Gibt es diesen einen Menschen, nur diesen einen Menschen, dessen Herz zu dem eines anderen passt, als wären sie einmal eins gewesen?
Zitat: „Ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte.“ (Aus den Leiden des jungen Werthers von Goethe)
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2020 Ria Maranca
Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7526-5686-2
Nora:
Sebastian hat mich nach der Beisetzung von Tim, unserem Deutschlehrer, nach Hause begleitet und ist bis zum späten Nachmittag bei mir geblieben. Morgen früh muss er wieder arbeiten, wobei mir der Gedanke, dass er dabei Miriam begegnet, noch immer missfällt. Seit Ayla nicht mehr bei mir ist, ist meine Angst, ihn zu verlieren, wieder angeschwollen. Parallel dazu ist aber auch mein Vertrauen in ihn gewachsen. Ich weiß, selbst wenn er sich mit ihr trifft und vielleicht sogar mit ihr schläft, wird er zu mir zurückkehren und für mich da sein, wenn ich ihn brauche. Vielleicht muss ich das einfach akzeptieren und aushalten, solange ich es ihm selbst nicht geben kann. Und nein, ich kann es ihm noch nicht geben. Es wäre nicht richtig. Zu viele andere störende Emotionen wühlen mich auf und reißen mich fort.
Sebastian war nach der Beerdigung besorgt gewesen, weil er nicht richtig einordnen konnte, weshalb ich gehen wollte. Er dachte, ich hätte es nicht länger ertragen können, doch das stimmt nicht. Es war einfach nur leer gewesen und ich konnte Tim nicht mehr spüren. Die Tage zuvor hatte das Gefühl, sein Geist ist noch immer da, fast so, als schwirre er ständig um mich herum wie eine aufsässige Fliege. Doch heute, auf dem Friedhof, fühlte ich nur noch seinen leblosen Körper, seine Seele war nicht mehr da. Eine frostige innere Kälte beschleicht mich, wenn ich daran denke. Dazu noch die vielen Leute und dieses triste Lied von Evanescence. Zuerst hat es mich berührt, ich hatte Gänsehaut, als das Orchester die triste Melodie anspielte und Lauras hohe, durchdringende Stimme erklang. Es lag eine sehr besondere melancholische Klangfarbe in ihr. Die erste Strophe und auch der Refrain haben punktgenau ins Herz getroffen.
Ich bin es so leid hier zu sein, eingeengt von all meine kindlichen Ängsten. Diese Wunden scheinen nicht zu heilen, dieser Schmerz ist zu real. Es gibt zu vieles, was die Zeit nicht löschen kann.
Ja, diese Worte haben wohl auf Tim zugetroffen, vielleicht aber auch nicht. Ich bezweifle, dass es tatsächlich einen realen, benennbaren Schmerz gegeben hat, so wie bei mir den Verlust meiner Lieben oder wie bei Ayla und Sebastian... Oh ja, wie sehr die beiden verletzt worden sind, das kann die Zeit niemals löschen. Leere jedoch ist kein Schmerz, sie ist die Abwesenheit von Sinn und Gefühl. Wenn ein Mensch keine Träume mehr hat, wenn er keinen Weg mehr sieht, den er noch beschreiten möchte – ja, das muss schlimm sein. Ayla hat es bereits erlebt, sie hat ihn verstanden. Wahrscheinlich hat er sich deshalb so sehr an sie geklammert, weil er sich von ihr in seinem Wesen erkannt fühlte.
Ganz im Gegenteil zum Rest der Welt. Nein, sie haben ihn nicht verstanden, was sie auf der Beerdigung nur allzu deutlich gezeigt haben. Der übrige Text des Liedes hat mich fast wütend gemacht. Es klang so, als hätte ihn eine unglückliche Liebschaft in den Tod getrieben. Ja klar, so wird es ihnen auf der Kinoleidwand präsentiert und sie schlucken es, ohne zu hinterfragen. Die Welt in ihrem Geist ist noch immer schwarz-weiß, in Gut und Böse gespalten, was bedingt, dass es immer einen Verantwortlichen geben muss, auf den man die Last abwälzen kann. Mag sein, dass es nur meiner ebenfalls menschlichen und fehlbaren Einbildung entspringt, aber mein Gefühl sagt mir, dass sie Ayla dafür verantwortlich machen werden, und ich habe wohl die Rolle des Mittäters gezogen. Sebastian hat gesagt, wenn ich mir das einbilde, werde ich das auch ausstrahlen und genauso wird es eintreten. Senden, empfangen, so ist es immer, hat er gesagt. Vielleicht hat er Recht. Was kümmert es mich auch, was die anderen denken? Das hat er mich dann auch gefragt. Als Ayla noch bei mir war, ist es mir tatsächlich egal gewesen, was die anderen von mir denken. Wir haben eine unzertrennliche Einheit gebildet, waren in unserem ganz eigenen Kosmos eingeschlossen. Geschützt vor den negativen Energien der anderen. Sie tun mir nicht gut, die anderen, und ich fühle mich nicht wohl in ihrer Gesellschaft. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht einsam fühlen werde ohne einen Verbündeten an meiner Seite.
Du hast doch mich als Freund, hat Sebastian geantwortet, und Isabell, fügte er noch hinzu.
Ja, das ist schon richtig, aber einen Großteil meiner Zeit werde ich allein sein, und es macht einen Unterschied, ob man tatsächlich allein ist oder von einer Gruppe ausgegrenzt wird, der man täglich begegnet. Ich weiß nicht, wie gut ich ihre urteilenden Blicke ertragen werde. Sebastian hat mich wieder darauf hingewiesen, dass ich genau das anziehen werde, wovor ich mich fürchte. Er hat mich gefragt, weshalb ich eigentlich davon ausgehe, dass sie über mich urteilen werden, es gibt doch gar keinen Grund dazu.
Doch, habe ich gesagt, Tims Freitod und Aylas Verschwinden sind Anlass genug. Das Übrige werden sie sich zusammenspinnen, da bin ich mir sicher.
Wenn du meinst, dann wird es so sein, war Sebastians simple Antwort darauf gewesen.
Obwohl ich nichts mehr darauf erwidert habe, geben mir seine Worte zu denken. Ist es wirklich so, dass ich genau das erhalten werde, was ich aussende? Spüren die anderen Menschen mein Misstrauen, meine Reserviertheit und auch, dass ich eigentlich gar keinen Kontakt mit ihnen möchte?
Natürlich spüren sie es und reagieren so willkürlich und vorhersehbar darauf wie mein eigenes Spiegelbild. Ich könnte den Charm, den mir meine Mutter in die Wiege gelegt hat, heraufbeschwören und sie damit ordentlich an der Nase herumführen. Ja, das wäre ein leichtes Spiel für mich, wenn ich es so wollte. Ich muss mich nur entscheiden – für authentische Einsamkeit oder unechte Geselligkeit. Im Grunde sind die Würfel bereits gefallen, es ist nur noch mein Ego, das mit der Rolle der Außenseiterin hadert.
