Barwasser, Frank-Markus Erwin Pelzig

PIPER

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ISBN 978-3-492-97398-4

Juni 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2003

Covergestaltung/Bildredaktion: Büro Hamburg

Heike Dehning, Charlotte Wippermann, Alke Bücking, Kathrin Hilse

Coverfoto: Peter Frese, München

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Eine erfundene Person ist viel lebendiger

als ein Mensch, denn sie ist nicht den Gesetzen der vulgären Wahrheit unterworfen, sondern ausschließlich den

Gesetzen der Wirklichkeit. Der vom Stolz getriebene Mensch substituiert dem Leben eine falsche Wirklichkeit. Die erfundene

Person ist vielleicht weniger wahr, aber viel mehr wirklich.

Luigi Pirandello

Familiensachen.
Ein Vorwort

Erwin Pelzig kam zu Beginn der 90er Jahre zur Welt. Ich kann nicht behaupten, er sei ein geplantes Kind gewesen. Aber er war auch kein unerwünschtes Kind. Eigentlich kam er nicht als Kind zur Welt, sondern als erwachsener Mensch. Seitdem ist es mit ihm nicht immer ganz leicht gewesen, denn manche Unarten seiner frühen Jahre mußte ich ihm erst austreiben. Seine Neigung, durch die falschen Rückschlüsse zum richtigen Ergebnis zu gelangen oder durch die richtigen Rückschlüsse beim falschen Ergebnis zu landen, ist ihm bis heute geblieben. Das Reizvolle für den Erfinder erfundener Personen ist es, daß er scheinbar nach Belieben darüber entscheiden kann, wie sich sein Geschöpf entwickelt und wohin es zu gehen hat. Erfundene Menschen widersprechen nicht. Sie fügen sich brav ihrem Schicksal. Erfundene Menschen sind zu bedauern, sie leben in einer hoffnungslosen Abhängigkeit von ihrem Erzeuger und sind willenlose Werkzeuge.

Aber ist das wirklich so?

Ich bin mir inzwischen nicht mehr ganz sicher. Nach vielen Jahren mit Erwin Pelzig beginne ich mich nicht nur zu fragen, ob ich ihn immer gut behandelt habe. Ich frage mich auch, ob immer nur ich es bin, der das fragt. Oder fragt mich Erwin Pelzig?

Ist es womöglich so, daß erfundene Personen irgendwann die fiktive Welt verlassen und sich im wirklichen Leben breitmachen? Vielleicht können ja erfundene Personen allein durch ihre Wahrnehmung Dritter wirklich werden. Es gibt Serien-Schauspieler, die Drogendealer spielen mußten und die von erbosten Zuschauern auf der Straße verprügelt worden sind. Was für ein Kompliment.

Aber selbst wenn erfundene Personen dadurch wirklich werden, daß sie für wirklich gehalten werden, so verfügen sie dennoch nicht über ein eigenes Ich und können ihrem Erfinder somit auch keinen Kummer bereiten. So dachte ich jedenfalls immer. Auch da bin ich mir mittlerweile unsicher.

Vor einiger Zeit erhielt ich eine E-mail aus den USA von einer Mrs.Pelzig, die wissen wollte, ob es ein Verwandtschaftsverhältnis gebe zwischen ihr und Erwin, und daß es doch sehr schön wäre, wenn man sich gelegentlich kennenlernen würde. Zunächst lachte ich noch bei dem Gedanken, Erwin Pelzig zu einem Familientreffen in die USA zu schicken, wo tatsächlich viele Menschen leben, die so heißen. Aber dann, während einer nächtlichen Heimfahrt nach einer Vorstellung, passierte es. Erwin Pelzig meldete sich zu Wort. Nicht, daß ich mich in einem schizophrenen Dialog mit mir selbst befunden hätte. Es handelte sich vielmehr um ein diffuses Schuldgefühl, welches Pelzig in mir auslöste durch eine Frage, die nicht ich stellte, sondern die aus ihm herausbrach: Warum er nicht in die USA reisen dürfe, und überhaupt sei es nicht gerecht, daß ich ihn so alleine in die Welt gestellt habe – und das auch noch in dieser unmöglichen Bekleidung. Aber schlimmer noch: Privates Glück, die große Liebe und eine eigene Familie seien ihm ebenfalls von mir vorenthalten worden. Auch könne er immer nur von seiner Kindheit und Jugend erzählen, ohne sie selbst erlebt zu haben. Ich antwortete ihm, andere hätten zwar eine Kindheit und Jugend erlebt, könnten aber heute so gut wie nichts darüber berichten, und daß es doch besser sei, Erinnerungen an etwas zu haben, was man nicht erlebt hat, als etwas erlebt zu haben und sich nicht mehr erinnern zu können. Das hat ihn ein wenig beruhigt, obwohl ich nicht davon überzeugt bin, daß er mich verstanden hat.

