HERZ ÜBER BOARD
MEIN SOMMER MIT JONAH
© 2016 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein
Covergestaltung: Claudia Toman, Traumstoff
eBook Formatierung von SKY GLOBAL SERVICES
Lektorat & Korrektorat: Lektorat Rohlmann & Engels
Alle Rechte vorbehalten
ISBN – 978-3-95869-198-8
Besuchen Sie unsere Webseite:
amrun-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für alle Sommerkinder,
die das Meer so sehr lieben wie ich.
PLÖTZLICH SOMMER
MEIN NEUES ZUHAUSE
DER ERSTE KAFFEE
DER ANFANG
DIE PARTY AM STRAND
FAST IM MEER
KATERSTIMMUNG
JONAH: DIE WETTE
DER ERSTE MORGEN AM STRAND
DIE ERKENNTNIS
GEMEINSAMKEITEN
JONAH: DIE LIEBE ZUM MEER
WIE STEINE IM MEER
HERAUSFORDERUNGEN
JEDER HAT EINE GESCHICHTE
UNSER START IN DIE SAISON
JONAH: DIE WETTE
MEIN WAHRER GRUND
GEMEINSAM IST ALLES LEICHTER
BLOCKADEN
DAS VERSCHWUNDENE PADDEL
SPIELE ZUM MITTAG
DER RUF DER VERGANGENHEIT
ZWEIFEL
VORSPIEL
JONAH: JOSEPHINAS BABY
BERÜHRUNGEN
JONAHS ZUKUNFT
CLUBBEN FÜR ANFÄNGER
DAS UNBESTIMMTE GEFÜHL
JONAH: EIN NEUER DEAL
DAS UNABWENDBARE
DAS ERSTE AUFEINANDERTREFFEN
ALTE BEKANNTE
RETTUNG NAHT
DIE SEHNSUCHT NACH NORMALITÄT
DIE BAND
EINBLICKE
SPRING!
VERTRAUEN
KLARTEXT
DANKE
Gebannt starre ich aus dem Fenster, um einen ersten Blick auf die Insel zu erhaschen, die die nächsten vier Monate mein Zuhause sein wird.
»Jetzt wird es ernst«, seufzt Lola neben mir, als die Anschnallzeichen mit einem Pling erscheinen und der Kapitän den Sinkflug einleitet. »Und? Bereust du es schon, dass du vor David geflüchtet bist?«, fragt sie.
Ich stöhne auf und spüre dieses unangenehme Ziehen in meiner Magengegend, das die Erinnerungen an jenen Abend für gewöhnlich in mir hervorrufen.
»Gott, ich fühle mich immer noch mies, wenn ich nur an ihn denke.« Die Wunde ist noch zu frisch. Drei Wochen ist es nun her, dass ich ihn mit meiner besten Freundin im Bett erwischt habe. Seitdem verfolgen mich die Bilder, die sich in meinem Kopf eingebrannt haben, jede Nacht.
»Verständlich. Aber deshalb gleich die Musical-Ausbildung hinzuschmeißen … Für den Club wirst du eine Bereicherung sein, aber willst du ernsthaft wegen eines Kerls so eine Chance aufgeben?«
»Ich hab die Ausbildung ja nicht sausen lassen. Nur verschoben. Und das mit David … Soll er sich doch mit Yvi trösten.« Ich habe große Lust, mich aus dem Flieger zu stürzen, wenn ich nur an die beiden denke. »Ich glaube, die Ablenkung hier wird mir ganz gut tun«, sage ich zuversichtlicher, als ich tatsächlich bin. Ich habe mich für Flucht entschieden und damit für ein paar wundervolle Monate im Osten Sardiniens.
»Lin, glaub mir, hier ist es eh viel schöner. Das wird der Sommer deines Lebens – so lange du dich an die Regeln hältst!«, erinnert mich Lola mindestens zum hundertsten Mal. Ich seufze innerlich. Die Drei Goldenen Regeln. Wie sollte ich die jemals wieder vergessen?
- Sei immer und zu ausnahmslos jedem freundlich!
- Kein Sex mit den Gästen! Das gibt nur Ärger.
- Fange nichts mit Jo an. Niemals!
Lola und ich haben uns auf den Recruiting-Days von Easy Camp kennengelernt, wo ich mich kurzfristig um einen Animationsjob beworben habe. Ein Blick und uns war klar, dass wir Freunde werden würden. Nun saßen wir hier zusammen im Flieger und ich weiß zu gut, dass Lola alles in die Waagschale geworfen hat, damit ich mit ihr gemeinsam im Aquamarina lande – dem coolsten Ferien-Camping-Club auf Sardinien, wie sie sagt. Es ist ihre zweite Saison hier an der Ostküste und vermutlich nicht ihre letzte. Denn wenn man sich an die Regeln hält, kommt man immer wieder nach Sardinien. Behauptet zumindest Lola.
Normalerweise mache ich mir gerne mein eigenes Bild, aber ich bin froh, dass sie an meiner Seite ist und mich um die tiefsten Fettnäpfchen herumlotsen kann, in die ich sonst mit Anlauf springen würde. Von der Energie, die sie aus jeder Pore ausstrahlt, kann ich momentan eine gute Portion vertragen. Die Sache mit David hat mich ziemlich ausgelaugt.
Das Flugzeug setzt mit einem leichten Ruckeln auf und Lola ist kaum noch auf dem Sitz zu halten. Amüsiert beobachte ich, wie sie die Anzeige hypnotisiert, bereit, den Gurt zu lösen und aufzuspringen, um … ja, um was eigentlich? Weiter zu warten, bis sich die Türen öffnen?
Ich bleibe sitzen und schaue durch die winzige, völlig verkratzte Luke neben meinem Sitz, versuche einen Blick auf die Landschaft zu erhaschen, doch ein großes Betongebäude versperrt meine Sicht. Ein leichtes Drücken breitet sich in meinem Magen aus. Zu gut weiß ich, dass ich mich hinter einer Ausrede verstecke. Dass mein Weggang aus Hamburg und das Verlassen von David einer Flucht an einen Ort gleichen, an dem mich niemand vermuten wird. Alles, was ich mir erhoffe, ist, endlich wieder ich selbst zu sein. Vier Monate habe ich, bis mein Musical-Studium starten würde. Genug Zeit, um zu mir selbst zu finden. Genug Zeit, um den Anblick zu vergessen, der mein Leben auf den Kopf gestellt hat.
Endlich wird Lola erlöst, als das Zeichen zum Abschnallen erscheint. Bewegung kommt in die Menschen, die eilig ihre Sachen aus den Gepäckablagen hieven, um möglichst schnell den ersten Schritt auf die Insel zu setzen.
Die Sonne blendet mich, als ich aus dem Flugzeug steige und die steile Treppe hinunterlaufe. Hitze schlägt mir entgegen und als ich die wenigen Meter zum Bus, der uns zum Flughafengebäude bringen wird, hinter mich bringe, weiß ich: Es liegt nicht allein an den Turbinen. Es ist erst Anfang Mai, aber hier auf Sardinien scheint der Sommer bereits in vollem Gange zu sein.