Aber jetzt sind erstmal Ferien und Sylvester steht vor der Tür. Ich habe Sebastian vielmehr scherzhaft gefragt, ob er mit mir ins neue Jahrtausend gleiten möchte. Zu meiner Verwunderung hat er gesagt, dass er es sich überlegen werde. Das ist okay für mich, weil ich noch Isabell zur Seite habe, die kurzfristig einspringen würde. So werde ich keinesfalls alleine sein. Für einen flüchtigen Moment kam mir auch der Gedanke, Miriam könnte der Grund für seine Unentschlossenheit sein, doch mein Herz weiß, dass das nur dumme Eifersüchtelei ist. Die wahre Schwierigkeit liegt darin, dass er bei mir übernachten müsste, wenn er mit mir Sylvester feiern würde, obwohl wir beide noch nicht dazu bereit sind.
Zu sehr bin ich noch von Ayla erfüllt, von dem Wahnsinns-erlebnis mit ihr am Wasserfall und dem tosenden Sturm an Gefühlen, den sie durch mich hindurchbrausen ließ.
Ich lass dich nie mehr los, hab ich ihr ins Ohr geflüstert, während ich mich in sie krallte. Ihr schwarzer verschleierter Blick hat sich in meiner Erinnerung eingraviert. Nie mehr werde ich ihn vergessen. Ebenso wie ihre gepresste Antwort, die irgendwo aus den tiefsten Tiefen ihres Inneren entsprungen ist: Ich – dich – auch – nicht.
So viel Ewigkeit liegt in diesen Worten. Vielleicht zu viel Ewigkeit für unser begrenztes Wissen, was die Zukunft anbelangt. Dennoch ist unsere Trennung nur äußerer Schein. Im Herzen sind wir verbunden und werden es immer sein. Ja, sie hat sich in mir verewigt, so wie mit ihr wird es mit keinem anderen Menschen mehr sein. Wenn wir beide zusammen waren, tauchten wir ein in eine Welt, die nur uns gehörte. Die Burg, das Feuer, ihr geheimnisvolles, unvergleichbares Wesen. In alledem lag so viel Zauber und ich fühlte mich Gott und dem Himmel so nah. Grenzenlos… ja, mit Ayla schienen sich die Grenzen zwischen Himmel und Erde aufzulösen. Mit ihr verlor mein Leben seine Schwere.
So etwas habe ich mit Sebastian nicht. Im Gegenteil, an ihm haftet eine Traurigkeit, die wie der körpereigene Geruch zu ihm zu gehören scheint. Darüber hinaus trägt jedoch auch er etwas sehr Pures, Ursprüngliches in sich, das wie ein verborgener Schatz unter all seinen Selbstzweifeln und Ängsten begraben liegt. Wenn ich ihn nur freischaufeln könnte. Manchmal denke ich, es sei möglich, wenn ich nur genügend Geduld und Beharrlichkeit aufbringe, und im nächsten Augenblick ist dieser Hoffnungsfunke wieder erloschen.
Zum Glück habe ich noch Isabell, auf sie kann ich mich verlassen. Morgen kommt sie mich besuchen, dann werden wir mit den Pferden ins Gelände gehen. Seit dem Unglück, bei dem Nadia auf einer Seite das Augenlicht verloren hat, hat sie große Probleme, sich auf den Weg zu konzentrieren. Manchmal stolpert sie oder bleibt einfach stehen, weil sie die Orientierung verloren hat. Dann bekommt sie Angst, schnaubt und verkrampft sich zusehends. Einmal war es so schlimm, dass sie das Gleichgewicht verloren hat und hingefallen ist. Zum Glück war Isabell dabei gewesen, ich selbst hätte mir nicht mehr zu helfen gewusst. In solchen Momenten verspüre ich noch immer eine Wut auf meine Tante, die damals noch bei mir wohnte und die Vormundschaft für mich hatte. Gewiss ist sie kein schlechter Mensch, doch sie gehörte einfach nicht hierher aufs Land. Wie gesagt, es sind nur kurze Momente, in denen ich noch eine Wut auf sie verspüre, weil sie an dem Tag, an dem sich Nadia das Auge ausgestoßen hat, die Pferde nicht von der Weide holte. Rein aus Bequemlichkeit – das ist es, was mich so in Rage versetzt.
Naja, das hilft nun alles nichts mehr – was geschehen ist, ist geschehen, und die Uhr kann man nun mal nicht zurückdrehen. Das wäre das einfachste. Dann würde ich Mama nicht auf den Berg reiten lassen und somit wäre Tobias wohl auch noch am Leben… und Sebastian wäre sein Geliebter…
Nein, nein, so darf ich nicht denken! So darf man niemals denken!
Was mich dennoch interessieren würde, ist, ob sich Sebastian noch immer zu Männern hingezogen fühlt. Ich jedenfalls empfinde nur für Ayla auf diese Weise und kann mir auch nicht vorstellen, dass es irgendeine andere Frau auf dem Planeten gibt, für die ich so fühlen könnte.
Gleichermaßen gibt es aber auch keine anderen Männer, außer Sebastian, von denen ich mich angezogen fühle. Von Rached, meinem afrikanischen Schulkameraden, mal abgesehen, doch die Begegnungen mit ihm fanden auf einer völlig anderen Ebene statt. Obwohl ich zugeben muss, dass die wenigen Momente, in denen er seine coole Maske abgelegt und mir einen Blick auf seine gefühlvolle Seite gewährt hat, nicht spurlos an mir vorübergezogen sind. Und wahrscheinlich wären es genau diese Stellen in meinem Inneren, die mich schmerzen würden, wenn er sich tatsächlich von mir abwenden und mich links liegen lassen würde, um vor den anderen sein Gesicht zu wahren.
Wir werden sehen. Ich weiß, dass ich mir zu viele Gedanken mache, doch die Tage sind lang, in denen ich keine Ansprache habe. Keine Menschenseele, die mir Ablenkung verschafft. Allerdings habe ich auch keine Lust, irgendwelchen sinnlosen Beschäftigungen nachzugehen, nur damit ich die Stimmen übertöne, die in meinem Inneren durcheinander plappern. Oh ja, in letzter Zeit sind sie ganz schön aufsässig geworden und von Gesprächsregeln haben sie auch noch nie etwas gehört. Einer nach dem anderen, immer schön der Reihe nach. Pah, von wegen! Alle durcheinander, ohne grünen Faden oder erkennbarer Struktur.
Von der einen Seite strömt Sebastian auf mich ein, seine dramatische Kindheitsgeschichte, dieser schreckliche Sonntag vor ein paar Monaten – nein, dieses Ereignis habe ich auch noch nicht verarbeitet.
