Über das Buch

»Wahrheit aufdecken und damit die Realität verbessern: bei großen Staatsaffären und auch bei den Nöten eines kleinen Bauern. Dass Klenk das Kleine nicht zu klein ist, macht ihn groß.« Robert Menasse
Begonnen hat es mit einer Beschimpfung. Christian Bachler, der den höchstgelegenen Bauernhof der Steiermark bewirtschaftet, schimpfte in einem Video aus dem Schweinestall über den »Oberbobo« Florian Klenk (Bobo = Ökospießer). Der Chefredakteur des Falter hatte zuvor ein Urteil gutgeheißen, das einen Bauern zu Schadenersatz verpflichtete, nachdem seine Kuh eine Frau getötet hatte. Bachler forderte Klenk auf, ein Praktikum auf seinem Hof zu machen, und der Bauer und der Bobo kamen ins Gespräch: über Klimawandel, Fleischindustrie, Agrarpolitik und Banken. Als Bachlers Hof Ende 2020 vor dem Ruin stand, fanden die beiden Freunde aus zwei Welten binnen 24 Stunden 12.829 Spender, die bereit waren, zu helfen. Warum es sich lohnt, mit Leuten zu reden, deren Meinung man nicht teilt.

Florian Klenk

Bauer und Bobo

Wie aus Wut Freundschaft wurde

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

Prolog

I »Das lassen wir nicht zu!«

II Eine TV-Show und ein Shitstorm

III Das Praktikum

IV Rückfahrt nach Wien

V Gespräch mit meinem Vater I

VI Der Falter

VII Gespräch mit meinem Vater II

VIII Meier denkt nach

IX Christian Bachler erzählt

X Ein Hof wird versteigert

XI Der Gerichtsakt

XII Die moderne Sklaverei

XIII Die Rettungsaktion

XIV Bachlers Not

Epilog

Danksagung

Für

Vroni, Anna und Leo

Prolog

»Komm, Bobo, stoßen wir an«

Als alles vorbei war, zückte Christian Bachler seine kleine Flasche angesetzten Lärchenschnaps. Er schüttete das rote süße Zeug in zwei kleine Plastikstamperl und reichte mir eines davon. »Komm, Bobo, stoßen wir an! Hoffentlich ist das nicht nur ein Traum«, sagte Bachler, und wäre der Corona-Irrsinn nicht gewesen, wir hätten uns vermutlich umarmt.

Ich erinnere mich, dass es saukalt war, dass mir trotz Schnaps vor Kälte alle Glieder zitterten und dass wir zum Stamperl zwei Packungen Mannerschnitten und eine Wurstsemmel verdrückt haben. So wie wir das oben am Berg gemacht haben, bei ihm zu Hause in der Steiermark, nach dem steilen und anstrengenden Aufstieg über die Lärchenwiesen hinauf zur Alm.

Bachler und ich standen jetzt aber auf keinem Gipfel, wir prosteten uns am Küniglberg zu, vor der Zentrale des Österreichischen Rundfunks, im noblen Wiener Bezirk Hietzing. Wir konnten es kaum fassen. 12.829 Menschen hatten 416.811 Euro und 25 Cent gespendet und Christian Bachlers Bergbauernhof gerettet. Und das innerhalb von etwas mehr als 48 Stunden.

Wir beide waren noch geschminkt im Gesicht, Bachler trug außerdem eine etwas gewagte Wollmütze mit der Aufschrift »Honk«. Die Talkmasterin Barbara Stöckl hatte uns bereits zum zweiten Mal in die nach ihr benannte Show geladen, ein bisschen hat sie uns wohl ins Herz geschlossen.

Dieses Mal trug Bachler aber nicht seinen steifen, schwarzen Trachtenanzug wie beim ersten Treffen, er war auch nicht mehr so frisch gekampelt und rasiert wie damals, sondern er hatte einen Kapuzenpullover mit der Aufschrift »Ackerdemiker mit Niveau« an. Unrasiert war er und so, wie er eigentlich immer schon sein wollte: frei.