Noch immer versperren mir die asphaltierte Landebahn und das große Flughafengebäude den Blick auf die Natur, die hier so einzigartig schön sein soll. Sardinien, die zweitgrößte Mittelmeerinsel, gehört zu den schönsten und somit auch beliebtesten Ferieninseln deutscher Urlauber. Noch ist der Ferienflieger – und damit der Shuttlebus – vergleichsweise leer. Die Saison startet erst in ein paar Tagen.
»Oh mein Gott, wie sehr ich diese verdammte Insel vermisst habe.« Lola hüpft aufgeregt auf und ab, ein breites Lächeln auf dem Gesicht, das vom deutschen Frühling noch blass ist. »Wer uns wohl abholen wird? Peter? Oder vielleicht Jo?« Ihre Augen blitzen bei der Erwähnung von Jos Namen merklich auf. Fast ist es, als würde sie ihre große Liebe gleich wiedersehen. Sie umarmt mich überschwänglich und lacht ihr einnehmendes Lachen, das mir bereits in Frankfurt so gut gefallen hat.
Der Bus hält nach einer kurzen Fahrt mit einem lauten Quietschen vor dem eckigen Gebäude und entlässt uns zum Check-out in die klimatisierte Halle. Eine unbestimmte Unruhe brodelt in mir. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Was erwarte ich von dem Sommer? Dass er unvergesslich wird? Vielleicht. Und dass ich Spaß haben werde. Egal, was kommt, ich habe mir vorgenommen, all die trüben Gedanken abzuschütteln, die mich in Deutschland gelähmt haben. Die mir das Atmen fast unmöglich gemacht und das Lachen geraubt haben. Ich bin hier, um Abstand zu gewinnen. Um abzuschließen und ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben, in dem Kerle wie David keinen Platz haben.
Lola hakt sich bei mir unter und zerrt mich ungeduldig hinter sich her. Ihr kann es nicht schnell genug gehen und es zieht sie förmlich ins Aquamarina. Die dunklen, kleinen Locken, die ihr bis zur Schulter reichen, hüpfen um ihr zierliches Gesicht. Sie hat eine ähnliche Statur wie ich, nicht klein, nicht groß. Doch im Vergleich zu mir wirkt sie kräftiger, muskulöser. Ich hatte schon immer eine zierliche Figur und muss mir dank genügend Bewegung kaum Gedanken machen, was ich esse. Sehr zum Leidwesen meiner Freundinnen, die mit Neid auf meine Figur schielen. Ich hingegen wünsche mir ab und zu ein paar mehr Kurven. Wahrscheinlich ist es das Normalste der Welt, dass Frauen unzufrieden mit ihrem Körper sind.
»Ich komme gleich wieder«, bedeute ich Lola und steuere auf die Toiletten zu. Noch einmal frisch machen, bevor ich einem meiner neuen Kollegen gegenübertreten werde. Normalerweise bin ich nicht das schüchterne Mädchen, das den Mund nicht aufkriegt. Ich weiß mich durchzusetzen, auch wenn ich mich nicht als schlagfertig bezeichnen würde. Doch es wartet so viel Neues auf mich. Obwohl Lola beteuert, dass mich die Crew mit offenen Armen aufnehmen wird, bin ich etwas nervös. Die Neue in einem eingespielten Team zu sein, ist nicht ohne.
Ausgiebig wasche ich mir die Hände und schaue in den Spiegel. Dunkle Augen blicken mir entgegen, müde und klein von der kurzen Nacht. Da hilft auch das Make-up nichts, das ich heute Morgen in aller Eile aufgetragen habe. Meine braunen, glatten Haare hängen etwas schlapp an meinem Gesicht herunter. Ich krame in der Tasche nach einer Bürste und binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Nach einer kurzen Deodusche straffe ich die Schultern und begebe mich mit klopfendem Herzen zur Gepäckausgabe.
Mit einem Gepäckwagen bewaffnet lauert Lola bereits am Rollband auf unsere Koffer. Normalerweise verreise ich mit schmalem Gepäck. Doch was nimmt man mit, wenn man vier Monate vom heimischen Kleiderschrank entfernt ist und mangels Freizeit nicht mal eben so in die Stadt kann, um Nachschub zu kaufen? Ich habe keine Antwort gefunden und mich daher schwer damit getan, mich auf wenige Hosen und T-Shirts zu beschränken. Herausgekommen sind eine schwere Reisetasche und ein großer Trolley, die beide gerade noch so den Gewichtsbeschränkungen der Fluglinie entsprochen haben.
»Na, aufgeregt?«, neckt mich Lola, der nicht entgangen ist, dass ich in der letzten Stunde deutlich ruhiger geworden bin. Ein Zeichen dafür, dass ich nervös bin. Aber ist das ein Wunder? In den letzten Wochen hat sich mein Leben so rasant verändert. Von himmelhoch jauchzend zu zum Tode betrübt in einer Sekunde. Was mich hier genau erwartet, kann ich noch überhaupt nicht abschätzen. Wer weiß schon, wie es tatsächlich ist, Animateurin zu sein? Meine Recherchen im Internet gaben nicht viel her. »Warte ab, bis du die anderen kennenlernst. Dann vergeht das ganz schnell! Du wirst dich bei uns wohlfühlen. Versprochen.«
Ihr helles, freundliches Lachen beruhigt mich etwas, und nachdem wir die Taschen und Koffer auf den Wagen geladen haben, steuern wir auf den Ausgang zu. Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen, als die Glastüren zur Seite schwingen und wir endlich aus der Ankunftshalle treten.
Hinter der kleinen Absperrung warten vereinzelt Leute. Vermutlich Fahrer der Shuttleservices, die ankommende Gäste in ihre Feriendomizile chauffieren sollen. Das suggerieren zumindest die bunten Schildchen der Ferienanbieter, die hinter dem Ausgang tanzen wie Puppen eines Stabtheaters. Ich halte mich an Lola, schiebe den schweren Wagen und schaue mich neugierig um. Zahlreiche Menschen wuseln herum. Familien mit Kindern und Urlauber mit luftigem Outfit. Ich spüre bereits die Entspanntheit, die es nur im Süden gibt. Nur dort nimmt man das Leben mit einer gesunden Portion Humor und Lässigkeit. Nach und nach löst sich meine Anspannung. Auch wenn ich noch keinen einzigen Blick auf die in allen Reiseführern als einzigartige Landschaft beschriebene Gegend werfen kann, bin ich mir sicher: Hier wird es mir gefallen.
»Peeeeeter«, quietscht Lola plötzlich und hechtet an mir vorbei zu einem korpulenten Mittvierziger mit schütterem Haar und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Sie umarmen sich überschwänglich und überschütten sich mit Willkommensfloskeln, die im allgemeinen Lärm untergehen.
Ich stehe wie angewurzelt da, beobachte ihr herzliches Wiedersehen und freue mich, dass bei meinem neuen Job offensichtlich ein gutes Klima herrscht. Peter ist neben seiner Frau Maria der Chef des Aquamarina.
Nach ein paar weiteren Worten lösen sich die beiden voneinander und Peter wendet sich an mich.
»Du musst die Lindsey sein«, begrüßt er mich in breitestem bayerischem Dialekt und streckt mir die Hand entgegen. Ich lächle ihn an und trete einen Schritt hinter dem Wagen vor.