Zwischenzeitlich hat sich Sebastians Stiefvater, dieser grauenvolle Mensch, das Leben genommen, und seine Mutter hat sich bei ihm zurückgemeldet!
Dazu noch die Offenbarung, dass Sebastian und Tobias ein Liebespaar waren…
Das würde doch nun wirklich reichen! Aber nein, da gibt es noch meine geheimnisvolle Freundin mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten und ebenfalls einer dramatischen Kindheitsgeschichte, die bis in die Gegenwart hineinreicht.
Tim, sein Freitod, Aylas Verschwinden, die alte Frau im Wald, der Sturm, meine Sorgen, meine Liebe… Oh ja, meine Liebe! Mein Herz tut mir oft so weh! Es sind zu viele Menschen, die ich liebe und ganz grausam vermisse.
Aber auch das war noch nicht alles. Es gibt auch noch meine eigene Vergangenheit, die abenteuerliche Geschichte meiner Mutter und damit den zweiten Ast meiner Abstammung. Ein indianischer Schamane. Ich spüre diese Wurzeln in mir, nicht nur in meinen Träumen, es sickert immer mehr in mein Bewusstsein ein.
Auch in dir ist etwas Wildes, hat Ayla am Feuer gesagt, etwas Ursprüngliches, das der modernen, hochtechnisierten Welt widersagt. Etwas, das die Stille sucht und die Verbindung nach oben, zu etwas Höherem.
Ich möchte die Zusammenhänge meines Lebens verstehen und den dahinterliegenden Sinn erkennen. All das wühlt mich auf und brennt in mir, zieht mich fort und treibt mich an. In sämtliche Richtungen drängt es mich…
Eines nach dem anderen, immer in der Ruhe bleiben. Hier ist mein Zuhause – es instand zu halten und die Pferde zu versorgen, ist meine Aufgabe. Isabell ist bei mir, sie wird mich unterstützen, und finanzielle Sorgen habe ich dank Tante Su auch nicht.
Nächstes Jahr werde ich mein Abitur machen und damit erstmal die Schule abschließen. Ich hoffe, Ayla ist bis dahin wieder bei mir. In zwei Monaten wird sie 18, dann kommt sie hoffentlich zurück. Sie ist so schlau, dass sie die Schule trotzdem schaffen kann – vorausgesetzt, sie will.
Für mich selbst habe noch nicht den leisesten Schimmer, was ich danach beruflich machen möchte. Ein Studium kommt erstmal nicht in Frage, weil ich dafür in eine Stadt ziehen müsste, und das geht auf gar keinen Fall, mit dem Hof und den Pferden. Außerdem möchte ich das auch gar nicht; ich möchte nicht weg von hier.
All das beschäftigt mich, obwohl ich mir vorgenommen habe, in den Ferien zur Ruhe zu kommen, mich mit einfachen Dingen zu beschäftigen und Ordnung zu schaffen. Ich hätte nicht gedacht, dass mir die Einsamkeit so sehr an die Nieren geht und mich die Fülle der Ereignisse derart erschlägt.
Wie sehr sich die Dinge in diesem Jahr gewandelt haben, im letzten Jahr eines ganzen Jahrtausends.
Und was diese neue Ära wohl alles mit sich bringen mag?
Für mich. Für Ayla. Für Sebastian. Für die Welt.
Wir werden sehen…
Ayla:
Es ist wie beim letzten Mal, kaum bin ich hier, fällt alles von mir ab. Die Schwere verliert ihr Gewicht, die Gedanken ihre Bedeutung, die Ängste ihre Macht. Majas Ruhe, wenn sie stundenlang mit Lealia, dem zahmen Eichhörnchen, auf dem Schoß dasitzt und scheinbar nichts tut, als ihr weiches Fell zu streicheln, führt mich in die Tiefen meiner Seele.
Tim sucht mich noch immer auf, vor allem in der Nacht. Er hat sich selbst noch nicht verziehen, was er mir angetan hat. Ja, es war die Leere, die ihn in den Tod getrieben hat, er hat sie schon lange in sich gespürt, und dennoch war ICH der Mensch, der ihm vor Augen geführt hat, wie es hätte sein können, wenn die Leere verschwindet. Genau das war es gewesen, was er in meiner Gegenwart spürte. Wie der magische Blick in die Unendlichkeit der Sterne, wunderschön und doch unerreichbar. Deshalb ist er gegangen und doch hat er noch nicht abgeschlossen mit der Welt, weil er mit sich selbst nicht im Reinen gewesen ist. Er hat im Äußeren gesucht, was nur im Inneren gefunden werden kann. Ich habe ihm vollkommen vergeben, doch er muss sich auch noch selbst verzeihen. Und auch die Liebe, nach der er sich sehnte, nach der wir uns alle sehnen, muss zuerst im eigenen Herzen gefunden werden. Das ist die Lektion, die wir alle zu lernen haben. Zuerst müssen wir zu uns selbst zurückkehren, erst dann sind wir offen für andere und erst dann sind wir fähig, bedingungslos zu lieben. Alles andere ist nur ein bedürftiges Klammern an etwas, das niemals dauerhaft Bestand haben kann. Ja, so ist es. Deshalb ist es gut, dass ich nun hier bin und Nora für eine Weile allein sein kann. Schon beim letzten Mal hat meine Abwesenheit wahre Wunder bewirkt; sie ist enorm gereift in jener Zeit. Und auch für die Beziehung zu Sebastian ist es wichtig. Sie soll alles spüren und erkunden können, nach dem sich ihr süßes Herzchen verzehrt, und das kann sie nun mal nicht, solange ich sie einneble. Obwohl ich auch zugegeben muss, dass sie mir fehlt, vor allem ihre Unschuld und wie sie auf mich reagiert. Ich konnte ihr zu jeder Zeit die Kontrolle entreißen – das war ein leichtes Spiel für mich – nur selbst diese Hürde zu überschreiten, welche von mir verlangt, loszulassen, ist schier unmöglich für mich. Und dennoch hat sie mich schon dazu gebracht, meine süße, unschuldige Prinzessin.
