Natasha verscheuchte energisch jede Vorstellung davon, was in diesem sumpfigen Wasser alles herumschwimmen mochte. Ihr Kinn berührte die Oberfläche, die tagsüber giftgrün gewesen war. Der Gestank ließ sie nur flach atmen. Die Geräusche des nächtlichen Dschungels waren laut genug, dass ihr Vormarsch unbemerkt vonstattenging.
Kevin tippte ihr von hinten auf die Schulter. Das Zeichen zum Angriff. Kevin und Bodo, die besten Schwimmer im Team, übernahmen mit ihr zusammen den Angriff vom Fluss aus. Chris, Gabriella und Pit deckten zusammen mit Smart den rechten Bereich des Abschnitts mit der breiten Straße ab. Carolina, Mark, Zoe und Ulf näherten sich der Hüttensiedlung von der linken, höher gelegenen Seite aus. So hatte Caro als Scharfschützin die beste Position, um in Deckung zu liegen und die Situation optimal im Auge zu behalten.
Auf den Satellitenbildern hatten sie sehen können, dass die winzige Siedlung aus nur vier Hütten bestand. Zwei davon waren größer, lang gezogen, und eine der kleineren, die direkt am Fluss lag, wurde streng bewacht.
Laut der Aufklärungstruppe befanden sich zwanzig Mann im Dorf. Um das Gebäude, in dem sie aufgrund der Bewachung die Geiseln vermuteten, waren sechs Männer verteilt. Zwei davon drehten Natashas Gruppe den Rücken zu. Sie plauderten miteinander. Ein roter Punkt glühte in regelmäßigen Abständen auf, wenn einer der beiden an seiner Zigarette zog.
Natasha machte das Zeichen für »Abwarten«. Dem Gespräch der Bewacher hatte sie entnommen, dass sich gerade einer von den Wächtern bei den Geiseln aufhielt. Sie wusste, dass Gerling bei der Entführung eine Kugel abbekommen hatte, und die Wunde wurde offensichtlich behandelt. Das war der Vorteil, wenn es in diesen Ländern um Lösegelderpressung ging. Man musste die Geiseln am Leben erhalten, denn sie sollten nicht an einer Infektion sterben.
Major Wagner, der Einsatzleiter, hatte sich eindeutig geäußert: Keine Befreiungsaktion, wenn sich bewaffnete Wachleute bei den Geiseln aufhielten.
Es plätscherte leise, und der eine Wachmann drehte sich um. Natasha hielt die Luft an und tauchte lautlos unter. Durch die Wasseroberfläche sah sie ein Licht mehrmals über den Sumpf streifen, dann wurde es wieder dunkel. Sie wartete noch ein paar Sekunden, bevor sie mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Am schwierigsten war es, beim ersten Atemzug kein Geräusch zu machen. Ihre Lungen brannten, und sie spürte ein leichtes Schwindelgefühl. Sie blickte kurz auf die Uhr, eine Spezialanfertigung, an der sich die Uhrzeit ablesen ließ, ohne dass man ein Signalfeuer erzeugte. Es war lächerlich, sie war gerade mal knapp fünfzig Sekunden unter Wasser gewesen. Normalerweise bereitete ihr das keine Probleme. Sie konnte locker die doppelte Zeit ohne Sauerstoff auskommen.
Wieder tippte Kevin sie an. Sie musste erklären, warum sie zögerte. Alle anderen lagen in ihren Stellungen und warteten auf das Zeichen zum Start. Die Situation war schließlich perfekt – zwei Wachen außer Sichtweite der anderen Hütten direkt am Ufer, dahinter die Rückwand der Hütte, in der sich die Geiseln befanden. Es war geplant, dass Bodo und Kevin in die Rollen der Wachleute schlüpfen sollten, um ihr einen Zeitpuffer zu verschaffen, damit sie die Familie Gerling unbemerkt befreien konnte. Dabei war klar, dass eine solche Charade nicht lange vorhalten würde.
