Bayerisches Staatsballett 20 — 21
C: A. Kaydanovskiy
M: L. Dangel
SD: F. Trawöger, A. Landsmann, L. Dangel
B: K. Hogl
K: A. Arbesser
L: C. Kass
D: S. Honegger
Bayerisches Staatsballett
Bayerisches Staatsorchester
Uraufführung am 17.04.21 im Nationaltheater München unter der musikalischen Leitung von Gavin Sutherland
Familienbild I
Marja, ihre wohlhabenden Eltern, die Zofe und der Knecht versuchen, ein gelingendes Familienbild abzugeben. Marja hält dabei eine Schneekugel in der Hand, in der sie es immer wieder mal stürmen lässt. Dieses Objekt befindet sich seit Generationen in der Familie und bedeutet Marja sehr viel.
Der Ball
Marja empfindet die Verhältnisse am ganzen Ort beengend. Weder kann sie sich für den Ball begeistern, zu dem die Eltern eingeladen haben, noch will sie etwas von den drei Verehrern wissen, die um ihre Hand werben.
Das Liebespaar
Marja hat ihr Herz bereits Vladimir geschenkt, der aus einer ärmeren Familie in der Gegend stammt. Er hat in ihr Vorstellungen einer großen romantischen Liebe und Ideen eines Lebens außerhalb der bekannten Bahnen geweckt. Da sich Marjas Eltern nicht für Vladimir begeistern können, fasst das junge Liebespaar den Plan, heimlich zu heiraten und durchzubrennen. Die Anwesenheit Vladimirs ist dem Vater von Marja nicht geheuer. Er spediert ihn aus dem Haus.
Der Albtraum
In der Nacht bevor der Plan in die Tat umgesetzt werden soll, wird Marja von Albträumen heimgesucht. Darin kommen ihre Zweifel und Ängste über das Bevorstehende zum Ausdruck.
Familienbild II
Am nächsten Morgen ist Marja völlig erschöpft und vermag sich nur mit Mühe in die Familienordnung einzufügen. Derweil schreitet Vladimir mit der Organisation der Hochzeit unbeirrt voran und weiht die notwendigen Leute in den Plan ein. Den beiden zwielichtigen Kerzenträgern kauft er die Hochzeitsringe ab, mit dem Priester klärt er den Ablauf der Trauung und übergibt ihm die Ringe. Zudem klärt er die Zofe und den Knecht über das Vorhaben auf. Mit Vladimir hat Marja vereinbart, dass sie zuerst ein Unwohlsein vortäuschen, sich dann auf ihr Zimmer begeben und später auf den Weg zur Kirche machen soll. Dort will Vladimir auf sie warten.
Die Flucht
Als die Zeit gekommen ist, bricht Marja mit der Zofe und dem Knecht zur Kirche auf. Marja nimmt im letzten Moment auch noch ihre Schneekugel mit, die sie an die Familie und das Haus erinnert, das sie jetzt für immer zu verlassen gedenkt. Als die drei aus der Türe treten, wütet draußen ein gewaltiger Schneesturm.
Der Schneesturm
Vladimir ist ebenfalls vom Schneesturm erfasst worden und kämpft gegen die ungeheuren Kräfte an. Eine weitere Figur, die durch das Gestöber irrt, ist der Husar Burmin. Er kommt im Verlauf des Sturms per Zufall an der Kirche vorüber, in der die Hochzeit von Marja und Vladimir stattfinden soll. Die Kerzenträger erspähen Burmin und ziehen ihn in die Kirche hinein. Als Vladimir endlich am Ort ankommt, findet er die Türe des Gotteshauses verschlossen und bricht vor Verzweiflung und Erschöpfung zusammen. Ein Soldatentrupp, der in den Krieg zieht, quert die Bühne.
Familienbild III
Zurück in Marjas Elternhaus ist ein neuer Tag angebrochen. Was in
der Zwischenzeit geschehen ist, bleibt im Dunkeln. Die komplett
erschöpfte Marja kommt aus ihrem Zimmer. Die Zofe nimmt ihr
Hochzeitsschleier und Ring ab. Letzteren steckt sie in Marjas
Kleid, damit die Eltern keinen Argwohn schöpfen. Aus Verzweiflung,
dass Marja nicht auf ihn gewartet hat, hat sich Vladimir dazu
entschieden, als Soldat ins Militär einzutreten. Er verabschiedet
sich von seinen Eltern. Derweil sind Marjas Eltern in großer Sorge
um den Zustand ihrer Tochter, die einen Zusammenbruch erleidet. Die
Eltern hoffen auf Besserung, wenn sie der Verbindung zwischen Marja
und Vladimir zustimmen. Als sie den Gang zu Vladimirs Eltern
antreten, um ihr Einverständnis zur Hochzeit zu geben, werden sie
Zeugen einer niederschmetternden Nachricht. Vom Priester wird
Vladimirs Eltern die Nachricht überbracht, dass ihr Sohn im Krieg
gefallen sei.