Doch nun bin ich hier, mitten in der Wildnis, heute ist Weihnachten und für morgen ist ein heftiger Sturm vorhergesagt. Maja ist gestern teils singend, teils schreiend durch den Wald getanzt und hat sämtliche Bäume markiert, die wir umsägen müssen, bevor der Orkan ausbricht. Drei unmittelbar an Majas Wohnwagen angrenzende Bäume haben wir gestern noch erledigt. Wir haben sie so umgeschnitten, dass sie eine Art Schutzwall in nordwestlicher Richtung bilden, aus welcher der Sturm zu kommen droht. Der Rest steht heute, vielleicht noch morgen Vormittag, an. Mit Majas alter Zweimannsäge ist das wahre Knochenarbeit; ich habe jetzt schon Blasen an den Händen und kann mich kaum noch rühren, so schmerzen mir die Muskeln und Glieder. Wo sie nur selbst die Kraft und Energie hernimmt? Sie muss steinalt sein und kann noch arbeiten wie ein Mann in seinen besten Jahren und tanzen wie ein junges Mädchen. Manchmal hab ich das Gefühl, sie vermag die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Sie scheint keine Gebrechen und Schmerzen zu kennen, die Kälte scheint ihr nichts auszumachen und noch nie habe ich sie müde oder abgeschlagen erlebt. Sie schläft kaum und isst noch weniger als ich. Im Winter wäscht sie sich nicht und dennoch vernehme ich keine unangenehmen Gerüche. Sie trägt stets dasselbe Gewand, doch es wirkt nicht verschmutzt. Gegensätze scheinen sich in ihr zu vereinen und zu neutralisieren.
Ich beobachte sie, versuche aus ihr schlau zu werden, doch ich erkenne das Geheimnis ihrer Kräfte nicht. All ihr Tun scheint vollkommen zu sein. Sie widmet jeder Handlung und auch dem geruhsamen Sein ihre volle Aufmerksamkeit. Wenn sie ihre Kräuter kocht, scheint dies eine nahezu heilige Zeremonie zu sein, ebenso wie Holz zu hacken und den Ofen einzuheizen. Selbst das weiche Fell des Eichhörnchens zu streicheln, wirkt wie eine unerlässliche Meditation, ein Akt vollkommener Ruhe. Im Tanz hingegen, bricht eine Wildheit aus ihr heraus, die an ein ungezähmtes Tier erinnert und zugleich eine Anmut in sich birgt, wie ich sie bisher nur bei meinem Bruder gesehen habe. Es ist mir ein Rätsel, wie ihr alter knöcherner Körper all diese schnellen, gelenkigen Bewegungen ausführen kann. Er scheint bedingungslos ihrem Geist zu folgen, der sich wiederum vollkommen dem Gefühl hingibt, welches sie durchfährt.
Ich selbst bin noch nicht bereit, an ihren Zeremonien teilzunehmen. Die antreibende Energie ist noch nicht da oder kann noch nicht frei fließen. Ich beobachte sie und spüre, wie sie in mir heranreift, doch es ist mir noch nicht möglich, ihr zu folgen. Maja lässt mich vollkommen in Ruhe. Bei ihr habe ich nie das Gefühl, dass ich etwas an mir ändern sollte, oder dass sie versucht, mich in Ordnung zu bringen. Ich fühle mich heil bei ihr, und auch, wenn ich es sicherlich nicht bin, schafft genau dieses Gefühl den Raum, in dem Heilung geschehen kann.
Sobald ich merke, dass jemand die Absicht hat, mich nach seinen Vorstellungen zu verbiegen, blocke ich ab. Was nimmst DU dir das Recht heraus, mich auf den rechten Weg bringen zu wollen? Rühre erst mal in deinem eigenen Süppchen, du Möchtegern-Buddha. So wäre meine Antwort auf diesen Übergriff. Nur weil sie mit sich selbst nicht klarkommen, meinen sie, andere richtigstellen zu müssen. Dabei sind es nur ihre eigenen Probleme, die sie auf andere projizieren. Denen habe ich schon gezeigt, dass sie ihre Spielchen mit mir nicht treiben können, diesen eingeschränkten Psychos und dem arroganten Bullen erst recht! Wie leicht es doch war, sie an der Nase herumzuführen, da kann ich nur lachen! Ihr Blickwinkel ist so eng, dass sie kaum über den eigenen Tellerrand hinaussehen, geschweige denn in der Lage wären, das Gebräu eines anderen zu überschauen. Noch nie sind sie einem Menschen wie Maja begegnet und wenn, dann würden sie ihr Wesen nicht erkennen. Wahrscheinlich würden sie sie ebenfalls therapieren wollen. Klar, alles was ihnen fremd ist, macht ihnen Angst und muss behandelt werden, damit es wieder in den Tellerrand hineinpasst. Ja, so ist es. Ich darf sie nicht anklagen, wegen ihrer Beschränktheit. Sie sind wie ein Kind, das noch nie die Weite des Meeres gesehen hat; wie ein Fisch im Tümpel, der glaubt, die ganze Welt wäre eine trübe Pfütze. Was können sie dafür, dass sie Schuppen vor den Augen haben und ein in Zement eingemauertes Herz? Nein, ich habe kein Recht, sie anzuklagen, ich entziehe mich nur ihrem Wirkungskreis und lasse mich nicht zum Opfer machen. Nie mehr in meinem Leben lasse ich mich zum Opfer machen, das hab ich mir geschworen. Ich allein bin die Herrin über mein Leben.
Maja schaut mich an. Ich weiß, dass sie meine Gedanken spürt; sie nimmt sie auf und lässt sie wieder ziehen, ohne zu werten. Vielleicht ist genau das ihr Geheimnis, ihre Kunst, gegensätzliche Energien zu neutralisieren. Davon bin ich noch Welten entfernt. Allein schon im Hinblick auf den mit ihrer KKK-Suppe gefüllten Teller, der vor mir auf dem Tisch steht und darauf wartet, von mir ausgelöffelt zu werden, habe ich mein Urteil bereits gefällt. Kartoffel, Karotten, Kräuter in schleimiger Konsistenz zum Frühstück – da würden mir noch einige andere Wörter mit „k“ einfallen, um dieses Gebräu zu bezeichnen.
„Heute Abend nehmen wir aber andere Kräuter zu uns“, sage ich mit einem verschmitzten Lächeln und einem allessagenden Blick in Richtung getrockneter Hanfblüten, die neben sämtlichem anderem Grünzeug hängen.
„Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“, antwortet Maja, wobei sich ihr Gesicht in unzählige Falten legt, während ihre wachen, jung-wirkenden Augen vor Warmherzigkeit leuchten.
Erheitert löffle ich den Teller leer und bin überrascht, wie sehr mich der orange-grünliche Schlotz durchwärmt und stärkt. Als wir beide fertig sind, steht Maja auf, nimmt einen großen Schluck von ihrem selbstgebrauten „Mundwasser“ und zieht es sich, gewiss eine halbe Minute lang, durch die Zähne. Ihre schrumpeligen Wangen verformen sich dabei zu den ulkigsten Grimassen, so dass ich mir das Lachen nicht länger verkneifen kann. Schließlich öffnet sie die Türe und spuckt den Inhalt ihres Mundes hinaus.
„Mach dich ruhig lustig über mich, du junges Ding, aber das musst du mir erst mal nachmachen, in meinem Alter noch alle Beißerchen zwischen den Kiefern zu haben“, sagt sie stolz und klappert geräuschvoll mit den Zähnen.