Den Vorwurf, Pelzig sei ganz alleine in der Welt, will ich nicht gelten lassen. Ich habe ihm ja zwei Begleiter zur Seite gestellt: Hartmut und Herrn Dr. Göbel. Aber ich fürchte, auch diese beiden sind mit ihrem Schicksal oft unzufrieden, denn sie beginnen gegen mich aufzubegehren und mir das Bewußtsein ihres eigenen Ichs um die Ohren zu hauen: Herr Dr. Göbel macht mir neuerdings Vorwürfe, daß ich ihn in die ständige Gesellschaft von Erwin Pelzig und Hartmut hineinschreibe. In seinem Bekanntenkreis gebe es nun wirklich interessantere Persönlichkeiten. Und das Amt als Schriftführer des Vereins für zeitgenössische Kirchenbestuhlung hätte er am liebsten auch schon längst niedergelegt, dann könne er endlich mehr Zeit mit seiner Frau Irmel verbringen – wenn ich es nur zuließe. Sogar Hartmut beginnt, eigene Vorstellungen vom Leben zu entwickeln. Unlängst behauptete er, er sei kulturell interessiert und könne sogar Geige spielen. Und er wolle endlich einen Schulabschluß nachholen.

Was kommt da auf mich zu? Habe ich alles noch im Griff?

Ich habe bereits in Erwägung gezogen, einen Arzt aufzusuchen. Aber wir vier konnten uns nicht einigen, wer für so einen Fall geeignet sei.

Es ist an der Zeit, daß ich mich wieder durchsetze. Die Reise in die USA wird Pelzig nicht antreten. Ich werde fahren und seine Familie besuchen. Erwin will ich davon lieber nichts erzählen, und ich möchte die Leserinnen und Leser bitten, das ebenso für sich zu behalten. Er wäre enttäuscht und würde es mir übelnehmen. Ins Grübeln komme ich nur, wenn ich mir überlege, was die drei machen werden, während ich weg bin. Es würde mich nicht wundern, wenn sie einfach ohne mich losziehen.

Frank-Markus Barwasser, März 2003

Was wär’ ich ohne mich?

Wissen Sie, was für mich das Wichtigste im 20.Jahrhundert gewesen ist? Das Wichtigste war für mich im Grund meine Geburt. Weil meine Geburt ist der einzige Event, wo ich wirklich jeden Tag was von hab!

Ich freu mich, daß es mich gibt. Ich wach oft auf am Morgen und denk, Mensch Pelzig, alte Hütte, dich gibt’s ja immer noch. Und dann freu ich mich so, daß ich dalieg. Und net ein Fremder. In meinem Bett!

Ich sag immer: Was wär ich ohne mich? Ich wär ja nix. Ich wär ja nicht nur nix, ich wär ja überhaupt nix.

Und wäre ich nicht geboren worden, dann hätte jetzt vielleicht ein anderer dieses Buch geschrieben, und der hätte ein Zeug geschrieben, das Sie vielleicht gar nicht lesen wollten, und Sie würden denken: Warum ist der Erwin Pelzig nicht geboren worden? Ich geb aber zu: Das könnten Sie ja gar nicht denken, weil Sie ja nicht wüßten, was ich denken tät, wenn’s mich nicht geben tät. Insofern ist es doch gut, daß es mich gibt, weil Sie so wissen, was ich alles nicht denken könnt, wenn ich nicht da wär.