In ihrer teameigenen Zeichensprache verdeutlichte sie Kevin, was sie gehört hatte. Dann erstarrte sie, als sie mitbekam, worüber die beiden Wachen jetzt sprachen. Das Plätschern hatte nicht etwa jemand vom Team verursacht, sondern ein auf der Lauer liegender Alligator, der sich einen Fisch einverleibt hatte. Selbstverständlich waren sie gebrieft worden, mit welchen Wildtieren sie möglicherweise in Kontakt geraten würden. Immerhin bewegten sie sich lautlos durch den Dschungel. Sie wusste, dass Alligatoren keine Menschen verschlingen, schon weil sie ihr Maul gar nicht weit genug aufsperren können. Abgesehen davon war es bekannt, dass diese menschenscheuen Tiere nur angreifen, wenn sie sich selbst angegriffen fühlen. Dumm nur, dass sie ausgerechnet nachts durch einen Fluss mit diesen nachtaktiven Reptilien schwammen. Sie hoffte, dass das Ultraschallsignal, das die Sensoren ihrer Anzüge abgaben, die Räuber von ihnen fernhielte. Sollte sie Kevin und Bodo signalisieren, dass sich in ihrer Nähe gerade ein Alligator seine Mahlzeit jagte? Besser nicht.
»Zwei Wachmänner kommen aus der Hütte mit den Geiseln«, hörte sie Mark über ihr Headset sagen. Da er und Caro die größte Distanz zum Angriffsziel hielten, übernahmen sie auch die Kommunikation mit der Basis.
»Dann wissen wir jetzt auch, weshalb unsere Schwimmer nicht aus dem Wasser kommen«, bemerkte Wagner, der im Ausgangslager die Satellitenbilder im Auge behielt.
»Hey, Natasha, ich will später alle dreckigen Witze erzählt kriegen, mit denen sich die Wachleute die Zeit vertreiben. Muss ja irgendeinen Vorteil haben, wenn man ein Sprachgenie in der Truppe hat.«
Echt witzig. Natasha spürte, wie leichte Übelkeit in ihr aufstieg. In letzter Zeit hatte sie oft Probleme damit. Ihr Magen war überempfindlich geworden, und ihr Geruchssinn ebenso.
Sie fokussierte ihre Gedanken wieder auf den Einsatz und näherte sich langsam – gefolgt von ihren zwei Teamkameraden – dem Ufer mit den zwei Wachmännern, die ihnen erneut den Rücken zukehrten. Der eine steckte sich eine neue Zigarette am Stummel der alten an. Natasha schwamm, bis ihr Bauch den Boden berührte. Sie vertraute darauf, dass auch Kevin und Bodo hinter ihr in Startposition gingen. Mit den Armen stemmte sie den Oberkörper hoch, sprang auf die Füße und rannte los. Während sie den direkten Weg zur Rückwand der Hütte nahm, teilten sich ihre Begleiter auf und übernahmen die Wachen zu beiden Seiten.
Sie wandte sich um, hockte sich hin. Bevor Ramirez’ Männer wussten, wie ihnen geschah, hatten Kevin und Bodo die beiden mit einem gezielten Schlag ausgeknockt. Binnen Sekunden waren sie von ihrer Oberbekleidung befreit, gefesselt und geknebelt. Natasha zog rasch die Hand aus etwas Weichem neben ihr. Der Geruch von menschlichem Kot stieg ihr unangenehm in die Nase. Sie würgte, beugte sich vor und war froh, als ihr Magen den Powerriegel von zuvor wieder herausgegeben hatte.
Bodo tippte sie an. Er reichte ihr ein Desinfektionstuch, mit dem sie sich die Hand säuberte. Es roch nach Zitrone. Mit ihrem eigenen wischte sie sich den Mund sauber, trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und gab das Alles-okay-Zeichen.