Ich schüttle nur den Kopf, sie ist so crazy und absolut genial. Außerdem habe ich diesmal weder Zahnputzzeug noch irgendwelche warmen Klamotten, geschweige denn Wechselkleidung dabei, was bedeutet, dass ich mich voll und ganz auf ihre Art zu leben einlassen muss.
Gestern hat mir Maja bereits aus zwei Fuchsfellen eine Art Umhang genäht, und auch, wenn ich mir damit wie ein Neandertaler vorgekommen bin, hat es mich wenigstens nicht gefroren. Im Grunde bewundere ich sie für die Fähigkeit, hier draußen in der Wildnis zu überleben, sehr.
„Ich hole noch Wasser, dann machen wir uns an die Arbeit“, gibt sie Kund, während sie mit dem Eimer in der Hand den Wohnwagen verlässt. Zum Glück gibt es in der Nähe eine Quelle, die selbst bei zweistelligen Minusgraden nicht zufriert und 1a Trinkwasser liefert.
„Ich muss noch kacken, bevor ich loslegen kann“, rufe ich ihr hinterher. Ich habe mir zu Weihnachten ein Plumpsklo gewünscht, damit ich meinen Haufen nicht länger hinter einen Baum setzen und zuzuscharren muss wie eine wohlerzogene Katze. Bei Sonnenschein mag das ja noch ganz lustig zu sein, aber bei diesem Schmuddelwetter… reichlich ungemütlich! Aber gut, die Wildnis ist nun mal kein Luxushotel.
Mit dem Fuchsfell um den Laib gebunden, und Maja mit der Zweimannsäge bewaffnet, machen wir uns ans Werk. Wie gestern veranstaltet sie für jeden Baum eine Zeremonie, in der sie ihn ehrt und ihm erklärt, weshalb sie ihm das Leben nehmen muss. Sie tut dies mit Tanz und Gesang, in der Sprache der Alten, die man nur mit dem Herzen verstehen kann. Beim ersten Baum kommt mir noch alles sehr befremdlich vor, ebenso wie sich meine Knochen und Muskeln noch gegen die harte Arbeit sträuben. Mit jedem Sägenschnitt stößt Maja in die eine Richtung ein „Hey“, in die andere ein „Ho“ aus. Hey, ho, hey, ho… unzählige Male, bis der Baum schließlich mit lautem Knarren und Krachen zu Boden stürzt. Maja schreit auf… ein Schauer durchfährt mich… Nun spüre ich es auch – das Leben, welches in dem Baum steckt und nun, bei seinem Niedergang, freigesetzt wird. Tränen steigen mir in die Augen; Maja springt auf und wirbelt herum, lautes Geschrei verlässt ihre Kehle. Animalisch wirkt sie auf mich, wie ein wildgewordenes Tier. Ich weiß nicht, wie’s um mich geschieht, weiß nicht, ob mir die Zügellosigkeit der alten Frau Angst einflößt oder ob sie mich regelrecht überwältigt. Wahrscheinlich ist es beides, jedenfalls ein sehr machtvolles Empfinden. Oh ja, jetzt weiß ich, wie es sich nennt: es ist Ehrfurcht. Und das Gefühl, welches mich gefangen hält, nennt sich Scham. Uralte, tief in unserem Menschenwesen verankerte Scham. Vollkommen unangebracht, angesichts der übermächtigen Energie des sterbenden Baumes und der Zügellosigkeit der alten Frau. Ich spüre, wie etwas anderes in mir aufsteigt, eine ebenfalls uralte, ursprüngliche Kraft. Sie bricht sich ihre Bahn, öffnet meine Brust, sprengt meine Kehle… Ich stoße einen schrillen, qualvoll klingenden Schrei aus; mein Körper entzieht sich meiner Kontrolle und gibt sich dem Schmerz hin, der mich durchfährt. Ich beklage die Bäume, schneide sie um, spüre die überwältigende Energie, welche durch sie freigesetzt wird. Ich nehme sie auf, lasse mich von ihr durchfahren, bin wie von Sinnen, benebelt und doch unsagbar kraftvoll und klar. Das ist also Majas Geheimnis! Sie steht in vollkommener Symbiose mit den Energien der Natur, ohne jegliche Scham oder Hemmung. Sie hält nichts zurück, nimmt alles auf und setzt es wieder frei. Ja, auch sie wird eines Tages sterben, doch sie wird so furchtlos und anmutig gehen wie diese Bäume, und die Energie wird überwältigend sein, welche durch ihren Tod freigesetzt wird.
Ayla:
Nun sind alle markierten Bäume gefällt. Der Abend gestern mit Maja war absolut unglaublich. Eigentlich kann ich mich nur noch an Bruchteile erinnern und es kommt mir so vor, als hätte ich alles nur geträumt. So vollends aufgewacht und auf der Erde gelandet, scheine ich immer noch nicht zu sein. Mein Körper fühlt sich schwerelos und zugleich ungeheuer kraftvoll an, fast so, als hätte ich die Bäume mit bloßen Händen ausreißen können.
Als wir zurück im Wohnwagen sind, ziehe ich mich nackt aus, um mich zu waschen. Ich frage nicht, sondern mache, wonach mir ist. Für Maja scheint es in Ordnung zu sein – für sie scheint alles in Ordnung zu sein, was auf natürlichem Wege geschieht. Ich schütte ein wenig Wasser aus dem Eimer in eine Schüssel, tunke einen Schwamm ein und lasse ihn über meinen verschwitzten Körper gleiten. Dabei denke ich an die Dusche mit Nora. Damals war mein Körper kalt und das Wasser heiß gewesen, jetzt ist es andersherum. Sie sehnt sich nach mir, ebenso wie ich mich nach ihr sehne, und sie macht sich Sorgen. Wenn der Sturm vorüber ist, werde ich ihr einen Brief schreiben. Vorausgesetzt, ich komme lebend hier raus.
Allmählich wird der Wind stärker. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um unser Leben zu schützen. Was nun geschieht, liegt in Gottes Händen.
„Hast du eigentlich keine Angst vor dem Tod?“, frage ich Maja, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kenne.
Sie lacht, und wie jedes Mal, wenn sie das tut, staune ich über das kunstvolle Faltengebilde, welches sich über ihr Gesicht legt, während ihre Augen so hell leuchten wie Sterne.
„Was geschieht mit uns, wenn wir diese Schwelle überschreiten?“, berichtige ich meine Frage.
Maja redet nicht viel, doch oftmals bekomme ich Gänsehaut, wenn sie den Mund auftut. Ebenso bei ihrem Gesang, obwohl dieser gewiss keine Ohrenweide ist. Vielleicht liegt es an ihrer tiefen, rauen Stimme, welche den Worten eine ganz besondere Schwingung verleiht. Eine Bedeutsamkeit, welche alles Gewöhnliche überragt. Ihre Sprache ist einfach, leicht verständlich, und oft scheint sie sich, mit dem was sie sagt, über das Leben lustig zu machen.