»Oh bitte, sagen Sie Lin zu mir. Lindsey nennen mich nur meine Großeltern. Und Leute, die mich ärgern wollen.« Ich lege den Kopf schief und nehme seine Hand.
»Okay, Lin, herzlich willkommen auf Sardinien. Aber das mit dem Sie vergessen wir gleich wieder. Die nächsten Monate werden wir wie eine Familie zusammenrücken.« Und schon hat er die Arme um meinen Hals geschlungen und klopft mir einmal kräftig auf den Rücken. Ich mag seine herzliche Art und merke, wie sich meine Nervosität langsam, aber sicher in die hintersten Ecken meines Körpers verzieht.
Lola hakt sich bei mir unter, während Peter unser Gepäck Richtung Parkplatz schiebt. Wir sprechen über den Flug, über die Recruiting-Days und das schauderhafte Wetter in Deutschland.
»Auf geht‘s«, sagt Peter, als er unser Gepäck in den geräumigen Kleinbus geladen hat und eine Schiebetür öffnet.
»Sind die anderen schon da?«, fragt Lola aufgeregt und hüpft auf den Beifahrersitz, wodurch ich hinten einsteige. Mir soll es recht sein, so kann ich während der Fahrt noch einmal durchatmen und mich auf die Landschaft konzentrieren.
»Sepp ist heute Morgen angekommen und streckt seine käseweißen Beine wohl gerade ins Meer. Paolo erwarten wir morgen.« Peter steuert den Wagen vom Parkplatz auf die Straße. Noch ist alles karg und hat wenig Charme.
Wie es im Süden in Vororten oft der Fall ist, stehen links und rechts der verschlungenen Bundesstraßen große Lagerhallen und unzählige Werbeschilder.
»Und Fee?« Ich horche auf, denn mit Fee werde ich in der Kinderanimation zusammenarbeiten.
»Vor ein paar Tagen hat sie abgesagt. Sie hat sich beim Inlineskaten den Fuß gebrochen und liegt mit Gips zu Hause.«
»Oh nein, die Arme. Und jetzt?«
»Easy Camp schickt uns Ersatz. Kirsten kommt heute spätabends in Olbia an. Jonah wird sie abholen – er wollte ohnehin noch etwas erledigen.« Jonah – von Lola liebevoll Jo genannt – ist so etwas wie der Chef der Animateure, und wenn man Lolas Ausführungen Glauben schenken darf, der absolute Hammer. Groß, gut aussehend und zuckersüß. Sein Charme macht es einem schwer, ihm zu widerstehen. Treue gehört jedoch nicht zu seinen Stärken. Wenn ich also – so Lola - den Sommer nicht mit gebrochenem Herzen und vor Tränen geröteten Augen verbringen will, sollte ich mich besser von ihm fernhalten. Mir ist das mehr als recht, denn nach der Sache mit David ist mein Bedarf an Männern erst mal gestillt.
Ich klinke mich aus der Unterhaltung aus und sauge die ersten Eindrücke auf. Langsam fahren wir aus der Stadt heraus. Berge, so weit das Auge reicht, ragen erst zaghaft, dann immer steiler in den Himmel. An ihren Hängen hat sich die Macchia breitgemacht, jene unverwüstlichen Gebüschlandschaften, die neben dem Meer wohl am intensivsten für den unverwechselbaren Geruch Sardiniens verantwortlich sind. Ab und an sieht man am Straßenrand Korkeichen, Olivenbäume und Palmen. Noch blüht hier alles in den schillerndsten Farben. Pinke Oleanderbüsche konkurrieren mit gelbem Ginster. Die Straßen sind auch außerhalb der Stadt in einem erstaunlich guten Zustand. Neugierig recke ich den Kopf, auf der Suche nach dem Meer, doch noch versperren mir die Berge den Blick. Nach einer Weile sehe ich es endlich aufblitzen. Kleine, blaue Flecken, bevor sich wieder neue macchiabewachsene Felsformationen in mein Blickfeld schieben. Ich liebe das Meer. Das Rauschen der Wellen, die unendliche Weite und das Geheimnisvolle, das sich darin verbirgt.
Die Strecke ist hügelig und führt durch zahlreiche Tunnel. Sie sind viel enger und auch schwächer beleuchtet als in Deutschland. Dennoch rasen die Autos mit italienischem Kennzeichen in halsbrecherischem Tempo hindurch, als wäre das ganz normal.
Italien. Es ist lange her, dass ich mit meinen Eltern Urlaub an der Adria gemacht habe. Außer ein paar Brocken Italienisch, um ein Eis zu bestellen, kann ich mich nur mit Händen und Füßen verständigen. Ich hoffe, dass ich jemanden finden werde, von dem ich ein paar Basics lernen kann. Nicht so einfach, wenn das komplette Team und die meisten Gäste aus Deutschland kommen.
Wir fahren von der Schnellstraße ab und kurven durch eine wildere Landschaft. Die Berge strecken sich vor, neben und hinter uns in den Himmel. Sie wirken ziemlich schroff und dennoch dank all der grünen Bäume und Sträucher einladend. Ich öffne das Fenster. Biosaunen-Duft strömt ins Wageninnere. Nur fühlt sich die Luft hier in den Bergen angenehm frisch an. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus, versuche diesen Geruch für immer in meinem Gedächtnis zu speichern. Noch habe ich mich nicht an die Wärme gewöhnt, die sich wie eine Decke über mich legt und mir das Atmen erschwert. Der plötzliche Temperaturanstieg macht mir zu schaffen. Vor wenigen Stunden kamen mir noch die zwölf Grad am Frankfurter Flughafen warm vor, denn zu Hause in Hamburg hatte sich das Schmuddelwetter festgefressen.
Nach einer weiteren halben Stunde fahren wir über ein paar Feldwege. Ich habe schon ganz aufgeregt ein Schild mit dem Namen des Camping-Platzes gesichtet. Ich setze mich auf, spüre das dumpfe Gefühl in meinem Bauch. Dass ich so nervös bin, kann ich mir selbst kaum erklären. Ungeduldig rutsche ich auf meinem Sitz hin und her, auf dem ich trotz Klimaanlage mit meiner Jeans festklebe. Als das Eingangsschild vom Aquamarina vor uns erscheint und uns willkommen heißt, zupfe ich mir den Pferdeschwanz zurecht und spüre, wie sich mein Pulsschlag erhöht.
Lola quietscht schon wieder und schnallt sich ab, bereit für den Sprung aus dem fahrenden Minibus, wenn es sein muss. Ich grinse. Schön, wie sehr sie sich freut. Das macht Mut. Wie es aussieht, werde ich hier tatsächlich Ablenkung von meinem Herzschmerz finden.
Peter dreht sich zu uns um, als er den Motor mit einem letzten Stottern abstellt, und grinst breit.
»Willkommen im Aquamarina, Mädels. Ähm, Lin … eigentlich kriegen die Animateure hier ein Einzelzimmer. Aber vergangene Woche hatten wir einen Rohrbruch und eines der Zimmer ist immer noch nicht wieder bewohnbar. Bis das repariert ist, müsstest du dir ein Zimmer mit Kirsten teilen. Ist das ein Problem? Wir möchten sicher nicht, dass du …«
»Nein, das ist kein Problem. Wirklich nicht«, beteuere ich, denn die letzten Monate habe ich mein Zuhause mit Yvi geteilt. Meine ehemals beste Freundin, mit der ich seit dem Gymnasium durch dick und dünn gegangen bin. Bis sie meinen Freund in unserer gemeinsamen Bude vernascht hat. Schlampe.