Ursprünglich waren das die uns zugedachten Rollen: Bachler, der Wutbauer vom Land, und ich, der »Oberbobo« vom Falter, der feine Pinkel, der arrogante »Bourgeois Bohemian«, der von nichts eine Ahnung hat, schon gar nicht vom Leben auf dem Bergbauernhof, von seinem, Bachlers, Leben. Das wäre ihr wohl so recht gewesen.

Wir sind aber aus unseren Rollen ausgebrochen. Zwar kommen wir aus komplett verschiedenen Welten, aber aus solchen mit gleichen Werten. Zwei Typen, die sich im Internet via Facebook hätten bekriegen und mit Hass überschütten können, so wie es die Gesetzmäßigkeiten unserer gegenwärtigen gereizten Gesellschaft vorgeben. Wir hätten auch den digitalen Heugabelmob aufeinander loslassen können, unversöhnlich wären wir dann auseinandergegangen, hinter uns unsere Fans und Follower aus Stadt und Land. Wir hätten weitere Follower generiert und wären jeweils die Sieger in unserer Bubble gewesen.

Es kam aber ganz anders. Und deshalb froren wir uns in dieser eisigen Kälte die Finger ab, als wir beim Lärchenschnaps über unsere Displays scrollten. Bachler zeigte mir die Eingänge der Spenden auf seinem Paypal-Account, ungläubig immer wieder. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

Ich wiederum zeigte Bachler eine SMS von Andreas Gabalier, diesem steirischen Volks-Rock-’n’-Roller, der ausgerechnet mir dabei geholfen hatte, Bachler zu helfen. Gabalier, der mich vor Weihnachten 2019 in der Stadthalle vor seiner johlenden »Hulapalu«-Masse als Ochs beschimpft hatte, als dummes Rindvieh, das ihm noch in seiner Weihnachtskrippe fehle. Er tat das so, dass seine mit rot-weiß-rot karierten Hemden kostümierten Fans schon bedrohlich aufjaulten. Doch auch dieser Kulturkampf pausierte.

Weil ich nämlich für Menschen, die mich beschimpfen, öffentlich beschimpfen, ein gewisses Interesse aufbringe — und weil Gabalier 800.000 Facebook-Follower hat, fast so viel wie Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz —, habe ich ihn am Mobiltelefon angerufen, an diesem ersten Adventsonntagvormittag, mir war es wurscht.

»Hier spricht der Ochs«, stellte ich mich am Telefon vor, »wir brauchen Hilfe für einen jener Bauern, deren schöne Welt du gerne besingst.« Gabalier lachte, hörte zu und sagte, er werde ein Video aufnehmen. Er sei doch gar nicht so, wie »ihr Linke glaubt«. In Wahrheit vermutete ich das, denn er, der sehr früh seinen Vater und damit beinahe seine Existenz verloren hatte, war kein »Nazi«, wie der Spiegel einmal suggerierte. Sonst hätte er nicht der Flüchtlingsorganisation Hemayat gespendet. Er will halt das Olympiastadion füllen, und zwar viermal. Da braucht es für die Vermarktung eben ein bisschen reaktionären, antifeministischen Geist.

»Ich bin endlich freigeschlagen«, sagte Bachler also und kippte den scharfen Schnaps runter. Auch viele Leute aus seinem Dorf hätten ihm geholfen, erzählte er, obwohl ihn dort einige als Spinner sehen, mit seinen Yaks und Alpenschweinen, mit seinen verrückten Facebook-Videos. Aber viele meinen auch, man müsse sich mit diesem Sturschädel aus der Krakauhintermühlen wieder versöhnen. Und er möge jetzt auch einen Schritt hinunter ins Dorf tun und auf die anderen Bauern zugehen, denen er oft grob auf die Zehen gestiegen ist, nicht nur in seinen Facebook-Videos.