»Zwei down, bleiben achtzehn«, kam es von Wagner aus dem Headset. »Auf jetzt Tempo, Kehlmann, ab in die Hütte zu den Geiseln. Römer und Steuber, Sie sichern den Eingang. Sobald wir zuverlässig wissen, dass die Familie Gerling sich dort befindet, schlagen wir zu.« Wagner trieb sie zur Eile an, aber der hatte gut reden, er saß ja in sicherer Entfernung in einem Zelt.
Bodo und Kevin zogen rasch die paar Sachen von den Wachmännern über, sodass ihre speziellen Tarn-Neoprenanzüge verdeckt wurden. Natasha verstaute derweil ihre sichtbaren Ausrüstungsgegenstände im Rucksack. Lediglich ihr Kampfmesser und die Glock, die sie statt ihrer üblichen Heckler & Koch P30 mitführte, behielt sie bei sich. Die Glock war bei den deutschen Kampfschwimmern erprobt, und sie hatte damit die letzten Tage im Lager trainiert. Zuletzt schob sie das speziell für ihre Einheit angefertigte Multifunktionstaschenmesser in ihre Hosentasche.
Ein Ersatzmagazin mitzunehmen, konnte sie sich in ihrer Rolle als gefangene Geisel nicht leisten. Ihre zwei Teamkameraden führten dafür umso mehr Munition mit sich. Den Rucksack versteckte sie an der Hüttenrückwand unter einem Busch. Entweder bliebe die Zeit, ihn wieder mitzunehmen, oder sie musste ihn als Verlust abschreiben. Im Vorfeld hatten sie zwei mögliche Fluchtvarianten festgelegt, in jedem Fall mit Fahrzeugen der Entführer, also entweder mit den Jeeps oder den am Steg liegenden Luftkissenbooten. Und wenn alles schieflief, stand noch ein Hubschrauber des venezolanischen Militärs auf Abruf. Die Zeitverzögerung, bis der einträfe, wollte jedoch keiner von ihnen riskieren.
Kevin packte sie am Oberarm und zerrte sie mit sich in Richtung Hüttentür. Dabei stieß er alle spanischen Flüche aus, die sie ihm beigebracht hatte. Er hatte im Vergleich zu Bodo die weitaus bessere Aussprache. Natasha ließ sich mitschleifen und versuchte den Eindruck zu erwecken, geschlagen worden zu sein.
Sie waren fast bis zum Eingang gekommen, als eine der Wachen vor dem Gebäude sie aufhielt.
»He, wo habt ihr die aufgegabelt?«
Der Dialekt und das Sprechtempo brachten Kevin sichtlich an die Grenzen seines Sprachtalents, doch aus der Haltung des anderen verstand er auch so, was gemeint war.
»Draußen am Fluss, sie wollte uns ausspionieren.«
»Eine Spionin? Scheiße, ihr seid doch total bescheuert. In der Einheit sind auch Frauen, ihr Idioten!«
Der Mann griff zu seinem Funkgerät. Kevin packte fester zu, und sie spannte den Körper an. Als er ihr einen Schubs in Richtung auf den Wachposten zu versetzte, war der Mann völlig perplex. Er ließ das Funkgerät fallen. Doch bevor er reagieren und seine Waffen ziehen konnte, versetzte sie ihm einen heftigen Handkantenschlag gegen die Halsschlagader. Er kippte auf sie zu, und statt zurückzuspringen, fing sie ihn auf. Bevor Bodo sich den zweiten Mann vorknöpfen konnte, hatte der bereits seine Waffe gezogen. Der Schuss traf den Mann in Natashas Armen, drang durch dessen Körper und prallte an ihrer Schutzweste ab. Sie verlor das Gleichgewicht und landete rückwärts auf dem Boden, hörte einen weiteren dumpfen Ton und drehte den Kopf. Der Wachmann lag mit einem glatten Kopfschuss neben ihr.
