Über das Buch

Barbara Honigmann über Literatur, das Leben und jüdische Identität

Barbara Honigmann ist eine Klasse für sich: Ob sie von einer lebhaften Begegnung mit einem jüdischen Geschäftsmann im Flugzeug nach New York erzählt, die in der Frage gipfelt: Worüber reden eigentlich Gojim? Oder ob sie davon berichtet, wie sie als Vierzehnjährige in Ost-Berlin den Existentialismus für sich entdeckte. Immer tut sie es mit ihrem feinen Sinn für Komik, und wenn nötig, offen und direkt. Ihr Lebensweg führte sie aus der DDR in den Westen, von Deutschland nach Frankreich, aus der Assimilation in das Tora-Judentum. Im ganz wörtlichen Sinn ist sie ›unverschämt jüdisch‹ und schreibt darüber so persönlich, humorvoll und lebensklug, wie nur sie es kann.

Barbara Honigmann

Unverschämt jüdisch

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Vorbemerkung

I

Worüber reden eigentlich Gojim?

Abends in die Iphigenie

Jüdisches Schicksal?

Wie viel Charakter braucht der Künstler?

Jakob Wassermann — sein Weg als Deutscher und Jude

Bücher haben ihre Schicksale

II

Kafka und Proust — Schriftsteller und Jude sein in Zeiten der Assimilation

III

Andenken an Anna Weil

Höhen und Tiefen

Ein italienischer Literaturpreis für ein deutsches Buch

Der zerrissene Brief

Das andere 1968

Das Problem mit der Kopfbedeckung

Paralipomena zu den Bremer Stadtmusikanten

Erinnerung und Erzählung

Vorbemerkung

Mit wenigen Ausnahmen sind die in diesem Band versammelten Texte auf besondere Anlässe hin geschrieben, freudige Anlässe, bei denen ich nämlich Literaturpreise entgegennehmen durfte. Die Entgegennahme eines Preises ist ja immer mit einer Reise an den Ort der Preisverleihung verbunden, der damit wiederum die Herkunft eines Dichters oder einer Dichterin ehren will, Zürich, Fürth, Alzey oder einfach der Sitz der Stiftung ist, die den Preis verleiht, oder ihr auch durch den Ort eine symbolische Bedeutung geben will, wie der deutsch-italienische Literaturpreis, der in Südtirol verliehen wird. So bin ich ziemlich weit herumgekommen in Deutschland und der Schweiz, in Gegenden, die ich vorher nicht kannte, und sogar bis nach Amerika, und wurde dadurch jeweils angeregt, mich auf den Ort und den Namensgeber des Preises tiefer einzulassen, als ich es vielleicht sonst getan hätte.

Zu dem Titel »Unverschämt jüdisch« für diese Sammlung hat mich die sehr freie Übersetzung des Begriffs juif inauthentique mit »der verschämte Jude« angeregt, die ich in der deutschen Ausgabe der »Betrachtungen zur Judenfrage« von Jean-Paul Sartre fand. Das Bändchen war 1963 als Taschenbuch bei Ullstein erschienen, irgendein Freund hatte es damals für uns über die Grenze nach Ostberlin geschmuggelt, und auf das Vorsatzblatt hat meine Mutter in ihrer wilden Schrift unseren Namen eingeschrieben. Es steht noch heute, wenn auch im wörtlichen Sinn völlig aus dem Leim gegangen, in meiner Bibliothek, neben dem viel später erworbenen französischen Original, durch das mir dann diese besonders freie Übersetzung überhaupt erst zu Bewusstsein kam. »Un-verschämt jüdisch« trifft nun genau den Kern, denn wahrscheinlich ringe ich seit meiner Lektüre dieses Buches als 14-Jährige damit, mein Judentum, in das ich hineingeboren wurde, un-verschämt zu leben und schließlich, erwachsen geworden, auch so davon zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben.