Mit so einem Facebook-Video hat auch unsere gemeinsame Geschichte begonnen, von der ich hier erzählen will, eine Geschichte, die mich verändert hat. Auf seiner Seite hatte er mich beschimpft und zum Gespött gemacht und das Ganze so verdammt gut inszeniert, dass es von einer Viertelmillion Leuten angeklickt wurde. Das war im Frühjahr 2019, das Video ging viral. Er stand da mit seiner Wollhaube und seinem Stallgewand im Verschlag seiner Mangalitza-Schweine, positionierte seine Handykamera und legte los gegen den »Oberfalter«, der von nichts eine Ahnung habe, schon gar nicht von der Almwirtschaft.

Fast eine Viertelstunde lang zog er über mich vom Leder, weil er sich über einen Auftritt von mir in einer Talkshow geärgert hatte. Dort hatte ich das sogenannte »Kuhurteil« gelobt, also die Verurteilung eines Bauern, der seine wildgewordenen Rinder nicht ordentlich beaufsichtigte. Einer Frau kostete das das Leben.

Weil aber Bachler in Wahrheit kein dumpfer Wutbauer ist, sondern ein gewitzter Kerl, hat er nach seinem Zornausbruch eine versöhnliche Geste gesetzt und mich zu einem Praktikum auf seinen Bergbauernhof eingeladen, damit ich endlich weiß, wovon ich da spreche. Mich, der ich ja »noch nie Existenzangst verspürt« hätte.

Ich gebe es zu: Das hat mich getroffen. Denn da hatte er recht. Ich komme aus einer anderen, aus einer wohlhabenden Welt. Ich komme aus der Stadt. Ich bin auf die Butterseite des Lebens gefallen. Bachlers Geist und sein Mut haben mich herausgefordert, und deshalb habe ich ihn sofort angerufen. »Gut«, hab ich gesagt, »dann komme ich zu Ihnen, Herr Bachler.« Seine Antwort: »Per Sie samma bei uns heroben nur mit die Oaschlecha.«

Drei Tage habe ich ihn dann auf der Alm begleitet und viel über Landwirtschaft, Fleischindustrie und Bauernbürokratie erfahren. Diese Zeit werde ich nie vergessen. Selten habe ich in so kurzer Zeit so viel gelernt, über die Agrarwirtschaft, den Klimawandel, aber auch über die gereizte digitale Gesellschaft. Und auch Bachler wird das Praktikum hoffentlich nicht vergessen. Denn aus seiner Wut ist Freundschaft geworden. Und unsere gemeinsame Freundschaft brachte Glück.

Auf der Alm mit Christian Bachler

Denn damals waren die Bank und ein paar Nachbarn bereits hinter seinem Hof und seinen Jagdgründen her. Bachler konnte seine Schulden nicht mehr bezahlen und steckte jahrelang den Kopf in den Sand. Und man kann sich vorstellen, wie das bei der bereits richterlich genehmigten Versteigerung im Gerichtssaal seiner Heimatgemeinde Murau ausgegangen wäre, hätten ihm nicht so viele Menschen geholfen. Bachler würde jetzt womöglich mit seinem übergewichtigen Cattle Dog Nessi in irgendeiner Murauer Notfallwohnung sitzen, seine Mutter, eine stolze Bäuerin, wäre ohne Ausgedinge. Seine Yaks, Schweine, Gänse, Truthähne, Hühner, Pferde und Rinder wären versteigert oder geschlachtet.

Das ist das Schicksal, das Tausende Bauernfamilien teilen, die von der industrialisierten Landwirtschaft überrollt werden, so wie einst die Handwerker am Beginn der Industrialisierung. Als Bachler gerettet war, haben sich Dutzende Bauern bei mir gemeldet und gefragt, ob ich auch ihnen helfen könne. Bauern, deren Almen zu Golfplätzen wurden, nachdem sie zwangsversteigert waren. Bauernkinder, deren Eltern sich erhängten und die vor Schulden standen.