Caro. Der erste Schuss – der von dem Wachmann – war laut gewesen, der aus Caros Scharfschützengewehr hingegen hatte dumpf verzerrt geklungen, denn ein Schalldämpfer nimmt einem Schuss nicht jegliches Geräusch, sondern verändert es nur, sodass er nicht mehr wie ein Schuss klingt und anders interpretiert werden kann. Bodo fluchte leise vor sich hin. Weitere Wachen kamen angerannt.
Bodo hob den Mann, der auf ihr lag an, prüfte seinen Puls und schüttelte den Kopf. »Los, beeil dich. Plan B.«, zischte er ihr zu.
»Nimm am besten gleich Plan C«, brummte Kevin, der die Hände defensiv hob und einen Schwall spanischer Flüche losließ.
Natasha ignorierte die Männer, die auf sie zugelaufen kamen, vertraute auf ihre Kameraden – sie würden ihr den Rücken freihalten – und lief in die Hütte.
Sie blieb stehen. Shit! Das war ja klar. Sie hatten verschiedene Szenarien dessen, was sie vorfinden würden, durchgespielt. Nun bot sich ihr das Bild des Worst-Case-Szenarios. Die Geiseln waren in der Hütte in eine Zelle gesperrt.
»Schlüssel?«, bellte Natasha ins Headset.
»Mist!«, fluchte Bodo.
Draußen wurden die Stimmen lauter. Es war abwegig zu glauben, sie könnten das Ruder noch herumreißen.
»Wer sind Sie?«, kam es stöhnend von Diedrich Gerling.
Sie schenkte ihm ein verzerrtes Grinsen. »Das Befreiungskommando.«
»Na super. Da können wir uns ja gleich die Kugel geben.«
Natasha ließ den Blick rasch über die beiden anderen Geiseln schweifen. Die Frau, Helga Gerling, wirkte erstaunlich wach, ja beinah erregt. Der achtjährige Sohn, David, hockte neben ihr, die Arme um die Knie geschlungen. Mit geweiteten Pupillen sah er sie ohne ein Zeichen von Unruhe oder gar Panik an. Sie hatte es offenbar nicht nur mit einer verschlossenen Zelle zu tun, sondern auch noch mit Geiseln, die unter Drogen gesetzt waren. Und dann war da ja noch die Schussverletzung an der linken Wade des Mannes.
Natasha wandte sich an Diedrich Gerling. »Können Sie laufen?«
»Sieht es so aus? Verflucht noch mal, wofür zahle ich so viel an Steuern? Für eine Bundeswehr, die mir die letzten Idioten schickt?«
»Diedrich«, mahnte seine Frau.
Gefesselt waren sie nicht. Immerhin ein Pluspunkt. Natasha sah sich das Schloss an der Zellentür an.
»Ist das da Blut?« Der Junge starrte auf ihre Hand.
Natasha warf einen raschen Blick darauf. Der vom Eisengehalt durchdringende Geruch des Bluts von dem Wachmann machte sich in ihrer Nase breit, und Gallenflüssigkeit brannte in ihrem Hals. Sie entschied, die Frage zu ignorieren. Sie musste das Problem mit dem Schloss lösen, und zwar schnell. Darauf zu schießen, kam nicht infrage, denn eine abprallende Kugel war unberechenbar.
»Negativ«, kam es von Bodo. Also kein Schlüssel bei den zwei toten Wachen. Klar, was sonst?
»Tempo, Kehlmann!«, bellte Wagner. »Lös das Problem.«
Na super, dachte sie erbost, setzt mich noch mehr unter Druck. Draußen brach der Krieg aus.
»Verflucht, tun Sie endlich was!« Gerling flippte in der Zelle aus.
Seine Panik übertrug sich auf David. Seine Frau hingegen reagierte direkt und verkroch sich in die entfernteste Ecke. Für einen Moment blickte Natasha sie irritiert an. Als würde die Frau begreifen, was sie verwunderte, packte sie ihren Sohn grob am Arm und zog ihn zu sich.
»Ich schwöre Ihnen, das wird Konsequenzen haben«, drohte Diedrich Gerling.