Einmal wurde ich nach einer Lesung, ich weiß noch genau, es war in Hannover, in der anschließenden Diskussion gefragt, ob ich mir vorstellen könne, das Jüdische auch einmal aus meinem Kopf herauszukriegen. Ich antwortete verlegen, verschämt, rechtfertigte mich, sülzte herum, und als ich es am nächsten Tag meinem Mann erzählte, fragte er, warum ich nicht einfach deutlich gesagt hätte, nein, das kann ich mir nicht vorstellen.

»Wir können gar nicht nachdrücklich genug von den Juden als Juden sprechen, wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen sprechen.«*1

I

Worüber reden eigentlich Gojim?

Zum Koret Jewish Book Award 2004, New York

Weil der Mann, der auf dem Flug nach New York neben mir saß, meinem Vater so ähnlich sah, ging ich davon aus, dass er jüdisch sei, und in der Art sprach ich mit ihm, bis er es mir bestätigte und ich ihm sagen konnte, das hätte ich mir schon gedacht und dass ich auch jüdisch sei, und er sagte, das habe er sich auch schon gedacht. Wir kamen also in unserem Gespräch schnell vom Wetter auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Da wir uns sympathisch waren und uns möglichst nicht gleich verkrachen wollten, schließlich hatten wir noch acht Stunden gemeinsamen Flug vor uns, brachten wir unsere Meinungen zu dem Thema zunächst vorsichtig vor. Es stellte sich aber glücklicherweise heraus, dass wir ähnliche politische Vorstellungen hatten, und so verbrachten wir die Zeit bis zum Lunch mit dem Entwerfen verschiedener Friedensinitiativen.

Als ich dann, während er sein Air-France-Menü verspeiste, mein in viele Schichten eingewickeltes und eingeschweißtes, vom Pariser Beth Din für koscher erklärtes Essen aß, wendete sich unser Gespräch auf natürlichem Wege mehr religiösen Themen zu. Er erklärte mir seine liberale, ja, wie er sich ausdrückte, »freie« Auffassung der jüdischen Religion und des Judentums, wir sprachen englisch, aber er sagte »frei« auf Deutsch, dieses Wort hat sich so im Jiddischen erhalten; und ich erklärte ihm meine Gründe für eine Annäherung an die strengere Auffassung, und dann wünschten wir uns guten Appetit und versicherten uns der gegenseitigen Toleranz. Schließlich: Kol Israel Chawerim! Alle Juden sind einander Gefährten! Wenn es bloß auch jenseits unserer Zufallsbegegnung so wäre!

Dann erzählten wir uns unsere Lebensgeschichten, unsere eigenen und die unserer Eltern und Ehepartner und deren Eltern, die alle ziemlich ähnlich klangen. Mein Nachbar war ein echter New Yorker, aber seine Eltern waren aus Polen eingewandert und hatten mit einem gutgehenden Lederwarenhandel reüssiert, den er geerbt, aber nun verkauft hatte, jetzt lebte er in der Nähe von Florenz, das war schon immer sein Traum gewesen. Ich zeigte ihm daraufhin meine Longchamps-Handtasche, die mir meine Freundinnen zu meinem letzten runden Geburtstag geschenkt hatten, immerhin haben fünf erwachsene Frauen zusammengelegt, um sie in der schicken Longchamps-Boutique zu erwerben. Aber er warf nur einen kurzen mitleidigen Blick auf die Tasche. Nun ja, er verstehe, dass sie einen emotionalen Wert für mich habe, aber ansonsten gebe es nur dort, wo er jetzt wohne, in der Nähe von Florenz, noch wirkliches Leder-Kunsthandwerk. Mit einem dieser florentinischen Taschen- und Kofferkünstler habe er sich eng befreundet, deshalb sei er auch dorthin gezogen, in einen kleinen Ort direkt am Arno. New York vermisse er nicht.

Ich erzählte von den Lebensstationen meiner Eltern, wie sie die Nazizeit überlebt hatten, wohin sie ausgewandert und dass sie nach dem Krieg wieder zurück nach Deutschland gekommen waren, worüber er sich sehr wunderte, really?, und wie ich selbst später von Berlin nach Frankreich ausgewandert bin. Da waren wir bei der Situation der Juden in Frankreich angelangt. Gibt es einen neuen Antisemitismus in Europa, fragten wir uns. Und wie sieht es in den USA aus? Sie sind auch nicht davor geschützt, o nein, waren es nie. Der Antijudaismus ist so alt wie die Geschichte der Juden, hat sie immer begleitet, immer aus anderen Gründen oder vielmehr aus immer denselben, wie viele Bücher darüber schon geschrieben wurden. Aber eigentlich mögen wir uns nicht für den Antisemitismus interessieren, das ist doch nicht unser Problem, es ist ihr Problem. Ja, klar, darin stimmten wir völlig überein.