„Wenn wir die Schwelle überschreiten“, wiederholt sie nachdenklich meine Worte. „Dann verlässt unser Geist den Körper. Fleisch und Knochen zerfallen, doch die Essenz bleibt erhalten. Wir verlieren alles, was wir zu sein glaubten, und je mehr wir an den weltlichen Dingen hängen, desto größer wird das Gefühl des Verlustes sein. Ein Mensch, der die Essenz seines Wesens erkannt hat, kann über die Schwelle treten, ohne auch nur das Geringste zu verlieren.“
Ihre Worte klingen wie immer geheimnisvoll und wahrhaftig.
„Glaubst du, dass wir wiedergeboren werden?“, frage ich weiter.
„Vielleicht. Wir werden sehen“, antwortet sie mit einem Lächeln.
„Aber wir werden uns nicht erinnern, also werden wir es auch nicht erfahren“, denke ich laut.
„Ich habe schon das Gefühl, mich an frühere Leben zu erinnern. Aber vielleicht liegt das auch nur an meinem biblischen Alter“, lacht sie schelmisch.
„Wie alt bist du eigentlich? Das würde mich nun echt mal interessieren“, sage ich gespannt.
„Oh Kind, das ist eine Frage“, sagt sie noch immer lachend. „Ich bin so alt, dass ich mich manchmal frage, ob mich der Mann mit der Sense nicht übersehen hat. Könnte ja sein, hier im finsteren Wald“, sagt sie spöttisch und geheimnisvoll zugleich. Ihre Mimik nimmt dabei einen hexenhaften Ausdruck an.
„Nun hör schon auf mit den Schauermärchen und sag mir einfach, wie alt du bist“, gebe ich zurück.
„Siehst du hier einen Kalender?“, fragt sie herausfordernd.
Ich überlege kurz. Auf die Idee, dass aufgehört haben könnte, die Jahre zu zählen, bin ich gar nicht gekommen.
„Weißt du denn nicht, welches Jahr wir haben?“, frage ich unsicher und bin froh, als sie mir ein Lächeln zurückgibt.
„Die Tage, Monate und Jahre zu zählen, ist für mich eine tägliche Geistesübung, damit mein Gehirn nicht einrostet. Es ist nicht gut, den Bezug zur Zeit und dem eigenen Alter zu verlieren. Selbst in der Sippe haben wir Geburtstage und die Übergänge in ein neues Jahr gefeiert. Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?“
Ich überlege… Wenn etwas Besonderes war, wurde ein großes Feuer entzündet, meist gab es dann Fleisch zu essen, was es sonst nur selten gab, und die Alten erzählten Geschichten. Wir Kinder sprangen herum und spielten. Zu späterer Stunde begannen die Erwachsenen zu musizieren und zu tanzen. So wird es wohl auch an Sylvester gewesen sein.
„Außerdem bin ich am letzten Tag des Jahres, um kurz vor 12 Uhr geboren“, fügt sie noch immer lächelnd hinzu.
„Ehrlich, du hast an Sylvester Geburtstag? Wie alt wirst du denn, um wieder auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen“, antworte ich, ebenfalls mit einem verschmitzten Lächeln.
„Jedenfalls alt genug, um nicht voreilig die Neugierde junger Leute zu stillen“, gibt sie kontra und setzt gelassen ihre Erzählung fort:
„Das beeindruckendste Neujahrsfest war für mich, als ich 8 Jahre alt geworden bin. Die 8 ist eine ganz besondere Zahl. Sie steht für Gerechtigkeit, Harmonie und Weisheit, für den Kreislauf des Lebens und für die Unendlichkeit. Deshalb hatte der 8. Geburtstag in unserer Sippe einen hohen Stellenwert und wurde als besonderes Fest gefeiert. Ich bekam dafür ein schönes handbesticktes Samtkleid an und war sehr aufgeregt vor diesem Tag. Die eigentliche Zeremonie bestand darin, dass ich mich im Uhrzeigersinn um ein Feuer bewegte. Alle anderen, sowohl die Erwachsenen als auch die älteren Kinder, bildeten einen großen Kreis um mich herum und bewegten sich in entgegengesetzter Richtung. Zu Beginn spielten die Musikanten langsame Lieder und meine Bewegungen wurden von Aufregung und Scham blockiert. Doch als die Rhythmen schneller wurden, kam ich immer mehr in meinen Tanz. Das ist der eigentliche Sinn des Festes, den Tanz seines Lebens zu finden. Das Feuer in der Mitte symbolisiert die Geburt, die entgegengesetzte Bewegung steht für die zwei Kreise der 8. Das gefeierte Kind kreist zu Beginn der Zeremonie eng um das Feuer herum und bewegt sich im Laufe seines Tanzes immer weiter nach außen, bis es letztendlich den großen Kreis erreicht. Zu jenem Zeitpunkt tanzte ich bereits wild und frei an den anderen vorbei, fühlte mich als Teil von ihnen und ließ mich feiern und verehren. Jeder Teilnehmer des äußeren Kreises sollte das Kind zumindest einmal berührt haben, bevor es schließlich in den großen Kreis aufgenommen wird. Das war für mich ein unvergessliches Erlebnis und zugleich war es der Beginn eines neuen Jahrhunderts.“
Ich registriere die Bedeutung ihrer letzten Worte nicht, zu sehr bin ich in ihre Erzählung vertieft. Wie schade, dass ich kurz vor meinem 8. Geburtstag von meiner Familie getrennt wurde und meinen Tanz des Lebens nicht finden durfte. Noch immer werde ich von Schamgefühlen und Selbstzweifeln blockiert, weil ich diese in meiner Kindheit nicht auflösen durfte und nicht verehrt und in den großen Kreis der Gemeinschaft aufgenommen wurde. Ich spüre Wut und eine tiefe Traurigkeit über diesen Verlust.
„Du hast bald deinen 18. Geburtstag. Da können wir die Zeremonie nachholen“, antwortet Maja auf meine unausgesprochenen Gedanken.
„Ehrlich? Das geht?“, frage ich überrascht und spüre, wie Hoffnung in mir aufkeimt.
„Ja, natürlich. Immer wenn eine 8 im Geburtstagsjahr vorkommt, kann man den Tanz der Unendlichkeit zelebrieren. Wäre schön, wenn du ihn zum Jahreswechsel auch mit mir und für mich tanzen würdest.“
Zum Jahreswechsel in ein neues Jahrtausend, denke ich und frage mich insgeheim, ob dies eine besondere Bedeutung für mich hat. Was hat Maja vorhin gesagt? Ihr 8. Geburtstag war zugleich der Beginn eines neuen Jahrhunderts?