Natasha konzentrierte sich auf das Schloss, blendete alles andere aus. Selbst als der erste Querschläger über ihrem Kopf in die Wand einschlug, blieb sie ruhig. »Gehen Sie zu Ihrer Frau und Ihrem Sohn, dort sind Sie vor Kugeln sicher.« Wenigstens, solange keiner der Entführer in die Hütte kommt, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Einen Scheißdreck werde ich!«, brüllte Gerling und erhob sich mühsam, indem er sein Gewicht auf das gesunde Bein verlagerte.
Natasha zückte ihre Waffe und richtete sie auf den Unternehmer. »Ab in die Ecke.« Sie verwendete denselben Ton wie bei ihrem Hundewelpen, der kleinen Freya, wenn die es mal wieder zu doll trieb und damit durchzukommen glaubte.
Die Sekunden verstrichen, aber es funktionierte. Widerwillig folgte der Mann ihrem Befehl und gesellte sich zu Frau und Sohn. Verflucht, das alles kostete wertvolle Zeit.
»Natasha?« Es war die ruhige Stimme von Pit, der normalerweise ihr Partner im Einsatz war.
Sofort legte sich ihr Zorn. »Verschafft mir eine halbe Minute Luft«, murmelte sie ins Headset.
»Du hast eine Minute.«
Ungewollt huschte ihr ein Lächeln über die Lippen. Das war typisch für ihren Teamführer, der eigentlich Peter Abel hieß. Er gab ihnen selbst in brenzligen Situationen das Gefühl, dass sie alle Zeit der Welt hatten, weil er wusste, dass Druck zu Stress und Stress zu Fehlern führt.
Natasha zückte ihr Taschenmesser. »Mark, kannst du dir was anschauen?«
»Versuchs«, hörte sie Mark mit angestrengtem Atem zwischen den Schüssen sagen. Sie nahm ihre Spezialuhr vom Handgelenk, stellte eine Verbindung zu Marks Uhr her und hielt den Knopf gedrückt, während sie mit der längeren Seite der Uhr, in die eine winzige Kamera eingebaut war, das Schloss von beiden Seiten filmte.
»Nimm C3 und F4 von deinem Multitool. Mit dem C3 musst du einen Hebel schieben, während du den F4 benutzt, um den Mechanismus zu drehen.«
Natasha schloss die Augen, um ihre Sinne auf ihre Finger zu fokussieren. Mark hatte recht, oben gab es einen Hebel.
Exakt siebenundzwanzig Sekunden später hatte sie das Schloss geknackt. Gerling drängte sofort seine Frau zurück und humpelte, so rasch er konnte, direkt zur Tür in die Schusslinie. Natasha rammte ihn und warf ihn zu Boden. An ihrem linken Arm spürte sie ein scharfes Brennen. Sie war nicht zimperlich mit Gerling, als sie ihn am Fuß packte und wieder zurück in den Raum schleifte. Am Hemdkragen zerrte sie ihn hoch und funkelte ihn böse an.
»Widersetzen Sie sich noch ein einziges Mal meinem Befehl und gefährden Ihre Frau, Ihren Sohn und mich, dann jage ich Ihnen persönlich eine Kugel durch den Kopf und behaupte, es wäre ein Terrorist gewesen. Das schwöre ich Ihnen. Verstanden?«
»Kehlmann, reißen Sie sich am Riemen«, wies Wagner sie über das Headset zurecht.
»Drück ihm kurz die Blutzufuhr ab, bis er ohnmächtig ist«, schlug Zoe vor.
»Und was dann? Soll ich ihn schleppen?«, murrte Ulf.
Der knappe Wortwechsel löste Gelächter beim Rest der Truppe aus. Das half Natasha, sich wieder abzukühlen. Auch das war untypisch für sie, dass sie sich derartig leicht aus der Fassung bringen ließ. Doch darüber konnte sie sich nach dem Einsatz ärgern. Sie schenkte Helga und David ein warmes Lächeln. Beide waren erschrocken vor ihr zurückgewichen.