Familienbild IV
Es ist einige Zeit vergangen. Der Krieg ist vorüber, Marjas Familie
verarmt und der Vater gestorben. Zofe und Knecht haben ihre
früheren Arbeitgeber verlassen. Sie sind nun im Auftrag einer
staatlichen Amtsstelle für Pfändungen zuständig. In dieser Funktion
kommen sie bei Marja und ihrer Mutter vorbei. Letzterer gelingt es,
noch einige wenige Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen, um sie
nicht verpfänden zu müssen.
Das Kriegsende
Als die Soldaten aus dem Krieg heimkehren, wird ein Fest gefeiert. Unter den Kriegsrückkehrern befinden sich auch Burmin und sein traumatisierter Kumpan Belkin. Marja sitzt etwas abseits und empfindet die furchtbare Leere, die Vladimirs Tod hinterlassen hat. Auf dem Fest trifft sie mit Burmin zusammen. Sofort entsteht eine starke Anziehung zwischen den Beiden. Allerdings realisiert Burmin wenig später, dass er ja einen Hochzeitsring trägt und Marja denken könnte, dass er als verheirateter Mann seine Frau betrügt. Belkin inszeniert derweil mit drei Kriegsversehrten ein groteskes Stück auf einer kleinen Bühne. Davon zeigt sich das Publikum dermaßen irritiert, dass es nach Hause geht und sich das Fest auflöst.
Der Ring
Nachdem die Leute gegangen sind, versucht Burmin mit der Hilfe von
Belkin den Ring loszuwerden, was aber nicht gelingt. Er entscheidet
sich dazu, trotzdem zu Marja zu gehen, um ihr von seiner
Vorgeschichte zu berichten und um ihr Verständnis zu bitten. Denn
er ist bereits verheiratet. Dies geschah aber aus Leichtsinn und
mit einer Frau, die er nur einmal im Leben gesehen hat.
Die Kettenreaktion
Über Belkin verbreitet sich die Kunde von Burmins Ansinnen, mit
Marja sprechen zu wollen, in der ganzen Dorfgemeinschaft. Dabei
verändert sich die Mitteilung und erreicht Marja mit der klaren
Botschaft, dass Burmin in Marja verliebt sei und ihr einen
Heiratsantrag machen wolle. Sie ist überglücklich und voller
Hoffnung.
Das Kleid
Sofort macht Marja sich mit der Unterstützung der Dorfgemeinschaft
auf die Suche nach einer passenden Garderobe. Sie findet das alte
Hochzeitskleid, in dem sie vor Jahren Vladimir heiraten wollte, und
das mit schönen und schmerzlichen Erinnerungen verbunden ist. Die
Dorfgemeinschaft ist bereits in großer Aufregung und hat sich an
die Vorbereitungen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten gemacht.
Das Gespräch
Burmin sucht Marja auf, um mit ihr die geplante Unterredung zu
führen. Als er Marja seine Hand mit dem Ring zeigt und sie damit
wissen lässt, dass er bereits verheiratet sei, trifft sie diese
Mitteilung wie ein Schlag. Marja verpasst Burmin eine schallende
Ohrfeige.
Die Rückblende
Der Schlag löst eine Rückblende aus, in der die vergangenen Ereignisse während des Schneesturms vorüberziehen, als Marja plante, Vladimir zu heiraten. Dabei wird auch jenes Geschehen in der Kirche gezeigt, welches der erste Akt offen gelassen hatte. So verwechselten alle Anwesenden in der Kirche Burmin mit Vladimir. Dies wurde begünstigt durch eine fatale Gemengelage aus; Schneesturm, langem Warten auf Vladimir, gebotener Eile und schwacher Kerzenbeleuchtung in der Kirche. Die Kerzenträger stellten Burmin als Bräutigam neben Marja. Der Priester setzte alles daran, die Zeremonie zu Ende zu bringen und überreichte die Ringe. Alle konzentrierten sich auf den Kuss. In diesem Moment erkannte Marja, dass es sich beim Bräutigam nicht um Vladimir, sondern um einen fremden Mann handelt. Mit letzter Kraft ohrfeigte sie den falschen Bräutigam. Damit endet die Rückblende.
Das Ende …
Marja greift in die Tasche ihres Kleides und findet den Ring, den
die Zofe dort verwahrte. Sie realisiert, dass es Burmin war, den
sie damals heiratete. Der falsche Bräutigam stellt sich als der
richtige heraus. Die beiden tanzen einen innigen Pas de deux. Sie
glauben zu erkennen, wie die Macht des Schicksals die Fäden spinnt,
und wiegen sich in der Sicherheit erlangter Kontrolle. Der erfüllte
Moment erfährt eine Unterbrechung, als Belkin seinen Freund Burmin
vor die Türe ruft. Marja erinnert sich an ihre Eltern, ihr Haus und
die frühere Ordnung. Sie greift zur Schneekugel und schüttelt sie
gedankenverloren. Da überkommt sie plötzlich eine böse Ahnung.