„Du wirst 108 Jahre alt?! Verarsch mich!“, platzt es aus mir heraus.
„Und da fragst du mich noch, ob ich Angst vor dem Tod habe?“, greift sie meine ursprünglichste Frage auf und beginnt dabei herzhaft zu lachen. Somit schließt sich der Kreis unseres Gesprächs und ich kann nicht anders, als in ihr Lachen einzusetzen. Wir lachen und lachen bis uns die Bäuche weh tun und es uns schier vom Hocker haut.
„Ich kann nicht mehr… Hör jetzt bloß auf, Maja, sonst sterb ich noch vor Lachen.“
Wir halten kurz inne, schauen uns entgeistert an und prusten erneut los wie junge Mädchen. Das geht so lange, bis der Wind mit Tosen und Brausen unser Lachen verschlingt. Es hört sich tatsächlich so an, als würde draußen die Welt untergehen. Unsere Fröhlichkeit verstummt so abrupt, wie sie gekommen war, und an ihre Stelle tritt Demut, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte. Ich fühle mich klein und unbedeutend gegenüber dieser unermesslichen Naturgewalt.
Maja nimmt mit einer Seelenruhe das verstörte Eichhörnchen auf den Schoß, streichelt sein weiches Fell und beginnt zu singen. Ich erhebe mich und schaue aus dem Fenster. Im selben Moment schlägt direkt neben dem Wohnwagen ein Baum ein. Ein Schrei entweicht mir. Äste fliegen durch die Luft wie die Blätter im Herbst und Bäume knicken um, als wären es Streichhölzer. Das reinste Chaos vollzieht sich vor meinen Augen. Der errichtete Schutzwall scheint das Gröbste abzuhalten; hin und wieder krachen ein paar Äste gegen unsere Behausung und lassen mich zusammenzucken. Mir wird bewusst, dass wir ohne die getroffenen Vorkehrungen nicht die geringste Überlebenschance gehabt hätten. Doch wie konnte Maja nur so präzise herausfinden, was zu tun ist, um unser Leben zu schützen? Erschüttert blicke ich weiterhin aus dem Fenster und beobachte, wie sich der Wald, innerhalb kürzester Zeit, in ein einziges Schlachtfeld verwandelt. Soweit ich sehen kann, ist kaum ein Baum stehengeblieben.
„Ich könnte jetzt ein paar Baldriantropfen gebrauchen oder hast du vielleicht noch was Besseres zur Beruhigung?“
Mir ist nicht mehr zum Spaßen zumute, ich möchte mich jetzt einfach nur noch bekiffen. Maja gibt mir mit einem Kopfnicken in Richtung getrockneter Kräuter zu verstehen, dass ich mich bedienen solle. Sie schaut ebenfalls niedergeschlagen aus. Ich stopfe die Pfeife, zünde sie an und setze mich neben sie. Der Wind bläst noch immer tosend um den Wagen, doch er hat sich bereits alles genommen, was zu haben war.
„Der ganze Wald ist niedergemäht“, sage ich traurig, während ich den süßlichen Rauch inhaliere. „Hättest du dein Leben auch geschützt, wenn ich nicht gekommen wäre, oder wärst du so bereitwillig gegangen wie all diese Bäume?“, frage ich, reiche ihr die Pfeife und sie dankt mir mit einem abgeklärten Lächeln.
„Ich weiß es nicht, weil ich immer erst handle, wenn es die Situation erfordert. Ich vertraue darauf, dass ich spüre, wenn für mich die Zeit zu gehen gekommen ist“, antwortet sie gelassen.
„Ich möchte noch so vieles von dir lernen“, gebe ich zurück.
„Ja, du trägst eine große Gabe in dir“, erwidert sie respektvoll.
Der Gedanke, dass sie bald sterben könnte, lässt ein Gefühl von Panik in mir aufsteigen. Ihre Erzählung von vorhin hat meine Kindheitserinnerungen wachgerufen und mit ihnen den Schmerz des Verlustes. Zehn Jahre ist es nun her, dass ich von meiner Familie getrennt wurde, und die alte Frau ist der einzige Mensch, der mir noch geblieben ist. Sie ist die einzige Verbindung, die ich zu meiner Herkunft noch habe; die einzige Person, von der ich etwas über unsere Sitten und Bräuche erfahren kann.
Hinzu kommt ihr ungeheures Wissen in Naturheilkunde, all die Zeremonien und Zauberkünste und vor allem die beeindruckende Fähigkeit, hier in der Wildnis zu überleben. Das darf nicht alles verloren gehen! Am besten nichts davon!
„Hast du denn noch Kontakt zu jemand anderem aus der Sippe?“, frage ich mit einem flauen Gefühl im Bauch.
„Ja, hin und wieder bekomme ich noch Besuch. Wenn jemand krank ist oder meinen Rat braucht, suchen sie mich auf. Als Gegenleistung bringen sie mir Wolle, Hafer, Reis und sonstige Gebrauchsgegenstände. Ich benötige nicht viel von der Welt jenseits des Waldes und doch wäre es nicht einfach, ganz ohne diesen Austausch zu überleben.“
„Weißt du, wie es meinen Eltern geht?“
Es kostet mich Überwindung, diese Frage zu stellen, und ich spüre, wie sehr ich den Schmerz verdrängt habe, den die Trennung in mir hinterlassen hat. Ich nehme nochmal einen tiefen Zug von der Pfeife und bin froh über deren dämpfende Wirkung.
„Ja, ich weiß, wie es deinen Eltern geht“, antwortet sie gelassen. „Sie führen nun ein völlig anders Leben, haben eine kleine Wohnung am Rande der Stadt und verdienen ihr Geld mit Singen und Bedienen. Ich bezweifle, dass sie glücklich sind, doch sie können wohl in jenem mir fremdartigen Leben bestehen. Die Essenz ist verloren gegangen, alles ist vergänglich geworden. Es ist nur noch ein Wettkampf gegen die Zeit.“
Ich nicke. Das ist vorerst genug, was ich erfahren möchte.
„Seit dem Sturm hat mich Tim nicht mehr heimgesucht. Hast du eine Erklärung dafür, Maja?“, frage ich ruhig.
Ja, ich bin ruhiger geworden die letzten Tage. Die alte Frau sitzt wie so oft im Sessel und streichelt Lealia. Dies ist unsere Zeit für Gespräche.