»Keine Sorge, wir bekommen Sie heil hier raus. Bleiben Sie dicht hinter mir immer an der Wand, und folgen Sie meinen Anweisungen.«
Noch dämpfte das Adrenalin in ihrem Körper den Schmerz von dem Streifschuss an ihrem Arm. Sie fluchte, weil sie die Medizintasche, die sie wie alle anderen immer bei sich trug, im Rucksack zurückgelassen hatte.
»Bereit«, gab sie Kevin und Bodo durch. »Denkt daran, dass Gerlings Bein verletzt ist.«
»Standby. Team Wolf, wie sieht es bei euch aus?«, fragte Bodo. Team Wolf, das waren Smart, Pit, Chris und Gabriella.
»Wir haben die Fahrzeuge unbrauchbar gemacht. Wir nehmen die Boote, das ist näher für euch.«
»Und Nummer sechs down«, kam es knapp von Caro.
Natasha lief ein kalter Schauer über den Rücken. Caro sprach von Menschen, als würde sie im Training die Treffer zählen. Aber zwei von den Männern lebten immerhin noch.
»Leute, pronto, Tempo. Keine Verzögerungen mehr. Jemand hat Verstärkung angefordert. Die braucht maximal zehn Minuten, um Sie zu erreichen. Team Eagle, vorstoßen zu Team Snake. Sie sichern den Fluchtweg zum Fluss. Team Wolf, Sie verschaffen Ihren Kameraden Zeit.«
»Roger«, kam es von Caro, die mit Mark das Team Eagle bildete.
»Roger«, hörte Natasha Ulf sagen, der mit Zoe zum Team Snake gehörte.
Sie drehte sich zu Gerling um, der hinter ihr kauerte, so weit es sein verletztes Bein zuließ. »Sobald meine Kollegen den Befehl geben, müssen wir zur Tür raus Richtung Fluss. Sie können nicht laufen, also werde ich Sie tragen.«
»Auf keinen Fall.«
Natasha zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen, dann humpeln Sie hinter uns her und riskieren, eine Kugel abzubekommen.«
»Besser, als wenn Sie unter meinem Gewicht zusammenbrechen.«
Diesmal grinste sie ihn an. »Was wiegen Sie? Achtzig Kilo?«
Er reckte gekränkt den Kopf ein Stück höher. »Vierundsiebzig – seit ich zwanzig war.«
»Geben Sie mir Ihre Hand. Nein, legen Sie sie über meine Schulter. Sobald das Zeichen kommt, werde ich Ihr verletztes Bein packen und es mir ebenfalls über die Schulter ziehen. Das wird weh tun, aber ich kann es nicht ändern. Je mehr Sie mir helfen, indem Sie Ihr Gewicht verlagern, desto leichter wird es für uns beide. Wenn ich Sie absetze, nutzen Sie Ihr gesundes Bein und stützen sich mit dem Arm auf mich.«
Sie hatte es oft genug mit den Teammitgliedern – vor allem mit Pit – geübt, da man ja nicht wusste, ob Gerling mit seiner Verletzung laufen konnte.
»Hey, David, weißt du, wo es zum Flussufer geht?«, fragte sie und lächelte dem Jungen aufmunternd zu. Er nickte. »Wenn ich es dir sage, dann läufst du, so schnell du kannst, zu den Booten, die dort liegen. Geh zum ersten ganz vorn am Steg. Du schaust dich nicht um, sondern rennst, als wäre der Teufel hinter dir her. Deine Sportlehrerin sagt, du bist der Schnellste in deiner Klasse.«
»Das bin ich«, bestätigte er, furchte die Stirn vor lauter Konzentration und nahm eine Starthaltung ein.
Sie sah zu Frau Gerling hinüber, die die Lippen fest zusammengepresst hatte und ihr zunickte.
»Los!«, bellte Kevin.