Natürlich überforderte mich das. Ich kann die Welt nicht retten, schon gar nicht die Welt der Bauern. Ich kann keine Bewegung gründen, ich bin Journalist und kein Politiker oder Aktivist.

Aber ich kann aufschreiben, was mich angetrieben hat, einem Mann wie Bachler stundenlang zuzuhören und dann in meiner eigenen Familiengeschichte zu kramen. Zehntausende Bauern haben in den vergangenen fünfzig Jahren die bittere Erfahrung gemacht, dass die Fleischkonzerne, die Schlachthöfe, aber vor allem die Banken, meistens Raiffeisen, immer gewinnen.

Die Bank geht kein Risiko ein, wenn sie einem Bauern Geld leiht. Der Bauer hat zwar kein Geld, aber er hat Land, schönes Land. Bachler hat die schönsten Almen im Prebertal, dort wo früher Gold geschürft und Tabak geschmuggelt wurde und heute der Tourismus blüht. Die Bauern, sagt Bachler, sind Leibeigene der Bank geworden. Nur zahlen sie keinen Zehent, sondern 14 Prozent Überziehungszinsen und die Anwaltskosten.

Obwohl existenzielle Not über Bachler schwebte, erzählte er mir lange nichts von seiner Schuldenlast. Zu stolz war der Bergbauer, einen wie mich um Hilfe zu bitten. Doch als die Nachbarn merkten, dass der Journalist aus Wien wieder da war, morsten sie mich via Facebook-Messenger an, damit ich ihm helfe. Es sei ernst, der kräftig wirkende Bachler spreche immer wieder von einem »Strick«, sein Hof werde bald versteigert. Es werde dramatisch enden, Suizide seien nicht selten auf dem Land, wie ich von ihm später erfahren werde. Depressionen sind die neue Berufskrankheit der Bauern. Als Bachlers Hof wenige Monate später gerettet worden war, war das erste Dankeschön eine Spende im Wert von drei Ochsen an die Suizidberatung Steiermark.

Ich musste ihm meine Hilfe und die meiner Bekannten und Freunde wochenlang regelrecht aufdrängen. Bachler meldete sich tagelang nicht auf Anrufe. Er sei irgendwo auf der Alm, bei seinen Yaks, die er auf Willhaben kaufte. Langsam nur rückte er mit der ganzen Wahrheit heraus.

Wir alle hofften, in den vier Wochen bis Weihnachten 100.000 Euro zusammenzubringen. Es wurden viermal so viel in nur zwei Tagen. Hinter der Solidarität stand mehr als Mitleid mit einem in Not geratenen Bauern. Die Leute wollten nicht nur den einen Bergbauern retten. Ihre Spende transportierte auch den Wunsch nach einer Agrarwende, nach einer Abkehr von der Fleischindustrie mit ihren CO2-Gondeln zur Betäubung, wie man sie in der Corona-Zeit bei der Fleischfabrik Tönnies kennenlernte. Eine Sehnsucht nach einem Ende dieses Leids, das die industrialisierte Viehwirtschaft den Tieren zufügt, damit wir jeden Tag Fleisch essen können.

Es ist eine breite Allianz von Helfern geworden, die auch Respekt vor den Tieren zeigen wollten, der Kreatur, wenn man es biblisch zum Ausdruck bringen will. Als Bachler übrigens die Schulden für seinen Hof zusammenhatte, sperrte er sein Spendenkonto und nahm kein Geld mehr an, obwohl stündlich weiter tausend Euro eintrudelten, so viel, wie er sonst in einem Monat durch harte Arbeit verdient. Er wolle sich nicht »g’sundstessn«, sagte er. Er wolle nicht den »Bauer als Millionär« spielen. Sondern einfach nur »freigeschlagen« werden von der Bank. Bachler behielt seine Würde.