»Wir können uns doch ein Zimmer teilen«, schlägt Lola vor und nickt bestimmt. »Das wird lustig!« Sie lacht und umarmt mich voller Vorfreude. Das hört sich tatsächlich nach einem guten Plan an.
»Cool, abgemacht!«, erwidere ich erfreut. Lola klopft Peter bestätigend auf den Rücken, schultert ihren Rucksack und hüpft aus dem Wagen. Bevor ich bis drei zählen kann, ist sie hinter ein paar Palmen verschwunden. Unschlüssig steige ich aus und bleibe am Auto stehen. Bevor ich ihr einfach hinterherrenne, hole ich die Wasserflasche aus meinem Rucksack und lasse die ersten Eindrücke auf mich einströmen. Hier im Aquamarina ist alles grün und gepflegt. Ein Gärtner wässert gerade die Bäume. Ein anderer schneidet verdorrte Äste von einem Baum. Die Blumen blühen bereits in ihren kräftigsten Farben und zaubern ein unbeschreibliches Mittelmeerambiente. Perfekt für einen endlosen Sommer im Paradies.
Kinderlachen mischt sich mit dem Plätschern von Wasser. Der Wind bringt den typischen Mittelmeergeruch mit sich. Ich atme tief ein, strecke die Nase in die Sonne und genieße den Augenblick. Es fühlt sich wie Urlaub an, auch wenn ich bereits durch die Vorbereitungstage weiß, dass dieses Gefühl trügerisch ist.
»Komm, wir gehen zum Haus.« Peter nickt zu einem weiß verputzen Bau im typisch südländischen Stil. Mit niedlichen, kleinen Balkonen, über deren Geländer prächtige Oleanderpflanzen ragen. Ich lächle ihn zaghaft an. Meine Nervosität ist kaum noch zu verbergen. Gleich werde ich meine neuen Kollegen kennenlernen – die Menschen, mit denen ich die nächsten vier Monate achtzehn Stunden am Tag zusammenarbeiten werde. In den Recruiting-Days haben sie uns vor dem Lagerkoller gewarnt, der unweigerlich nach ein paar Wochen eintreten würde. Daher ist es umso wichtiger, dass die Chemie stimmt und sich alle grün sind. Die Neue zu sein, während sich alle anderen schon kennen, ist ein seltsames Gefühl. Ich richte mich auf und lasse es zu, dass mein neuer Chef den Arm um meine Schultern legt und mich zielsicher zum Haus lotst.
Auf der Terrasse haben sich schon ein paar Leute zu einem großen Hallo versammelt. Lola ist mittendrin, lacht und wischt sich ein paar Wiedersehenstränen von der Wange. Ihre dunklen, kleinen Locken hüpfen aufgeregt um ihr gerötetes Gesicht. Sie sieht glücklich aus.
Der Kerl, den sie gerade überschwänglich umarmt, muss Sebi sein. Er ist niedlich, was ziemlich egal ist, denn zum einen will ich eh nichts mehr von Männern und der Liebe wissen und zum anderen steht er laut Lola nicht auf Frauen.
Seine blonden Haare und blauen Augen werden sicher auch die Männerwelt in Verzückung versetzen. Sein offenes, sympathisches Lachen erinnert mich an meinen Lieblingsonkel, der mich in meiner Kindheit unzählige Male in die Luft geworfen hat und mich glauben ließ, ich könnte fliegen.
Ohne auch nur ein einziges Wort mit Sebi gesprochen zu haben, bin ich mir sicher, dass wir uns gut verstehen werden.
Die beiden unterhalten sich, als wären sie die dicksten Freunde. Er strubbelt durch ihre Haare, als wäre sie die lang vermisste kleine Schwester und sie schmiegt sich eng an seine Brust. Ein leises Ziehen schleicht sich in meinen Bauch. Freunde. Wie sehr ich Yvi vermisse. Trotz allem.
»Lin, komm rüber!« Lola winkt ungeduldig und ich stakse mit noch steifen Beinen von der Fahrt über die Holzdielen. »Das ist der herzallerliebste und leider völlig untalentierte Sebi. Aber wir lieben ihn alle, so wie er ist.« Stolz präsentiert sie den Kerl, der sich gerade aus ihrer Umarmung windet, um mich zu begrüßen. Er übergeht Lolas Spitze einfach und zwinkert mir verschwörerisch zu.
»Hör nicht auf sie. Lola ist nur neidisch, dass sie nicht mit mir auf die Bühne darf. Sag, wo kommst du her? Du weißt schon … Klischees und so.« Ich lache auf, denn schon jetzt ist er so vertraulich, als würden wir uns schon ewig kennen.
»Ursprünglich aus Süddeutschland, genauer gesagt aus Freiburg. Aber nach dem Abi bin ich nach Hamburg und habe den Winter dort verbracht. Nach der Saison geht es dann wieder ab in den Norden.« Ich presse meine Lippen zusammen und ziehe die Augenbrauen hoch. Der Gedanke an das Danach gefällt mir nicht.
»Das hört sich nicht gerade so an, als würdest du dich darauf freuen«, hakt Sebi nach, der offensichtlich mein Unwohlsein gespürt hat. Ich winke ab und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen.
»Lange Geschichte. Im Herbst startet das Musical-Studium an der Stage School«, lenke ich ab. Die Zulassung hatte ich schon in der Tasche. Wäre nicht alles schiefgelaufen, würde ich bereits jetzt im Unterrichtsraum sitzen und das erste Semester absolvieren. Doch David hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich hätte es schlichtweg nicht ausgehalten, ihn tagtäglich zu sehen. Mit ihm zu singen, zu tanzen. Zu lachen und zu weinen. So, als hätte es diesen einen Abend nicht gegeben. Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen und verdränge die dunklen Gedanken. »Das kann ich mir schlecht entgehen lassen.«
»Musical? Dich schickt der Himmel. Wir haben uns schon gefragt, wie wir überhaupt eine Show auf die Beine stellen sollen. Jetzt, wo Fee abgesagt hat, haben wir keine weibliche Hauptdarstellerin mehr.«
»Und keinen Hauptdarsteller, da Jo sich sicher wieder weigert mitzumachen«, wirft Lola ein. »Du bist ein lausiger Schauspieler und ein noch miserabler Sänger, Sebi.«
»Sag, kannst du singen?« Sebis Stimme ist ein einziges Raunen. Er zieht es vor, erneut Lolas Kommentar zu überhören, und kommt einen Schritt näher, um mir in die Augen zu schauen. Streng blickt er mich an, als würde ich jemals auf die Idee kommen, ihn anzulügen. Ich grinse breit.
»Mann, Sebi, sie hat einen Platz auf der Stage School. Natürlich kann sie singen!«, kommt mir Lola zuvor und klopft mir stolz auf die Schulter, als wäre es ihr Verdienst, dass ich in einer der renommiertesten Musical-Schulen gelandet bin.
»Jo wird begeistert sein, endlich mal mit einem Profi zusammenzuarbeiten.« Schließlich schlingt er die Arme um mich und drückt mich fest an sich. Er riecht nach Sonnencreme und Freundschaft.