Und da setzte das Flugzeug auch schon zur Landung an; während unserer Gespräche war die Zeit buchstäblich im Fluge vergangen.

Vor der Passkontrolle trennten sich unsere Wege, denn er ging bei den US-Citizens durch, während ich mich in die Schlange der Non-US-Citizens einreihte. Wir verabschiedeten uns, wir bedankten uns gegenseitig für die angenehme Begleitung.

Es blieb uns nur noch eine einzige Frage: Worüber reden eigentlich Gojim?

Abends in die Iphigenie

Zum Max-Frisch-Preis 2011, Zürich

Im November 1947 reist Max Frisch schon zum zweiten Mal nach Kriegsende nach Deutschland. Nun betritt er zum ersten Mal Berlin und notiert in sein Tagebuch: »Kurt kauft eine kleine Skizze von Liebermann. Ferner gäbe es drei Täßlein aus Meißner Porzellan, einen Aschenbecher aus Messing und vieles andere, was man sonst nicht braucht.«

Das klingt erst einmal nicht so aufregend, Schwarzmarktatmosphäre eben, wenn nicht genau diese »Täßlein« aus Meißner Porzellan im obersten Regal meines Küchenschranks stünden. Ich hole sie nur für seltene Gelegenheiten, für würdige Gäste über vierzig heraus.

Die Meißner Täßlein sind klein und zierlich und sehr zerbrechlich. Sie gehören jetzt mir, aber stammen, genau wie die Zeilen aus Max Frischs Tagebuch, aus einer Vorzeit meines Lebens, einer allerdings nahen Vorzeit, einer Frühzeit, der frühen Nachkriegszeit.

Als der unbestimmt bleibende »Kurt« in Begleitung von Max Frisch im zerstörten Berlin seine kleine Skizze von Liebermann auf dem Schwarzmarkt erwarb, kaufte auch meine Mutter auf dem Schwarzmarkt die Meißner Täßlein und dazu einige Zeichnungen, nicht von Liebermann, sondern von Lovis Corinth. »Alles unerschwinglich teuer, wenn man mit Löhnen rechnet, aber billig, wenn man mit Zigaretten rechnet«, notiert Max Frisch, und meine Mutter hat das oft genauso bestätigt, auf dem schwarzen Markt in Berlin gab es damals für ein paar Zigaretten al-les, erzählte sie manchmal, wenn sie einem Gast Kaffee in das Meißner Täßlein goss oder er die Corinth-Zeichnungen an unserer Wohnzimmerwand bewunderte. Und wenn sie diese Bemerkung machte, klang immer irgendeine Art Spott in ihrer Stimme mit: »Die blöden Deutschen — wenn sie nicht die ganze Welt in Scherben gelegt hätten, könnten sie die Täßlein noch unversehrt in ihren Schränken zu stehen haben.«

Meine Eltern waren ziemlich genau zur gleichen Zeit nach Berlin gekommen wie Max Frisch, aber nicht, wie er, als Beobachter und Besucher der zerstörten Städte Europas; sie waren wiedergekommen, um in Berlin zu leben, zu arbeiten und den Deutschen zu helfen, aus ihrem Schutt wieder auf die Beine zu kommen. Für Juden eine nicht ganz selbstverständliche Motivation.

Diese frühe Nachkriegszeit ist, wie gesagt, eine Vorzeit meines Lebens, aber sie streckt sich in mein eigenes Leben hinüber und reicht noch immer hinein, als ein Zeitriese sozusagen, eine Zeit, die ich nicht erlebt habe, die vergangen ist, die aber an mir haftet wie eine Haut, durch Überlieferung und Erzählung. Dann haben die das … und es wäre … und es war, und es ist gewesen … und dann und dann und dann … und wenn nicht … so war das.