Und wissen Sie, worauf ich stolz bin? Es gibt nämlich nicht viel, worauf ich stolz bin, aber auf manche Sachen schon. Zum Beispiel auf meine Geburt. Das ist das einzige Mal gewesen, wo ich mich wirklich gegen meine Mutter durchgesetzt hab. Ich war ja kein erwünschtes Kind. Als ich geboren wurde, hat mich der Arzt hochgehoben und mir eine gebatscht. Aus medizinischen Gründen. Meine Mutter hat dann aber auch noch mal zugeschlagen. Aus persönlichen Gründen. Und wissen Sie, worauf ich noch stolz bin? Das ist sozusagen mein Lebenswerk und meine Lebensleistung: Ich, Erwin Pelzig, ich hab die Atombombe nicht erfunden. Da bin ich stolz drauf, weil das kann nicht jeder von sich sagen, sonst gäb’s das Atombömbli nicht. Ich hab sie nicht erfunden – das kann ich jederzeit beweisen! Und ich habe ja noch viel mehr nicht gemacht: kein Giftgas, keine Landminen. Vielleicht gibt’s später mal eine Tafel an meinen Haus, wo draufsteht: »Hier lebte Erwin Pelzig, und er entdeckte nichts.« Ich erinnere mich noch an manchen Abend im 20.Jahrhundert. Während andere in ihren Labors umeinandergeforscht haben, saß ich daheim und hab einfach nix getan. Es gab Abende im 20.Jahrhundert, da hab ich noch nicht mal einen Hund überfahren. Es gibt ja Leut, die sagen, ich hab keine Zeit zum Nixtun, ich muß schaffen. Bei mir ist das genau umgekehrt. Ich hab gar keine Zeit zum Schaffen, weil ich muß ja so oft nix tun. Wenn alle Menschen nix tun würden, dann gäb’s nie mehr Stau. Und wahrscheinlich auch gar keine Überbevölkerung. Und überhaupt, wenn alle Menschen nix tun würden, gäb’s nie mehr Krieg. Drum rate ich Ihnen für unser neues Jahrtausend: Machen Sie das gleiche wie ich, einfach nix.

Schicksals Knötli

Am Abend bevor der Kennedy erschossen worden ist, da hat’s ja bei uns gestürmt, und ich hör meine Mutter noch sagen: Guck hi, es stürmt! Mein Vater ist dann ans Wohnzimmerfenster gegangen und hat nachgeschaut und gesagt: Tatsächlich, die Mutter lügt nicht, es stürmt! Ich bin dann noch mal ans Küchenfenster gegangen, hab nachgeschaut und gesagt: Ja, da auch! Da hat man sich zunächst mal noch gar nix gedacht. Ich hör noch meine Mutter sagen: Na, da fahren wir morgen wohl mal besser in den Garten raus. Am nächsten Tag sind wir also los. Interessant ist: Wie wir losgefahren sind, da hat Kennedy noch gelebt. Wir sind dann nichtsahnend im Garten angekommen und haben gleich gesehen: Die Dachpappe ist locker, und drei Tontöpf sind hin. Kennedy aber noch nicht. Das ist bewiesen. Dann ist mein Vater aufs Dach nauf, und ich hör meine Mutter noch sagen: Nimm den Handschuh. Depp! Mein Vater also nauf aufs Dach, ich hör ihn noch nageln. Und auf einmal fallen drei Schüsse. In Dallas. Und kurz drauf war das Dach fest und Kennedy tot. Mein Vater ist dann vom Dach runter. Hat natürlich keine Ahnung gehabt, was in der Zwischenzeit passiert war. Am Abend dann im Fernsehen, da erst haben wir das Drama mitbekommen. Wir haben ja den Kennedy noch in Schwarzweiß von uns gehen sehen. Das war alles sehr bedrückend. Wir wären ja normalerweise gar nicht in den Garten nausgefahren. Im Winter waren wir nämlich nie im Garten. Fast nie. Als sie den John Lennon erschossen haben, da waren wir auch im Garten. John Lennon war für mich ein Frostschaden. Aber Kennedy? Es hatte gestürmt. Da hatte man sich noch gar nix denken können, aber hernach ist man immer gescheiter. Hernach ist uns dann auch einiges aufgefallen: zum Beispiel beim Ungarn-Aufstand, war’s da nicht auch windig? Da fragt man sich schon, könnte der Kennedy noch leben, wären wir nicht in den Garten gefahren? Was weiß man, wie das Schicksal die Knötli knüpft. Als die Queen Elisabeth zum ersten Mal in Deutschland gewesen ist, da waren wir nicht im Garten. Prompt ist ihr nix passiert.

Genervte Frösche

Ich hab oft Weltschmerz, aber man darf solche Gedanken gar nicht erst so zulassen. Ich schau mir dann immer schöne Filme an, so a weng heile Welt. Warum denn nicht, das braucht der Mensch. Andere machen es anders. Andere werden religiös. Der Doktor Göbel zum Beispiel, ist immer ganz religiös, wenn’s brennt. So ein richtiger Krisen-Christ. Damals, nach dem Attentat vom 11.September, hab ich ihn vor seinem Haus stehen sehen. Total verzweifelt und mit einem Teelicht in der Hand. Frag ich ihn: Was machen Sie denn da? Sagt er: Ich bin eine Lichterkette! Ich hab dann noch gesagt: Herr Doktor Göbel, jetzt nehmen Sie wenigstens zwei Teelichter, und stellen Sie sich nicht in die pralle Sonne rein, man sieht ja nix.