»Was ist mit mir?«, dringt eine geheimnisvolle Stimme an mein Ohr. Augenblicklich spüre ich, wie mein Magen vor Vorfreude hüpft. Ich habe schon so viel von Jonah gehört, dass es mir fast so vorkommt, als würde eine Berühmtheit wie Jared Leto persönlich vor mir stehen. Gutes und auch weniger Gutes, denn wenn ich Lola glauben mag, haken Paolo und er ihre Errungenschaften auf einer List ab. Irgend so ein Jungs-Ding, das ich lieber nicht genauer wissen möchte. Mir soll es egal sein, denn ich habe nicht vor, eines der Mädchen zu werden, die auf einen der hiesigen Sunnyboys hereinfällt.
Lola kreischt entzückt und schmeißt sich dem großgewachsenen Kerl in die Arme.
»Oh mein Gott, Lola. Womit habe ich verdient, dich noch eine weitere Saison ertragen zu müssen?«, stöhnt er mit dieser Stimme, die einem unwillkürlich Gänsehaut den Rücken hinunterjagt.
»Du Scheusal. Komm, gib es zu: Du hast mich vermisst. Zumindest ein klitzekleines bisschen?« Sie hat die Arme noch immer um seinen Hals geschlungen und schaut ihn mit diesem entzückten Ausdruck in den Augen an, den sie schon allein beim Klang seines Namens nicht unterdrücken kann. Ich verdrehe unwillkürlich die Augen. Zugegeben, Lola hat recht: Jonah ist der absolute Hammer. Groß, drahtig und gut trainiert erinnert er an einen Rockstar, Schauspieler oder ein Unterwäschemodell. Soweit ich das beurteilen kann, versteckt sich kein Gramm Fett unter seinem dunkelblauen T-Shirt, das sich eng an seinen Oberkörper schmiegt und seine Figur vorteilhaft zur Geltung bringt.
Er hat diesen dunklen, äußerst anziehenden Teint, den man wohl nur haben kann, wenn man mehr Sonnenstunden abbekommt, als Deutschland bieten kann. Seine Haare sind dunkel, fast schwarz und hängen ihm vorteilhaft in die Stirn. Zum Glück verdecken sie diese unverschämten blauen Augen ein kleines bisschen, sodass man nicht gleich ganz im Erdboden versinkt, wenn man ihn anschaut. Der Anflug eines Bartes vervollständigt dieses Out-of-the-Bed-Flair, für das ich schon immer eine Schwäche gehabt habe. Und das unverschämte Lächeln, das ein bisschen schmutzig ist und dennoch so ehrlich scheint … Aber es ist nicht nur sein Äußeres, das wohl jedes Mädchen zum Dahinschmelzen bringt. Ihn umgibt eine mystische Aura, die entweder von Gott gegeben ist oder auf ein jahrelanges Training in Sachen Mädchen umgarnen schließen lässt. Jedenfalls macht ihn diese Kombination aus dem niedlichen, schüchternen The Flash und dem machomäßigen Iron Man unglaublich anziehend.
Ich bin froh, dass er gerade mit Lola beschäftigt ist und ich somit ein paar Augenblicke habe, um mich zu sammeln.
»Natürlich habe ich dich vermisst, meine Lolita.« Er zwinkert ihr zu. »Schön, dass du wieder an Bord bist, Kleines.« Als er sich von ihr löst und in meine Richtung schaut, fangen meine Finger an zu kribbeln. Verdammt. Ich richte mich auf und blicke ihn herausfordernd an. Mein Herz pocht zu schnell. Und vermutlich auch zu laut.
Er zögert einen Moment und schaut mir tief in die Augen. Diese Augen. Diese meerblauen Augen, in denen ich zu gerne ertrinken möchte. Sie erzählen von Freiheit. Von Abenteuer. Von der Weite. Dem Leben.
Ich räuspere mich und zwinge meinen Blick auf den Steinboden. Viel lieber hätte ich ihn weiter angesehen, aber ich fürchte, dass ich dann zu diesem schmachtenden Mädchen mutiere, das ich beim Aufeinandertreffen mit berühmten Leuten manchmal werde. Dabei hat mich Lola gewarnt. Ich werde nicht auf diese wundervollen Augen reinfallen. Auf den schön geschwungenen Mund, der ganz sicher wundervoll küssen kann. Argh!
Ich hebe meinen Blick und sehe, wie sich Jonah eine Strähne aus der Stirn streicht und selbst diese scheinbar unabsichtliche Geste ist so unverschämt sexy, dass ich verstehen kann, warum Lola Regel Nummer Drei aufgestellt hat.
»Hey, ich bin Lin«, bringe ich mühsam raus, da er mich nur weiter anstarrt und offensichtlich nicht den Anfang machen will. »Du musst Jonah sein.« Geschafft. Und wenn ich mich nicht ganz täusche, hat es sogar einigermaßen lässig geklungen.
»Lin«, wiederholt er nachdenklich und legt schließlich den Kopf schief. »Ähm, willkommen auf Sardinien.«
Fast bin ich ein wenig enttäuscht, dass er mich nicht ebenso herzlich begrüßt wie Lola. Aber gut, die beiden kennen sich bereits, haben schon so einiges in der letzten Saison gemeinsam erlebt. Das schweißt zusammen. Dennoch wirkt sein durchdringender Blick seltsam, sein Verhalten mir gegenüber distanziert, fast schon unfreundlich.
»Carissimo, mach Platz, damit ich unser Nesthäkchen begrüßen kann. Mio Dio, du bist aber dünn!« Eine rundliche Frau, die Maria sein muss, drängt sich an Jonah vorbei und drückt mich herzlich an ihre Brust. Es fühlt sich ein bisschen wie Nachhausekommen an. Maria erinnert mich an meine Mutter. Ihre Herzlichkeit berührt mich sehr und ich bin ihr zutiefst dankbar, dass sie mich nach dieser distanzierten Begrüßung von Jonah so liebevoll empfängt.
»Nichts als Haut und Knochen. Komm, Mädchen. Ich mache dir erst einmal eine große Portion Malloreddus. Magst du Nudeln mit Safran und Tomatensoße? Du musst ja am Verhungern sein, nach deiner weiten Reise«, singt sie mit einem niedlichen italienischen Akzent. Auch wenn sie mich offensichtlich mästen will, möchte ich sie knuddeln, so unbeschreiblich süß finde ich sie. Doch bevor ich sie umarmen kann, schiebt sie mich ins Innere des Hauses. Ich brauche einen Augenblick, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, denn die Fensterläden sind geschlossen – vermutlich, um die Wärme auszusperren. Tatsächlich ist es hier angenehm kühl.
Maria bedeutet mir, an einer riesigen Tafel Platz zu nehmen und verschwindet eilig hinter einem raschelnden Vorhang. Ich setze mich und werfe Lola, die uns lachend gefolgt ist, einen Hilfe suchenden Blick zu, aber sie winkt nur ab.
»Du hast keine Chance, also lass dich von Mamma Maria mästen.« Geräuschvoll zieht sie einen der mit Bast bezogenen Stühle über die rostroten Fliesen und setzt sich mir gegenüber an den rustikalen Holztisch. »Schön, dass sie ein neues Opfer gefunden hat. In der letzten Saison habe ich sage und schreibe fünf Kilo zugenommen und den halben Winter gebraucht, um abzuspecken.« Na, wenn das mal keine schönen Aussichten sind.