In den Beobachtungen, wie Frisch sie in seinem Tagebuch notiert hat, finde ich viele Eindrücke wieder, die ich von meinen Eltern oft genauso geschildert bekommen habe: Die Russen sprechen tadelloses Deutsch, sie »nehmen den Geist sehr ernst, offensichtlich entsenden sie ihre besten Leute. […] Unser Gespräch hat keinen einzigen Namen zutage gefördert, der ihnen nicht bekannt ist.«

Meine Eltern arbeiteten zu dieser Zeit mit den russischen Kulturoffizieren der sowjetischen Besatzungsbehörde zusammen, um die deutsche Kultur wieder aufzurichten, Theater, Film, das ganze Pressewesen — natürlich in ihrem, im sowjetischen Sinn. Von diesen Kulturoffizieren, sie waren oft Juden, habe ich meine ganze Kindheit über sprechen gehört, sie müssen sich wohl aus denselben Gründen in die Erinnerung meiner Eltern eingeprägt haben, die Max Frisch nennt, »offensichtlich entsenden sie ihre besten Leute«. Einer dieser Männer hieß Georgi Bespalow, den Namen habe ich so oft gehört, dass ich ihn bis heute nicht vergessen kann und auch gar nicht vergessen will. Sein großes Engagement für die deutsche Kultur hat er später mit mehreren Jahren Gulag bezahlt, den er nach seiner Rückkehr aus den sibirischen Lagern nicht mehr lange überlebte. Das hat mir seine Witwe erzählt, die ich in den siebziger Jahren fast »zufällig« in Moskau traf. Als ich, zurückgekehrt, meinen Eltern diese schlechte Nachricht überbrachte, schwiegen sie verlegen, hätten es wohl lieber nicht gehört. Ach, der Arme.

»Kleiner Empfang durch den Kulturbund, der im Westen verboten ist«, notiert Max Frisch weiter. »Einige bekannte Gesichter, die als Emigranten in der Schweiz gewesen sind … Nachtessen in der sogenannten ›Möwe‹, wo die Künstler ohne Marken speisen können: zwei Kartoffeln, Fleisch, etwas Grünes sogar, Bier.«

Die »Möwe«, eines der wenigen unzerstört gebliebenen kleinen Stadtpalais im Zentrum Berlins, war von den russischen Besatzungsbehörden requiriert und dann den Theaterschaffenden Berlins geschenkt worden, daher, nach dem Stück von Tschechow, der Name »Möwe«. Die »Möwe« blieb auch weiterhin ein Theaterclub, man blieb dort unter seinesgleichen, ein Club eben, nach englischer Art. Später, als man schon überall ohne Marken essen konnte, besuchten meine Eltern noch immer die »Möwe« und nahmen mich oft mit, später ging ich mit Freunden oder Kollegen vom Theater dorthin. In der »Möwe« wurden kleine oder große Feste gefeiert oder Sylvester, oder man ging einfach essen, Kaffee trinken, Leute treffen oder Bücher ausleihen, eine Bibliothek war dort nämlich auch eingerichtet, wir konnten da Theatertexte von Beckett, Edward Bond oder gar Artaud ausleihen, die sonst in der DDR auf irgendwelchen Schwarzen Listen standen.

Die frühe Nachkriegszeit muss, da sie noch so lange nachgeklungen hat, eine sehr intensive Zeit gewesen sein. Aber auch ein seltener Moment der Hoffnung auf einen gelingenden Aufbruch aus dem Schlamassel nach der großen Katastrophe. Max Frisch beschreibt die Landschaft und Szenen vom Leben auf dem zerstörten Planeten:

»Später zum Brandenburger Tor. […] Stille wie in den Bergen, nur ohne das Rauschen eines Gletscherbaches. In den Zeitungen gibt es eine Spalte für tägliche Überfälle, es kommt vor, dass man eine kleiderlose Leiche findet … Ein Hügelland von Backstein, darunter die Verschütteten, darüber die glimmernden Sterne; das letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die Iphigenie.«