Für mich wär sowas nix. Wenn die Welt wirklich mal untergeht irgendwann, werd ich lieber ins Kino gehen. Wissen Sie, was ich mich oft frage? Wenn mal ganz überraschend der Weltuntergang käm, was zieht man da an?

Ich träum so oft davon, daß die Welt gut wäre. Überlegen Sie mal: Wenn die Welt gut wär und alle Menschen wären ehrlich, dann bräuchten wir zum Beispiel keine Straßenbahnkontrolleure mehr. Die könnten dann was Sinnvolles tun und könnten dann, was weiß ich, beim Bund Naturschutz Fröschli schleppen. Oder was wird aus den Kaufhausdetektiven, wenn keiner mehr klaut? Die könnten dann mit den Kontrolleuren beim Bund Naturschutz Fröschli schleppen. Das wäre doch schön. Dann bräuchten wir auch keine Polizisten mehr und keine Soldaten. Es gibt 28Millionen Soldaten auf der Welt. Die wären alle überflüssig. Die könnten alle mit den Kontrolleuren beim Bund Naturschutz, naja, da müßte man dann mal prüfen, ob die Fröschli reichen. Weil wenn dann noch die ganzen Arbeiter aus der Waffenindustrie dazukommen! Und die Kirchen bräuchte auch keiner mehr. Die Welt wär gut, das Planziel wär erreicht. Das wird eng mit den Fröschli.

Man könnte natürlich sagen: Die eine Hälfte der Welt züchtet Frösche, die andere trägt sie. Jedenfalls müssen Sie zugeben: In einer guten Welt wird verdammt viel Personal freigesetzt. Und auf alle Fälle ist eine gute Welt eine Welt voller genervter Fröschli, weil die auch kurze Strecken nicht mehr zu Fuß gehen dürften. Und außerdem ist eine gute Welt eine Welt ohne gutes Gewissen. Weil es gibt kein gutes Gewissen ohne ein schlechtes Gewissen, aber wie wollen Sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie gut sind? Das ist der Unterschied zu unserer Welt. Wir müssen immer ein Gewissen haben, weil wir uns ständig entscheiden müssen zwischen Gut und Bös. Das macht es so anstrengend, ein Mensch zu sein. Weil was ist schon gut, was ist schon bös? Für die Bösen sind wir ja die Bösen. Dabei sind wir die Guten, aber das wissen die Bösen nicht, weil die Bösen meinen, sie wären die Guten.

In einer guten Welt sind alle gut. Oder alle bös. Weil wenn alle bös sind, ist ja alles wieder gut. In der Tierwelt ist das ganz anders. Da gibt’s überhaupt keine Guten oder Bösen. Ich wäre manchmal gern ein Viech. Also nicht gerad eine Batteriehenne. Aber ich wär zum Beispiel manchmal gerne ein Krokodil. Das hat’s so einfach. Das hängt einfach nur im Fluß rum und wartet auf Beute. Und dann kommt irgendwann so eine Zebramutter mit dem Zebrakind, und die wollen jetzt da nüber. Und das Krokodil sieht das und denkt sich … also, es denkt sich eben nix. Es denkt sich maximal: Mahlzeit! Jetzt geht die Zebramutter mit ihrem Kind ins Wasser rein, und sie schwimmen los. Das Zebrakind ist natürlich noch a weng langsam. Die Zebramutter dreht sich auch immer wieder um und schaut, wo es denn bleibt, das Zebrakind. Und das Krokodil kommt näher und näher, und es hat auch noch zwei Arbeitskollegen mitgebracht. Und auf einmal, zack, schießt von unten ausm Wasser das riesige Krokodilsmaul nach oben, und man sieht noch das Köpfli vom Kindli kurz über der Wasseroberfläche, ein letzter Schrei – und schon war’s das. Grausam, gell? Aber keiner denkt sich was. Die Zebramutter nimmt es nicht mal persönlich. Natürlich, sie hat Angst und die gestreifte Hose gescheit voll, aber sie denkt sich nix. Keiner denkt sich was im Tierreich. Oder denken Tiere was? Ein Gehirn hams ja. Was denkt die Kuh, wenn’s regnet? Was denkt der Wurm am Haken?