Wer ist dieser Mann überhaupt? Wo und wie lebt er? Und was kann er mir und uns allen aus seiner untergehenden bäuerlichen Welt erzählen? Kann man einen wie ihn und seine Vision einer ökologischen Landwirtschaft überhaupt noch retten? Und warum sollten wir das in unser aller Interesse tun? Davon handelt dieses Buch. Es handelt aber auch von meiner eigenen Familiengeschichte, vom Leben meines Vaters, der in einem Bauerndorf aufwuchs.

Es ist eine Recherche über das Leben eines Bergbauern im Jahr 2021. Über seine harte Kindheit, die Liebe zur Alm, seinen Hof, seinen Betrieb, seine Wurzeln, seine Alpenschweine und Rinder und sein Geschäft mit den Touristen, die in Österreich manchmal von Kühen auf Almen getötet werden — und dafür Hohn und Spott ernten.

So hatte diese Geschichte begonnen — mit einer verrückten Mutterkuh im fernen Tiroler Pinnistal. Und mit viel Spott für eine menschliche Mutter, die von diesem Rindvieh getötet wurde.

Ein Tiroler Bauer wurde zu einer Schadenersatzzahlung verurteilt, weil sein Vieh einen Menschen tötete. Die Lobbyisten dieses Bauern und fast alle Politiker fanden das ungerecht. Deshalb wetterten sie gegen die aus ihrer Sicht abgehobene Richterschaft in Innsbruck und machten eine Staatsaffäre daraus. Das interessierte mich. Ich verstehe zwar nichts von Landwirtschaft, aber dafür ein bisschen was von Juristerei und Politik. Und hier stand die unabhängige Gerichtsbarkeit auf einmal unter massivem Druck einer Lobby, der Bauernlobby.

I

»Das lassen wir nicht zu!«

Ein »Kuhurteil« spaltet die Alpenrepublik

Dass ich geschminkt und frierend vor dem ORF-Zentrum in Wien mit einem Bergbauern auf die Rettung eines steirischen Hofes anstoßen würde, noch dazu mit Hilfe eines Schlagersängers, der mich vor einem Massenpublikum beschimpft hatte, das habe ich im Winter 2019 natürlich nicht ahnen können. Aber dass es Wirbel geben könnte mit den Bauern und ihren Lobbyisten, das war mir klar, darauf hatte ich es auch ein bisschen angelegt. Ich suche nicht ungern den Streit, ich bin Jurist.

Ich ärgerte mich über einige Bauern und ihre Vertreter und verstand ihren Hohn gegenüber jener deutschen Touristin nicht, die nichts anderes getan hatte, als im Jahr 2014 auf einem öffentlichen Weg zu wandern, mit ihrem Hund an der Leine, so wie Hunderttausende andere Touristen auch. Sie bezahlte mit ihrem Leben. Weil ein Bauer nicht aufpasste. Und dann wurde die 44 Jahre alte Mutter noch als Piefke-Trampel verhöhnt.

Zum ersten Mal hatte ich 2019 von diesem Fall gehört. Meine beherzte Schwiegermutter, verheiratet mit einem pensionierten Landwirtschaftskammerfunktionär und Kolumnisten der Bauernzeitung aus Tirol, hielt mir damals einen Artikel der Tiroler Tageszeitung unter die Nase.

Sie war irritiert von der Justiz, ein Wahnsinn sei dieses Urteil für die Bauernschaft, die seit Jahrhunderten währende Almwirtschaft stünde auf dem Spiel, der Bauer womöglich bald im Kriminal. Was ich denn zu dem Urteil sage, fragte sie mich.

»Ich finde es richtig«, antwortete ich kurz und bündig, zuckte mit den Schultern und stellte eine Gegenfrage: »Findest du, dass das Waisenkind und der Witwer für die Traumatherapie, die Beerdigung und das Trauerschmerzensgeld aufkommen sollen? Oder die Versicherung des Bauern, dessen wildgewordene Kuh eine Touristin zertrampelte?« Die Schwiegermutter gab mir zwar nicht recht, aber ich hatte sie verunsichert.