Irgendeine Hoffnung müssen meine Eltern in diesem Moment, in dem Hügelland von Trümmern, zwischen Verschütteten, Ratten und der »Iphigenie«-Aufführung, gefunden oder sich erhalten haben, die vielleicht sogar ihren Ausdruck in dem Entschluss fand, ein Kind, mich, in die Welt zu setzen. Meine Eltern waren nämlich nicht mehr sehr jung, von derselben Generation wie Max Frisch, aber sie gehörten nicht zu den Verschonten, wie Frisch sich im Vorspruch zu seinem Tagebuch selbst bezeichnet. Er legte offensichtlich großen Wert auf diese Bemerkung, er erklärt sich als einer, der außerhalb steht und dessen Beobachtungen aus dieser sicheren Distanz stammen.

Meine Eltern waren relativ Verschonte, da sie im englischen Exil die Nazizeit überleben konnten, und ich bin eine Nachgeborene. Eine von der sogenannten zweiten Generation. Diese Zählung allein markiert den tiefen Einschnitt der Jahre der Judenverfolgung und des Kriegs, wir zählen ein Davor und ein Danach. Die Jahre dazwischen folgen ganz anderen Zählungen, Anzahl der Länder und überschrittenen Grenzen des Exils, Zahl der Verstecke und Zahl der Tage in den Verstecken, Zahl der Lager, Zahl der Toten und Ermordeten. Sie lassen sich schwer erzählen.

An die Nachgeborenen wendet sich Bertolt Brecht:

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut,

in der wir untergegangen sind,

gedenket,

wenn ihr von unseren Schwächen sprecht,

auch der finsteren Zeit,

der ihr entronnen seid.

Frisch erwähnt das Gedicht mehrmals in seinem Tagebuch und widmet Brecht auch in seinem zweiten Tagebuch (19661971) noch einmal Erinnerungen an ihre Begegnungen. Er hatte Brecht wenige Tage nach dessen Rückkehr aus dem Exil in Zürich kennengelernt und blieb ihm dann in einer kollegialen Freundschaft verbunden, hat ihn oft besucht.

Der Name Brecht hat eine besondere Farbe in diesem »Klang« der frühen DDR-Zeit, der »Möwe«, des Neuanfangs. In seinem Tagebuch, viel mehr einem sehr knappen Arbeitsjournal, erwähnt Brecht übrigens auch die »Möwe«: »die koffer aus der schweiz sind noch unterwegs, die COURAGE im deutschen theater geht immer noch ausverkauft, helli hat büroräume in der ›möwe‹, ein ensemble ist zusammengestellt.«

Bertolt Brecht ist, glaube ich, eine der seltenen Meisterfiguren, denn das war er für alle angehenden Künstler in der frühen DDR-Zeit und auch noch lange danach, der nichts von einem Übervater hatte, gegen den man sich allzu heftig auflehnen musste, sondern der für uns ein für alle Mal jede Miefigkeit und Tümlichkeit der Kunst des Bildungsspießertums, wie er es nennt, von der Bühne fegte und darüber hinaus aus der Idee von der Kunst allgemein. Das war schon immerhin etwas und wog seine ideologische Naivität, falls es Naivität war, allemal auf.

Ich kann Frisch nur bewundern, wie er gleichzeitig Brechts Meisterschaft würdigt, aber die ideologische Überfrachtung einiger seiner Werke sofort erkennt und es genau treffend, wie ich finde, ausspricht, »das Nur-Ideologische, genau wie das Nur-Ästhetische [ist] eine andere Art, nicht wirklich zu sein«.