Marja rennt zur Türe, öffnet sie und sieht draußen das Wüten eines
gewaltigen Schneesturms.
Andrey Kaydanovskiy bin ich vor einigen Jahren in Russland
begegnet, als er in seiner Karriere am Übergang vom Tänzer zum
Choreographen stand. Ich war von seiner choreographischen Arbeit
sofort begeistert. Sie ist äußerst kreativ, zeichnet sich durch
eine mitreißende Energie sowie eine große Musikalität aus und
stellt den Tänzerinnen und Tänzern komplexe Aufgaben. Sein Ballett
Der Schneesturm nach der kurzen Erzählung von Alexander
Puschkin lässt sich als ein neuer und ganz besonderer Baustein in
der erfolgreichen Tradition des Handlungsballetts begreifen, wofür
das Bayerische Staatsballett mit Werken von Frederick Ashton, John
Cranko, John Neumeier, Christian Spuck oder Christopher Wheeldon
seit vielen Jahren bekannt ist.
Wenn einem Choreographen wie Andrey Kaydanovskiy die Gabe gegeben
ist, Geschichten zu erzählen, vermag er nicht nur verschiedene
Szenen einer Handlung auf geschickte Weise zu verknüpfen, sondern
auch Werte zu vermitteln. Werte dienen uns zur Orientierung, damit
wir uns durch das Leben navigieren und die Welt begreifen können.
In Der Schneesturm tauchen diese wichtigen
Orientierungspunkte in ganz verschiedenen Konstellationen auf. Wir
finden sie in der Vorstellung eines feststehenden Heims, in den
verschiedenen Familienbildern, in den musikalischen Zitaten, in den
unterschiedlichen Kostümen und ganz besonders in den Begegnungen
zwischen den Figuren.
Das Genie von Alexander Puschkin besteht darin, dass er uns auf
poetische Weise zeigt, dass diese Werte fluid sind, dass das
Ordnungsgefüge kein feststehendes ist, sondern sich in einer
stetigen Bewegung befindet, die wir als Individuen nur sehr bedingt
zu steuern vermögen. Immer wieder gilt es, unseren Platz in einer
Wirklichkeit zu definieren, die wir nie ganz erfassen können. Das
Faszinierende an einem Handlungsballett wie Der Schneesturm
besteht darin, dass es uns erlaubt, für die Dauer einer
Theatervorstellung Ordnung und Unordnung gleichzeitig wahrzunehmen
und damit eine Form von Übersicht zu gewinnen.
Auf der Grundlage der sehr dichten und an Handlung reichen
Erzählung ist es Andrey Kaydanovskiy mit seinem künstlerischen Team
gelungen, eine adäquate Struktur für das Ballett zu schaffen. Das
Mehrdeutige und Spannungsreiche der literarischen Vorlage wurde
beibehalten. Damit können wir im Publikum nicht nur dem Spiel von
Kreation und Zerstörung aus sicherer Distanz beiwohnen, sondern uns
gleichzeitig fragen, ob wir unser Heim gefunden haben oder uns im
Sturm befinden. Beides gehört für mich zur Fülle unseres Daseins
dazu.
LD: Lorenz Dangel
SH: Serge Honegger
SH Mit Andrey Kaydanovskiy standest du in einem sehr engen
Austausch beim Erarbeiten der Partitur. Wie hat man sich diese
Zusammenarbeit genau vorzustellen?
LD Die große Frage beim Ballett ist ja immer, wer zuerst da
ist, der Komponist oder der Choreograph. Es gibt viele Fälle, wo es
so läuft, dass da jemand eine Musik schreibt, der Choreograph dann
die Musik bekommt und anfängt, darauf zu choreographieren. Und das
war bei uns schon sehr anders. Es war ein intensiver Prozess, in
dem ich die Mikrostruktur der Szenen bei Andrey ganz genau
abgefragt habe, um zu verstehen, was im Verlauf der Bühnenhandlung
passieren soll. Das reichte bis hin zu schnöden Sekundenangaben. So
habe ich Andrey beispielsweise gefragt, wieviel Zeit eine Figur für
einen Gang von da bis dort benötigt, oder wie lange der Pas de deux
sein soll. Das ist aber etwas, das ich aus der Filmmusik kenne.
Gleichzeitig musste ich immer darauf Acht geben, dass die einzelnen
Teile im größeren Bogen dramaturgisch Sinn machen. Dieses Einbinden
der vertikalen Struktur aus choreographischen Momenten in das
Horizontale des musikalischen Verlaufs war eine große
Herausforderung. Dieses Austarieren und Zusammenhalten von
Einzelaspekten nahm viel Raum ein in unseren Gesprächen.
SH Gibt es bestimmte wiederkehrende Elemente, mit denen du
diesen musikalischen Bogen konstruiert hast?
LD