramm, gestand ich mir innerlich ein, weder hatte sie duschen noch mit mir spazieren gehen wollen, ohne Pause sprach sie von ihrem Schrank, von dem sie sich offenbar nicht gern entfernte. Ihre Gedankenschleifen wechselten von Zeit zu Zeit den Gegenstand, Daten, Formulare, Computerprogramme oder Chipkarten. Ihre Hölle war eine bürokratische.
Ich fühlte mich nach kurzer Zeit im Krankenhausgarten völlig entkräftet. »Mama«, begann ich. »Die Ärzte können dir helfen. Sie möchten eine Therapie mit dir machen. Du spürst nichts. Aber du musst vorher unterschreiben.«
Sie sah mich mit ihren durch die Medikamente eingetrübten Augen an.
»Eine Elektrotherapie.«
Das Wort Krampf brachte ich nicht heraus. Ich fühlte mich allein und ohne Kraft.
Meine Mutter besah sich unschlüssig ihre Hände, dann sah sie kurz zu mir, fahrig, gequält, aber sagte nichts.
»Ich habe ja keine Unterlagen«, murmelte sie. »Es ist alles weg. Meine Daten, alles.«
Ich wollte sie jetzt zurückbringen, den Schwestern und Pflegern übergeben und mein Leben leben, es war mein Recht, ich glaubte auch, dass sie — oder der Mensch, der sie eigentlich war, beziehungsweise der, den ich bis vor Kurzem noch gekannt hatte — das so wollte.
Zurück in der Station war der Essenswagen schon da, ein silberner Rollcontainer, der mir knapp bis zur Nase reichte und in den die Speisetabletts für jeden Patienten geschoben waren, das war mir ein willkommener Anlass, um mich davonzumachen. Ich führte meine Mutter in den Speisesaal, wo schon die anderen Kranken an den Tischen saßen. Obwohl meine Mutter seit sechs Wochen Patientin der Station war und sonst immer sehr schnell Bekannte gefunden hatte, grüßte sie niemanden und wurde von niemandem gegrüßt.
Vor dem Essen sollte eine aktivierende Übungseinheit stattfinden, eine Schwester hatte verschiedenfarbige Plastikrollen verteilt, die Patienten sollten damit bestimmte Bewegungen ausführen, sie mit beiden Händen über den Kopf heben oder von einer Hand in die andere wandern lassen. Einzelne Patienten dämmerten vor sich hin und betrachteten ihre Plastikrolle ausdruckslos oder gar nicht, andere wirkten vollkommen normal, und man fragte sich, warum sie an einem Programm auf diesem Niveau teilnahmen. Eine Greisin erschien zum Essen in Windeln und wurde wieder hinausgeführt. Der Mann mit der Schüttellähmung trommelte unfreiwillig mit seinem Besteck auf den Tisch.
»Ich will den Oberarzt sprechen, sofort«, tönte eine Stimme, als ich am Stationstresen nach jemandem Ausschau hielt, der mir die Tür öffnen könnte. Eine kurzhaarige Schwester mittleren Alters saß am Rechner, reagierte auch auf meine Blicke, bat per Handzeichen um eine Minute Zeit, ohne sich im Mindesten um den weißhaarigen, sicher über achtzigjährigen Mann zu kümmern, der lautstark um Beachtung warb.
»Ich muss sofort hinaus, mein Helikopter wartet.«
Er heftete sich an mich, ich konnte ihm nicht entkommen, denn ich wartete noch immer darauf, hinausgelassen zu werden. »Ich bin Unternehmer«, sagte der Mann und sah mich eindringlich an, er hatte schöne, klare blaue Augen, »auf mich warten Geschäfte.«
Ich erwiderte seinen Blick.
»Ich habe tausendvierhundert Angestellte. Das Hauptgeschäft ist in Kanada. Ich habe keine Zeit, es liegt ein Irrtum vor.«
»Ja«, sagte ich, »tut mir leid.«
»Undenkbar so was in der freien Wirtschaft. Der Oberarzt sitzt da hinten, in aller Ruhe.«
Ich sah mich um, und es stimmte. Im Personalraum hinter dem Tresen saß der leitende Arzt und arbeitete am Rechner.
»Ich habe Kosten durch diese Sache, das glaubt mir keiner.«
»Ja«, sagte ich.
»Mein Helikopter.«
»Es tut mir wirklich leid.«
Ein Vorgeschmack auf den Tod, dachte ich, diese Gleichheit in Umnachtung und Wahnsinn.