Der Nachsicht gedenkend, die Brecht von uns Nachgeborenen erbittet, will ich annehmen, dass er und meine Eltern und all die anderen Genossen Rückkehrer, die da in der »Möwe« saßen, sich ihre parallele Welt, also eine Nicht-Wirklichkeit schaffen mussten, um ihr politisches Engagement weiter für gültig ansehen zu können. In dieser parallelen Welt verschlossen sie sich wie in einen geschützten Raum und lebten, wie Frisch auch beobachtet, hauptsächlich in Kolonien, »sie wissen, dass sie in Berlin sind, aber die Berliner sind [für sie] so etwas wie Eingeborene.« […] »Vergessen Sie nicht, Frisch, es sind Deutsche!«, erinnert ihn Brecht. »Vielleicht kommen Sie auch einmal in diese interessante Lage […], dass Ihnen jemand von ihrem Vaterland berichtet, und Sie hören zu, als berichte man Ihnen von einer Gegend in Afrika.«

Diese Entfernung von der Wirklichkeit, die Fremdheitsgefühle nach der Rückkehr nach Deutschland, gepaart mit tiefem Verletztsein, haben lange angehalten, und ich fürchte, meine Eltern haben einen Teil davon, genau wie die Meißner Täßlein, an mich weitergegeben.

Max Frisch, dem sein Vaterland glücklicherweise nie abhandenkam und für den die Zugehörigkeit zu ihm im Guten und im Bösen immer fraglos blieb, konnte oder musste, vielleicht um sich dieser festen Zufügungen zu erwehren, seinen Figuren neue Identitäten suchen, verschiedene Biografien ausprobieren lassen und sich fragen, »ob es möglich wäre, dass unser Leben auch hätte anders verlaufen können«. Was eine gewisse Freiheit voraussetzt, nach der er eben fragt.

Für Juden seiner Generation waren diese Freiheiten so gut wie nicht mehr möglich, sie waren überdeterminiert, wie Sartre es nennt. Mein Vater beschrieb diese Tatsache mit dem Bonmot, »zu Hause Mensch und auf der Straße Jude«. Ich nehme sogar an, dass die Hingabe an die kommunistische Idee, zumindest teilweise, dem Wunsch entsprang, dieser Überdeterminierung zu entrinnen, um einfach Mensch, Genosse, Kamerad zu sein. Eine Flucht nach vorne, nachdem jüdische Überlieferung, Konvention und Religion schon lange abgelegt und abhanden gekommen waren, um diese Anerkennung als Mensch durch die Genossen Mitmenschen zu finden. Auch diese Illusion scheiterte, denn so sehr die jüdischen Remigranten, wie zum Beispiel meine Eltern, auch bemüht waren, sich an das von ihnen frei gewählte Milieu anzupassen und ihre Herkunft zu verleugnen, es nützte ihnen, wie schon in allen vorherigen Zeiten, gar nichts.

Am 30. April 1952 fasst die Stasi zusammen:

»Äußerlich versucht H. den Fortschrittlichen und aktiven Genossen zu spielen. Honigmann und Frau verhalten sich völlig reserviert gegenüber den Genossen, sind sehr eingebildete und angeberische Menschen und tragen auffällig westliche Kleidung. Sie beherrschen die englische Sprache in Wort und Schrift. Es wurden zwei GM angeworben, die laufend im [sic] Wohnsitz und Arbeitsstelle Informationen zusammenstellen sollen.«

Der »Stiller« gelangte mit etwa zehnjähriger Verspätung zu uns in die DDR, jedenfalls zu mir, nicht, dass er in der DDR verlegt worden wäre, dafür brauchte es noch einmal zehn Jahre — nein, wie alles andere, was an Büchern und Platten wichtig war, hatte jemand das Buch aus Westberlin herübergebracht. Es war die Zeit, als meine Freundinnen und ich gerade in ausgeleierten schwarzen Rollkragenpullovern herumliefen und zwar sozusagen Tag und Nacht, jedenfalls ob es regnete oder die Sonne schien. Wir waren 14-jährige Mädchen und hatten etwas von Existenzialismus, Sartre und Camus gehört, hatten »Stiller« gelesen und Juliette Greco im Radio gehört und auf Fotos von Saint-Germain-des-Prés gesehen, dass da alle rauchend und in schwarzen Rollkragenpullovern herumsaßen. Der Verwandlungstraum des »Stiller« gefiel uns, und es leuchtete uns ein, dass der Mensch ist, wozu er sich macht, und überhaupt, dass der Mensch Freiheit ist, und da wollten wir als 14-, 1963«le juif inauthentiqueinauthentique