Anscheinend dachte das ganze Land so wie sie. Nicht nur Tirol war außer sich, und die ranghöchsten Politiker rückten gegen die vermeintlich ahnungslosen Richter des Landesgerichts Innsbruck aus. Allen voran schritt der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter, ein gelernter Gendarm, der einst der mächtige Innenminister der Republik gewesen war.

Er stehe »ganz klar und unmissverständlich« auf der Seite der Bauern und nicht auf Seiten dieser »deutschen Touristin«, beruhigte er in einer Pressekonferenz sein Volk. Immerzu wurde die Herkunft der Toten betont, so als sei sie ein Beleg für besonders dummes Verhalten auf der Alm. Platter, der Landesfürst, wie man hierzulande einen Landeshauptmann noch immer nennt, hoffte, »dass die Berufung Erfolg haben wird«. Sein Stellvertreter, zugleich Obmann des Bauernbundes der in Tirol seit Jahrzehnten regierenden Österreichischen Volkspartei (ÖVP), sprach gar von einer »Katastrophe für die Alm- und Weidewirtschaft«, die »bereits für den heurigen Almsommer« schlagend würde. Und der Obmann des ÖVP-Wirtschaftsbundes sah ein »Urteil mit fatalen Konsequenzen, weit über die gesamte alpine Landwirtschaft hinaus«.

Wenn Bauernbund und Wirtschaftsbund protestieren, musste in Tirol natürlich auch ein Präsident einer Kammer etwas sagen. Der Präsident der Tiroler Landwirtschaftskammer rückte aus und gestand, er habe »sehr schlecht geschlafen«, denn den Umstand, »dass Bauern und ihre Familien um Hab und Gut gebracht werden, lassen wir nicht zu«. Er wisse dabei das ganze Land hinter sich. Dass der Bauer versichert war, ließ der Kümmerer von der Kammer unter den Tisch fallen. Sogar die Grünen, in Tirol Teil der Landesregierung, stimmten in den Chor der Verdammnis mit ein. Deren Landwirtschaftssprecher sagte, das Urteil verstoße »gegen jede Vernunft und Lebensrealität im alpinen Raum«.

So als sei Wandern auf öffentlichen Wegen keine Lebensrealität.

Bünde, Kammer, Politiker, Zeitungsleute: Es wurde ordentlich Druck ausgeübt auf die Justiz im sogenannten heiligen Land Tirol, Druck auf das Landesgericht Innsbruck, Druck auf die unabhängige Rechtsprechung.

Ein Richter hatte offenbar ein Sakrileg begangen und sich mit der Bauernschaft angelegt. Er hatte einen Landwirt — und in Wahrheit dessen Haftpflichtversicherung — zivilrechtlich verurteilt, weil dessen Kuh eine Frau niedergestoßen, ihr dann Lungen und Herz zerquetscht und fast alle Rippen gebrochen hat. Sie starb noch auf der Alm.

Die Tiroler Politik war damals von einer Sache überzeugt: Die »Eigenverantwortung« trägt einzig und allein die Touristin, die mit ihrem angeleinten Hund im Stubaital wandern wollte. Der Bauer, der seine Tiere nicht ordentlich verwahrte, weil er sich ein paar hundert Euro für einen Weidezaun sparte, der den öffentlichen Wanderweg von seiner Weide hätte trennen können, war das Opfer einer offenbar von allen guten Geistern verlassenen, weltfremden Gerichtsbarkeit, die nicht nur die Tradition der Almwirtschaft gefährde, sondern den gesamten Bauernstand. Die Bauernvertreter und der Landeshauptmann stilisierten den Fall zu einer regelrechten Staatsaffäre: hier die Touristen, die in die Almen der Bauern einfallen und dort das Vieh mit ihren Hunden aufscheuchen; und da die Bauern, die um ihre Existenz bangen, weil sie jetzt österreichweit zweitausend Almen absichern und 180.000 Rinder einhegen müssen.