Inzwischen sind auch Sebi und Jonah in das heimelig anmutende Esszimmer getreten. Ich meide Jonahs Blick, spüre aber deutlich, wie er mich von der Seite mustert. Ich habe schon mit vielen gut aussehenden Typen getanzt, mit talentierten Kerlen gesungen. Jungs machen mich normalerweise nicht sehr nervös. Aber jetzt hier mit Jonah ist es anders. Irgendetwas an ihm verunsichert mich.
»Jungs, ich habe das Gefühl gleich durchzudrehen. Es ist so megamäßig genial, endlich wieder hier zu sein.« Lola klatscht enthusiastisch in die Hände. »Wie war der Winter im Paradies, Jo? Ich dachte, du meldest dich mal?« Gespielt enttäuscht schürzt sie die Lippen.
»Was denn? Die SMS zu Weihnachten hat dir nicht gereicht?« Ob er weiß, wie unverschämt gut seine Stimme klingt? Dass sie sich wie eine Mischung aus schwerem Samt und geschmeidiger Seide über mich legt und mich in trügerische Wohligkeit hüllt?
Lola straft ihn mit einem düsteren Blick und wendet sich dann Sebi zu.
»Was hast du den Winter so getrieben? Hast du ein paar schnuckelige Jungs umgarnt?« Sie lehnt sich zurück und bedeutet Sebi, sich neben sie zu setzen. Er lässt sich nicht lange bitten und zieht sich einen Stuhl heran. Mein Herz klopft wieder diesen viel zu schnellen Takt, denn wenn Jonah nicht unhöflich ist, müsste er sich nun zu uns setzen. Neben mich. Tut er aber nicht. Stattdessen räuspert er sich und zieht die Augenbrauen hoch.
»Ich muss los, Kirstens Flieger landet bald und ich sollte davor noch etwas erledigen. Zeigt ihr Lin alles? Das Zimmer, die Anlage, unsere Räume …«
»Wir kommen klar, Jo. Verschwinde ruhig«, unterbricht ihn Sebi und bewirft ihn mit einer Serviette. Jonah fängt sie geschickt auf und lacht. Ein offenes, unwiderstehliches Lachen.
»Wartet nicht auf uns, es wird sicher spät. Morgen früh starten wir mit der ganzen Orga – da solltet ihr fit sein. Frühstück, wie immer um acht?«, vergewissert er sich. Lola und Sebi nicken eifrig.
»Jawohl, Chef«, sagt Lola betont ehrfürchtig, nur um anschließend in ein albernes Gekicher zu verfallen. Jonahs Blick wandert zu mir. Ich unterdrücke ein allzu amüsiertes Lächeln, denn ich will nicht gleich am ersten Abend seine Autorität in Frage stellen. Einen Moment scheinen mich seine Augen zu durchbohren. Den Ausdruck in seinem Gesicht kann ich nicht deuten. Kein Lächeln. Kein Zeichen, was er von mir hält. Ich versuche, mich nicht davon einschüchtern zu lassen. Vielleicht braucht er einfach ein bisschen Zeit, bis er zu mir ebenso aufgeschlossen und nett ist wie zu den anderen.
»Treibt‘s nicht zu wild!«, ermahnt er uns erneut und verschwindet hinter dem Vorhang, durch den auch Maria getreten ist. Ich höre gedämpftes Gemurmel, das sich mit Geschirrgeklapper mischt. Lola gähnt herzhaft und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Nach all der Anspannung und Aufregung nimmt die Müdigkeit auch langsam von mir Besitz. Ich freue mich auf mein Bett, eine kuschelige Decke und ein bisschen Entspannung.
»Ich besorge uns mal was zu trinken«, schnurrt Sebi schließlich und steht auf. Lola kramt ihr Smartphone raus und tippt mit flinken Fingern eine Nachricht ein.
»Und? Wie gefällt es dir?«, murmelt sie und steckt das Smartphone wieder in ihre Tasche. »Hab ich dir zu viel versprochen?« Ihre Augen leuchten.
»Das, was ich bisher gesehen habe … ja, das ist toll. Ich bin gespannt auf den Rest. Sind denn schon Gäste da?«, frage ich neugierig. Durch die Recruiting-Days weiß ich, dass die nächsten drei Wochen in allen Easy Camps geblockt sind, um die Abendshows einzustudieren. Die Animation wird erst danach starten. Dennoch haben einige Anlagen schon geöffnet.
»Klar. Aber noch ist es ruhig. Sobald in Deutschland die Pfingstferien anfangen, fallen sie hier ein wie die Heuschrecken. Und im Sommer … Oh mein Gott. Ich verspreche dir: Du hast in deinem ganzen Leben noch nie so einen Stress gehabt. Aber es ist die schönste Arbeit, die man sich vorstellen kann. Also genieß noch etwas die Ruhe vor dem Sturm. Im Sommer werden wir wohl kaum eine freie Minute haben.« Ob ich die Aussicht auf die Menschenmasse und den Trubel ebenso prickelnd finden soll wie Lola? Normalerweise verbringe ich meinen Urlaub lieber ruhig. Ich mag es, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, auf das Meer zu blicken und gedanklich ganz tief darin zu versinken. Die Ruhe schenkt mir Kraft. Und hilft mir, meine Mitte zu finden. Aber schließlich bin ich zum Arbeiten hier – nicht, um meine Seele baumeln zu lassen.
Nachdem Maria uns mit einem wundervollen sardischen Mahl verwöhnt und Sebi Aperol Spritz angeschleppt hat, bringen wir unsere Sachen in die Unterkunft. Die Zimmer für die Angestellten befinden sich etwas abseits des Campingplatzes, hinter dem Haus, in dem Maria und Peter wohnen. Sie sind zweckmäßig und schlicht, aber keinesfalls schmuddelig. Lolas und mein Zimmer ist geräumig und bietet uns genügend Platz, ein bisschen Privatsphäre zu haben. Es gibt sogar einen Fernseher. Nur, wann werden wir denn Zeit haben, um in die Röhre zu glotzen?
Ich lasse meine Reisetasche und den Trolley auf den Boden plumpsen.
»Gott, ist das alles schwer«, stöhne ich. Erschlagen setze ich mich auf das Bett nahe der Tür und schüttle meine Arme aus.
»Was um Himmels willen hast du auch dabei? Das meiste kriegen wir doch gestellt. Außer Unterwäsche und deinen Bikini brauchst du doch nicht viel. Die Gelegenheiten, um deine Klamotten auszuführen, kannst du an zwei Händen abzählen. Wobei – streich das, du wirst wohl in jeder Show mitmachen und deshalb noch nicht einmal die Abende freihaben.« Sie grinst siegessicher und reicht mir eine Hand. »Komm, ich zeig dir die Anlage.«
Erfreut stelle ich fest, dass der Club von riesigen Bäumen bewaldet ist. Pinienduft hängt in der Luft und erinnert mich ein bisschen an Sauna. Ich atme tief ein und weiß schon jetzt, dass das eines der Dinge sein wird, die ich vermissen werde, wenn ich im Herbst diesen wundervollen Ort verlasse. Zwischen den hochgewachsenen Bäumen verstreuen sich auf riesigen Flächen einzelne Zelte, Wohnwagen, Camping-Busse und Wohnmobile. Noch scheint es recht ruhig zu sein, doch das wird sich laut Lola bald ändern. Lola nickt den Urlaubern freundlich zu, an deren Übergangs-Zuhause wir vorbeischlendern.