„Ach Kind, niemand weiß genau, was mit uns geschieht, nachdem unser Herz aufgehört hat zu schlagen, doch es haben mich schon viele Geister heimgesucht und sind dann wieder verflogen wie Nebelschwaden auf dem Felde. Viele Menschen sind in mein Leben getreten und haben es Jahre später wieder verlassen. So ist der Kreislauf des Lebens. Doch egal, wie alt ich geworden bin, und egal, wie viele Erfahrungen ich gesammelt habe, der Schmerz, wenn ein liebgewonnener Mensch gehen muss, ist geblieben.“
„Aber warum konnte ich seine Seele bisher noch spüren und jetzt nicht mehr? War das der eigentliche Prozess des Sterbens? Ist seine Seele jetzt endgültig in einen anderen Zustand übergegangen oder gar erloschen?“, frage ich ergriffen.
„Langsam Ayla, du musst lernen zuzuhören“, erwidert sie in einer Ruhe, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. „Die meisten Menschen gehen, bevor sie bereit sind zu gehen. Das gilt nicht nur für den Tod. Sie binden sich an einen Menschen, ohne ihn wahrhaftig zu kennen, und lösen die Verbindung wieder auf, sobald ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Die Menschen haben verlernt, geduldig zu sein, und sie haben verlernt, auf ihr Herz zu hören. Sie sterben oft, bevor sie sich selbst wahrlich kennengelernt haben. Sobald der Geist den Körper verlässt und alles im Äußeren zerbricht, erkennt der Geist, dass er noch nicht zu dem gereift ist, der er sein möchte. Er erkennt, dass er Menschen verletzt und ungerecht behandelt hat, und dass er vieles zu lernen versäumte, was er hätte lernen sollen. Das ist für den Geist ein unerträglicher Zustand. Also kehrt er zu den Menschen zurück, die er zu Lebzeiten missbraucht hat, und möchte ihnen im Nachhinein die Liebe geben, welche er ihnen als Mensch vorenthalten hat. Leider ist dies in der jenseitigen Daseinsform nicht mehr möglich.“
„In der jenseitigen Daseinsform? Bedeutet das etwa, dass seine Seele jetzt wieder in einen neuen Körper inkarniert ist und ich sie deshalb nicht mehr spüren kann?“, frage ich wieder ungeduldig, doch ich bin zu aufgewühlt, um mich bremsen zu können.
Maja gibt mir ein gelassenes Lächeln zurück. „Ja, so ist mein Glaube“, erwidert sie.
Ihre Antwort bringt mich seltsam zum Schwingen. Die Vorstellung, dass Tims Seele nun in einem anderen Körper wohnt, ist befremdlich und hoffnungsvoll zugleich.
„Vielleicht macht er aber auch nur ein Nickerchen und kehrt morgen wieder zu dir zurück“, fügt Maja mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.
Überrascht blicke ich sie an, bis ich erst die Ironie ihrer Worte begreife, welche den Zwiespalt des Lebens auf die Schippe nimmt. Unmittelbar wird es mir leichter ums Herz. Was bleibt uns auch anderes übrig, als dem Schicksal mit einem Lächeln in die Augen zu sehen.
Ayla:
„Ich möchte meiner Freundin einen Brief schreiben. Hättest du vielleicht ein Stück Papier und einen Stift für mich?“, frage ich Maja am nächsten Morgen.
Es fällt mir noch immer schwer, längere Zeit untätig herumzusitzen. Zu sehr werde dabei mit mir selbst konfrontiert und dazu bin ich noch nicht wahrlich bereit. Ich weiß, dass ich dem nicht ewig entfliehen kann, doch im Moment scheint es mir das Richtige zu sein.
„Ja, ich habe Schreibzeug, allerdings wird der Briefkasten nur alle paar Jahre geleert“, antwortet Maja lachend, woraufhin ich nur die Augen verdrehe.
„Ich werde in den nächsten Ort laufen und ihn dort einwerfen. Hergekommen bin ich ja auch“, gebe ich entschlossen zurück.
„Ja, klar. Ich hoffe, du bist gut im Hindernislauf“, erwidert sie, steht auf und kramt aus einer alten Holztruhe ein Buch und einen Bleistift hervor.
„Das Schreibzeug hat mir einst deine Mutter gebracht. Sie hat mich gebeten, meine Heilrezepte darin aufzuschreiben. Zwei Bücher habe ich bereits vollgeschrieben. Aber das Wissen allein genügt nicht. Es bedarf auch der Gabe zu heilen, um es anwenden zu können.“
„Die Gabe zu heilen…“, wiederhole ich ehrfürchtig ihre Worte und nehme das Buch achtsam entgegen, fast so als wäre es ein Heiligtum. Gespannt blättere ich die Seiten durch und überfliege ihre Niederschrift. Seltsamerweise kommt mir vieles bekannt vor, obwohl ich mich noch nie zuvor in meinem Leben mit irgendwelchen Kräuterrezepten, Räucherwerken oder sonstigen Zeremonien beschäftigt habe. Trotzdem scheint es mir, als hätte ich das Buch schon mal gelesen, vielmehr studiert. Verwirrt blättere ich weiter, bis etwa zur Mitte, wo die Niederschrift endet.
„Kennst du jemanden, der diese Gabe besitzt?“, frage ich gespannt.
Sie lächelt. „Ja, die kenne ich.“
Benommen nehme ich den Bleistift zur Hand und beginne, auf die erste freie Seite des Buches, einen Brief an Nora zu schreiben.
Hindernislauf ist noch sehr milde ausgedrückt! Ich bin bereits in der Morgendämmerung aufgebrochen und bestimmt schon seit 2 Stunden unterwegs, doch es ist tatsächlich sehr mühsam und kräftezehrend, sich einen Weg durch das Gewirr aus Bäumen zu bahnen. Einmal klettere ich über die Baumstämme hinüber, dann schlüpfe ich wieder unten hindurch und manchmal, wenn mehrere Bäume ineinander verschachtelt liegen, bleibt mir nichts anderes übrig, als einen Umweg außen herum zu nehmen. Bald müsste ich zu der alten Eiche kommen. Sie ist etwa 4 Mal so alt wie Maja und es gibt eine Legende, welche besagt, dass ein böser Zauberer unter ihr begraben liegt. Er soll seine Macht missbraucht und einen Fluch über unser Volk gelegt haben. Krankheiten, Missgeburten und zahlreiche Todesfälle seien die Folge gewesen. Um diesen Fluch zu brechen, wurde der böse Zauberer, Zonyx sein Name, bei lebendigem Leib begraben und eine junge Eiche auf ihm gepflanzt, um seinen verdorbenen Geist in deren Wurzeln gefangen zu halten. Dies ist eine der wenigen Geschichten, die mir aus meiner Kinderzeit in Erinnerung geblieben ist, und obwohl ich nicht wirklich an diese Art Schauermärchen glaube, hoffe ich doch inbrünstig, dass die alte Eiche den Sturm überstanden hat. Zudem markiert sie in etwa die Hälfte meines Weges ins nächstgelegene Dorf, und wenn ich diese Strecke nicht bald zurückgelegt habe, weiß ich nicht, ob ich es noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückschaffe. Allerdings bin ich mir