Doch so einfach war die Sache nicht. Der Fall lag komplizierter. Ich las mir den sowohl inhaltlich als auch sprachlich exzellent formulierten Richterspruch in Ruhe durch. Was also war dort wirklich geschehen? Der Tiroler Richter hat es in seinem verständlichen Urteil auf 104 Seiten zusammengefasst. Das Urteil war damals noch nicht öffentlich, weil es nicht rechtskräftig war, wie die Medienstelle des Gerichts mitteilte. Aber über Anwälte des Verfahrens konnte ich es einsehen, es erzählte die ganze Geschichte.

Die Pinnisalm im Stubaital ist ein idyllisches Fleckchen. Hier laufen Wanderrouten zusammen, fast alle münden in den Pinnisweg, eine Gemeindestraße, ein öffentlicher Weg. Der Steuerzahler finanziert und schottert die Straße, die Gemeinde sichert sie und versichert all die Radfahrer, die hier gerne durchfahren.

Achtzig Autos passieren sie am Tag und durchschnittlich 140 Wanderer, das haben Gutachter gezählt. Beim beliebten Almsingen, einem Volksfest in der Gegend, kommen gar 1600 Menschen auf die Alm, wusste der Richter zu berichten. Es ist also recht viel los. »Der Unfallbereich«, so schreibt der Richter, ist nicht irgendeine entlegene Alm, sondern »der am stärksten von Wanderern und Radfahrern und Fahrzeugen frequentierte Bereich.« Nicht nur Menschen tummeln sich hier, sondern eben auch Kühe. Die Kühe des Beklagten, den wir hier Josef K. nennen.

Entlang des Pinniswegs hat Josef K. daher Schilder angebracht. »Achtung Weidevieh! Halten Sie unbedingt Distanz! Mutterkühe schützen ihre Kälber. Betreten und Mitführen von Hunden nur auf eigene Gefahr!« Er glaubte, damit sei der Sorgfalt Genüge getan. Aber dem war nicht so. Wer damals den Pinnisweg betrat, ahnte in Wahrheit nichts von der Gefahr, die hier lauerte.

Die Rinder der Rasse Tiroler Grauvieh sehen nämlich niedlich aus. Rinder sind genau genommen »Fluchttiere«, meistens. Wir kennen das, als Wanderer. Meistens laufen sie weg. Im Umgang mit Grauvieh, so wird ein Sachverständiger aussagen, sind allerdings »Respekt und Sachverstand gefragt«, zumal wenn es in »Mutterkuhhaltung« gehalten wird. Die Kühe haben bei dieser sanften Form der Milchwirtschaft die Kälber bei sich. Und manche Kühe reagieren deshalb besonders gereizt, der Mutterinstinkt macht sie aggressiv.

Hunde etwa haben die Kühe in ihren Synapsen als angreifende Wölfe abgespeichert. Wenn einer in ihr Revier eindringt, ergreifen die Paarhufer meist die Flucht — aber im Flachland formieren sie sich auch gerne zum Angriff. Innerhalb weniger Sekunden kann das Grauvieh auf bis zu dreißig Stundenkilometer beschleunigen. Wie eine Panzerkompanie walzt es dann alles nieder, was nicht schnell genug davonlaufen kann. Etwa Menschen wie Maria K., das spätere Opfer.

Heute gibt es entlang des Pinnisweges längst einen elektrischen Weidezaun, der die Alm von der öffentlichen und von Touristen genutzten Straße trennt und auch Maria K.s Leben hätte retten können. Rund zweihundert Euro kostete er, wie das Gericht feststellte. Er schützt die vielen Ausflügler vor den leicht reizbaren Mutterkühen.