Ich sauge die unterschiedlichsten Eindrücke auf. Das Licht ist hier so viel weicher und leuchtender als in Deutschland. Die Wärme, die über meine Haut streicht, die Gerüche und Geräusche: Alles fühlt sich nach Urlaub an.
Eine geteerte Straße windet sich durch die Anlage und führt hinunter zum Strand. Rechts und links geht es zu den terrassenförmig angelegten Flächen für die Camper. Mein Herz pocht vor lauter Vorfreude schneller, meine müden Füße beschleunigen den Gang. Das Meer. Wie sehr ich es vermisst habe. Wie sehr ich es liebe.
Die raue Nordsee ist nicht zu vergleichen mit dem lauen Mittelmeer, dessen Wasser bereits jetzt warm genug sein wird, um darin zu schwimmen.
Das Rascheln der Blätter in den Bäumen und Sträuchern nimmt zu, Wind treibt den salzigen Geruch vom Strand zu uns. Ich kann das Meer bereits hören, in regelmäßigen Wellen prescht es an Land. Fast ist es, als würde es mich zu sich locken wollen. Komm zu mir, flüstert es einladend. Komm! Und dann sehe ich den Strand zum ersten Mal. In endloser Weite breitet er sich vor mir aus. Golden glitzert der Sand in der Sonne. Badetücher tupfen bunte Farben auf den Strand. Augenblicklich fühle ich mich heimisch, dabei habe ich nie im Süden am Meer gewohnt. Doch mein Herz wird leicht bei dem Gedanken, dass ich einen ganzen Sommer vor mir habe. Einen Sommer am Meer.
Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen schnappe ich mir Lolas Hand und renne los. Gluckse wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal die Unendlichkeit des Ozeans sieht. Ungeduldig ziehe ich sie hinter mir her und lache. Lache all die blöden Gefühle raus, die ich als blinde Passagiere aus Deutschland eingeschleppt habe. Jetzt, da ich den tiefen Frieden spüre, den der Anblick des Mittelmeers in mir auslöst, bin ich mir sicher, dass ich nach den vier Monaten hier im Paradies als anderer Mensch zurückkommen werde. Stärker. Immun gegen Davids Anblick.
Als der Wecker unbarmherzig meinen komatösen Schlaf beendet, verfluche ich den gestrigen Abend. Mit Lola ein Zimmer zu teilen, ist vielleicht nicht die beste Idee. Viel zu lange haben wir gequatscht. Sie ist so froh, endlich wieder hier zu sein, dass sie mir sämtliche Anekdoten aus der vergangenen Saison ausführlichst erzählt hat. Ich habe ihr gespannt gelauscht. Jetzt, da ich ein Teil davon bin, interessiert es mich brennend. Heute kriege ich die Quittung für meine Neugier, dabei wollte ich frisch und erholt in meinen Job starten. Ich hoffe nur, Jonah wird uns nicht gleich in vollem Tempo durch den Tag jagen.
Lola und ich sind die Ersten, die beim Frühstück erscheinen. Der Tisch ist schon liebevoll gedeckt. Neben frischen, herrlich duftenden Brötchen stehen Marmeladen in unzähligen Ausführungen auf dem Tisch und ich muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass Maria die selbst gemacht hat. Auf einem kleinen Nebentisch finden sich Platten mit Wurst und Käse und auch eine gigantische Auswahl leckerer Obstsorten.
»Ist nicht immer so üppig«, murmelt Lola und nascht bereits vom Buffet, bevor ich überhaupt einen Überblick habe.
In dem Moment raschelt Maria durch den Vorhang und bringt eine dampfende Schüssel Rührei in das Esszimmer. Lola stöhnt, doch Maria lächelt nur.
»Meine Mädchen, habt ihr gut geschlafen? Ihr müsst essen, sonst denken die Gäste, wir behandeln euch hier nicht gut.« Lola lächelt, steht auf und drückt Maria einen dicken Kuss auf die Wange.
»Machen wir, Mamma. Aber beklag dich nicht, wenn du mitten in der Saison neue Klamotten für uns besorgen musst, weil wir aus allen Nähten platzen.« Ein Gähnen entkommt mir.
»Chiara, Liebes. Noch so müde? Steckt dir die Anreise noch in den Knochen?« Besorgt legt sie den Kopf schief und scheint zu überlegen, mit was sie meine Müdigkeit vertreiben könnte. Sie ist einfach zu niedlich.
»Die Gören werden ewig gequatscht haben«, mischt sich Sebi mit einem breiten Grinsen ein. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er in das Esszimmer gekommen ist, und grinse ihn zur Begrüßung an. »Du weißt doch, wie Mädchen so sind. Einmal eine Münze eingeworfen und sie finden kein Ende.« Er legt Lola freundschaftlich den Arm um die Schulter, die sich bereits beim Obst bedient und ihren Teller vollschaufelt. Ich selbst sitze noch etwas schlaftrunken vor meinem leeren Platz und überlege, wo ich einen Kaffee herbekomme. Ich muss unbedingt auf Touren kommen.
Während sich Maria wieder in die Küche verabschiedet, albern Sebi und Lola miteinander rum. Ich bewundere Lola dafür, dass sie nach dieser kurzen Nacht so fit und gut gelaunt ist. Vielleicht ist sie ja ein Morgenmensch, was auf mich definitiv nicht zutrifft.
In dem Augenblick höre ich das kratzende Geräusch eines Stuhles, der über den Fliesenboden gezogen wird. Ich schaue auf. Jonah lässt sich kommentarlos neben mir nieder, eine Tasse Kaffee in den Händen. Neidisch blicke ich auf den Schatz, der nur wenige Zentimeter von mir entfernt und dennoch unerreichbar auf dem Tisch steht. Natürlich könnte ich einfach fragen, aber auch heute spüre ich Jonahs Distanz deutlich. Dabei hat er noch kein Wort gesagt.
Unschlüssig lasse ich meine Hand über die unterschiedlich großen Brötchen kreisen, die in der Mitte des Tisches in einem Bastkörbchen liegen, und entscheide mich schließlich für ein Exemplar, das mich stark an die Lieblingsbrötchen aus meiner Kindheit erinnert.
»Kaffee?« Ich zucke merklich zusammen, als Jonah unvermittelt das Wort an mich richtet. Überrascht blicke ich ihn an und muss aussehen wie ein verschrecktes Reh. Auch heute sieht er blendend aus, obwohl ihm deutlich anzusehen ist, dass seine Nacht nicht wesentlich länger gewesen sein konnte als meine. Sein Bartschatten ist dunkler geworden und betont die Ringe, die sich unter seine Augen gelegt haben. Seine Haare sehen etwas zerzauster als gestern aus und ich muss mich zusammenreißen, um sie nicht glatt zu streichen. Er zieht einen Mundwinkel hoch und nickt Richtung Kaffeetasse. Ich brauche noch einen Moment, bis ich schließlich verwirrt meinen Kopf in alle Richtungen schüttele, was wohl eine Art unkonkretes Jein vermittelt. Oh Gott, er muss denken, ich kann nicht bis drei zählen.
»Gerne«, ergänze ich daher murmelnd und schenke ihm ein schwaches Lächeln. Wieder möchte ich in diesen blauen Augen ertrinken, die mir heute so viel dunkler erscheinen. Stürmische See. Ich zwinge meinen Blick auf den Tisch, greife verwirrt zum Messer, um mein Brötchen aufzuschneiden. Und damit ich etwas zu tun haben, denn mein Herz galoppiert schon wieder diesem Möchtegern-Herzensbrecher entgegen.
Regel Nummer Drei, ermahne ich mich in Gedanken. Regel Nummer Drei!
»Milch? Zucker?«, kommt seine knappe Frage.
Wieder nicke ich und besinne mich dann aber eines Besseren.
»Milch. Dankeschön.« Nichts ist mehr von der lethargischen Müdigkeit übrig, die meinen Körper vor Jonahs belangloser Frage gelähmt hat.
Endlich werde ich erlöst, da er aufsteht. Ich atme geräuschvoll aus, als er hinter dem Vorhang verschwunden ist, und hoffe, Lola und Sebi kriegen nicht mit, wie sehr mich Jonah verwirrt. Was kann man denn nur gegen diese geballte Männlichkeit tun?
Ich nutze Jonahs Abwesenheit – und damit meinen einigermaßen klaren Kopf, der auf Kommando stillzustehen scheint, sobald Jonah auch nur in der Nähe ist – und schmiere mir ein Brötchen. Nach einem kurzen Blick greife ich zur für Sardinien typischen Myrten-Marmelade. Genüsslich beiße ich hinein. Der süße, intensive Geschmack legt sich über meine Zunge und breitet sich in meinem Mund aus. Köstlich. Fluffig. Gierig nehme ich noch einen Bissen und verschlucke mich fast, als Jonah durch den raschelnden Vorhang schwebt. Natürlich schwebt er nicht wirklich, aber sein Aussehen erinnert mich doch an einen Engel. Einen dunklen, verruchten und verdammt sexy aussehenden Engel. Ich schlucke.
Ohne mich anzusehen, stellt er die volle Tasse vor mir ab und bedient sich noch im Hinsetzen von den Brötchen.
»Boah, ich will auch Kaffee«, mault Lola los, als sie die dampfende Tasse sieht, und stemmt die Hände in die Hüften. Giftig kneift sie die Augenbrauen zusammen und funkelt Jonah an. Der lässt sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen und schneidet sein Brötchen seelenruhig auf.
»Die Maschine steht noch am gleichen Platz. Bedien dich.« Seine Stimme ist freundlich. Sie ist wundervoll. Stopp. Schluss mit dieser Schwärmerei, weise ich mich selbst in die Schranken. Er ist doch verdammt nochmal kein Rockstar, bei dem das Fangirlen eine gewisse Berechtigung hat. Gut, er ist sexy. Verdammt sexy. Aber zum einen deutet nichts - absolut gar nichts - darauf hin, dass er in mir mehr sieht als eine Kollegin. Zum anderen kann ich mir nicht noch mehr Herzschmerz leisten. Noch immer scheppern die Einzelteile meines Herzens in meiner Brust, das David so sorgsam zerschmettert hat. Und wenn ich mir Jonah so anschaue, ist Herzschmerz bei ihm vorprogrammiert. Lolas Regel Nummer Drei unterstreicht das.
»Jonah leidet manchmal etwas unter frühmorgendlicher Depression«, erklärt mir Lola. »Und? War es wieder einmal spät heute Nacht? War sie es wenigstens wert?«, neckt sie Jonah und legt den Kopf mit einem eindeutigen Grinsen schief.
»Nicht, dass es dich etwas angehen würde, kleine Lolita, aber sie heißt Kirsten und ihr Flieger hatte Verspätung. Wenn ich richtig liege, waren wir gegen vier Uhr hier. Noch Fragen?« Um seine Erklärung zu unterstreichen, gähnt er herzhaft und streckt sich betont langsam auf seinem Stuhl aus. Dabei streift er meine Schulter und mein Körper reagiert augenblicklich mit einem Kribbeln.
»Und? Wo ist Kirsten? Wie ist sie? Mach es doch nicht so spannend! Erzähl schon.« Lola scheint besänftigt zu sein, stellt ihren voll beladenen Teller auf dem Tisch ab und setzt sich zu uns. Die Neugier steht ihr ins Gesicht geschrieben.
»Sie schläft – ich habe ihr heute Vormittag freigegeben. Was für euch allerdings nicht gilt. Also: Gebt Gas! In ‚ner halben Stunde geht es los.«
»Danke für die ausführliche Berichterstattung, Jo!« Sie funkelt ihn enttäuscht an. »Manchmal bist du echt ein Arsch.« Sie rauscht beleidigt ab und durch den Vorhang ertönt das Rattern der Kaffeemaschine. Ich traue mich endlich, die Kaffeetasse in die Hand zu nehmen und einen Schluck des Zaubertranks zu trinken. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber das ist mit Abstand der beste Kaffee, den ich bislang getrunken habe. Über den Rand der Tasse wage ich einen Blick in Jonahs Richtung.
Im Vergleich zu gestern wirkt er heute etwas angespannter und angeschlagener. Seine Augen, die gestern nur so voller Leben gesprüht haben, wirken heute müde und matt. Vielleicht täten ihm ein paar Stunden Schlaf gut, doch das geht mich nichts an. Stattdessen widme ich mich wieder meinem Brötchen und zwinge mir die zweite Hälfte hinunter – diesmal mit einer herrlich bitteren Orangenmarmelade. Ich fürchte, Lola wird recht behalten. Am Ende der Saison werde ich das Camp kugelrund und mit zwei Kleidergrößen mehr verlassen.
Jonah macht Ernst und steht nach exakt dreißig Minuten vom Frühstückstisch auf.
»Treffen in fünf Minuten auf der Bühne.« Zielstrebig läuft er auf den Ausgang zu und hält kurz inne.
»Lola zeigt dir, wo das ist«, sagt er an mich gewandt.
»Okay. Bis gleich«, beeile ich mich zu sagen und kann nichts dagegen tun, dass ich mich ein kleines bisschen freue, weil er an mich gedacht hat. Aber wahrscheinlich ist er bei allen Neuen so fürsorglich. Sein Blick bohrt sich in mein Inneres, doch diesmal halte ich ihm stand und schaue nicht zu Boden. Der Moment dehnt sich zu einer Ewigkeit aus. Warum nur schaut er mich so an?
»Komm nicht zu spät!«, murmelt er schließlich und eilt davon.
»Wow, alle pünktlich.« Jonahs Stimme trieft vor Sarkasmus, denn Sebi ist weit und breit nicht zu sehen. Lola verdreht genervt die Augen. Offensichtlich ist sie es nicht gewohnt, dass hier so eine Stimmung herrscht. Ich frage mich, ob es an mir liegt, dass Jonah so schlecht drauf ist, verwerfe den Gedanken aber schnell wieder, da ich mir nichts vorzuwerfen habe.