Elisabeth Lim
Ein Kleid aus Seide und Sternen
Aus dem Englischen von Barbara Imgrund
Maia Tamarin träumt davon, die beste Schneiderin des Reiches zu werden, aber als Mädchen ist ihr das Handwerk untersagt. Als der Kaiser einen Wettbewerb um den Posten des Hofschneiders ausruft, fasst sie einen gewagten Plan. Verkleidet als Junge reist sie an den Hof. Keiner darf ihr Geheimnis erfahren, doch schon bald zieht sie die Aufmerksamkeit des geheimnisvollen Magiers Edan auf sich. Um die schier unmögliche letzte Aufgabe zu erfüllen, begibt sie sich mit ihm auf eine gefährliche Reise, die sie fast alles kostet, was ihr lieb und teuer ist.
Ein Wettkampf, eine gefährliche Reise – und eine große Liebe. Elizabeth Lim entführt ihre Leserinnen und Leser in eine Welt voller Magie und Abenteuer!
Wohin soll es gehen?
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Viten
Für Adrian,
der mein Leben
auf die bestmögliche aller Arten
verändert hat
Bittet mich, das feinste Garn, den feinsten Faden zu spinnen, und ich tue es schneller als jeder andere – selbst mit geschlossenen Augen. Doch bittet mich, eine Lüge zu erzählen, und ich werde stammeln und ins Stocken geraten, wenn ich sie mir ausdenken muss.
Ich hatte nie ein Talent, Geschichten zu spinnen.
Mein Bruder Keton weiß das besser als jeder andere. Er glaubt mir, auch wenn er ein paarmal seine Augenbrauen hochzieht, während ich ihm alles erzähle – von den drei nahezu unlösbaren Aufgaben, die mir gestellt wurden, von dem Dämon und den Geistern, denen ich auf meiner Reise begegnet bin, und von dem Zauber, der unseren Kaiser umgab.
Baba, mein Vater, glaubt mir nicht. Er sieht durch die Schatten, hinter denen ich mich verstecke, sieht, dass meine Augen trotz des Lächelns, das ich Keton schenke, rot und entzündet sind. Geschwollen vom stunden-, ja tagelangen Weinen. Was Baba nicht sehen kann: Mein Herz ist verhärtet, obwohl noch die Tränen auf meinen Wangen trocknen.
Ich fürchte mich davor, zum Ende meiner Geschichte zu kommen, denn es ist voller Knoten, die abzuschneiden ich nicht den Mut hatte. Ferne Trommeln dröhnen. Sie werden mit jeder Sekunde lauter, eine irritierende Erinnerung, wie wenig Zeit mir bleibt, um meine Wahl zu treffen.
Wenn ich zurückgehe, lasse ich hinter mir, wer ich war. Ich werde meine Familie nie wiedersehen, nie mehr mein Gesicht im Spiegel betrachten und nie mehr wird jemand meinen Namen rufen.
Aber ich würde die Sonne und den Mond und die Sterne aufgeben, wenn ich ihn dadurch retten könnte.
Ihn – den Jungen ohne Namen, der tausend Namen hat. Den Jungen, der das Blut der Sterne getrunken hat.
Den Jungen, den ich liebe.
TEIL EINS
DIE PRÜFUNG
KAPITEL EINS
Ich hatte einmal drei Brüder.
Finlei war der älteste – der mutige. Nichts machte ihm Angst, weder Spinnen noch Nadeln noch eine Tracht Prügel mit Babas Spazierstock. Er war der Schnellste von uns vier Geschwistern, flink genug, um eine Fliege nur mit dem Daumen und einem Fingerhut zu fangen. Doch mit seiner Unerschrockenheit ging die Sehnsucht nach Abenteuern einher. Er verabscheute es, in unserer Werkstatt zu arbeiten, das kostbare Tageslicht mit dem Nähen von Kleidern und Ausbessern von Hemden vergeuden zu müssen. Und er ging achtlos mit der Nadel um, hatte aufgrund kleiner Stichwunden ständig die Finger verpflastert, und seine Nähte waren unregelmäßig. Ich trennte sie immer wieder auf und setzte sie neu, um Finlei vor Babas Standpauken zu bewahren.
Finlei besaß nicht die Geduld, um ein Schneider wie Baba zu werden.
Sendo besaß Geduld, aber nicht fürs Nähen. Mein zweiter Bruder war der Poet in der Familie, und das einzige Spinnen, das er liebte, war das Spinnen von Geschichten, besonders über das Meer. Er erzählte in solch vortrefflichen Einzelheiten von den schönen Gewändern, die Baba nähen konnte, dass alle Damen in der Stadt lautstark danach verlangten – nur um zu erfahren, dass sie gar nicht existierten.
Zur Strafe hieß Baba ihn auf dem Pier hinter unserer Werkstatt Fäden aus den Kokons der Seidenraupen zupfen. Oft stahl ich mich hinaus, um mich zu ihm zu setzen und seinen Geschichten über all das zu lauschen, was hinter diesem endlosen Horizont aus Wasser lag.
»Welche Farbe hat das Meer?«, fragte Sendo mich dann.
»Es ist blau, Dummkopf, was sonst?«
»Wie willst du die beste Schneiderin in A’landi werden, wenn du keine Farben unterscheiden kannst?« Sendo schüttelte den Kopf und wies auf das Wasser. »Schau noch einmal hin. Schau in die Tiefe.«
»Saphir«, sagte ich, während ich die Wellenberge und -täler des Ozeans ins Auge fasste. Das Wasser funkelte. »Saphir, wie die Steine, die Lady Tainak um den Hals trägt. Aber es ist auch ein Hauch von Grün dabei … Jadegrün. Und die Schaumkronen sind wie Perlen.«
Sendo lächelte. »Schon besser.« Er legte mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. »Eines Tages werden wir zur See fahren, du und ich. Und du wirst das Blau der ganzen Welt sehen.«
Um Sendos willen wurde Blau meine Lieblingsfarbe. Es bemalte jeden Morgen das Weiß meiner Wände, wenn ich mein Fenster öffnete und das Meer im Sonnenlicht glitzern sah. In Saphir- oder Himmelblau. Azurblau. Indigo. Sendo schulte meine Augen darin, die Schattierungen der Farben zu erkennen, sie vom dunkelsten Braun bis zum hellsten Rosa schätzen zu lernen. Zu entdecken, dass Licht etwas tausendfach brechen und zu etwas anderem machen konnte.
Sendos Herz war für die See gemacht, nicht dafür, ein Schneider wie Baba zu werden.
Keton war mein dritter Bruder, und er stand mir vom Alter her am nächsten. Seine Lieder und Witze brachten alle zum Lachen, gleichgültig, in welcher Stimmung wir waren. Er bekam immer Schwierigkeiten, weil er unsere Seide grün statt purpurn färbte, weil er achtlos mit schmutzigen Sandalen auf frisch gestärkte Kleider stieg, weil er vergaß, die Maulbeerbäume zu gießen, und weil er nie ein Garn spann, das fein genug war, dass Baba es zu einem Pullover hätte verstricken können. Geld rann ihm wie Wasser durch die Finger. Aber Baba liebte ihn am meisten – obwohl Keton nicht diszipliniert genug war, um Schneider zu werden.
Dann war da noch ich – Maia. Die folgsame Tochter. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich stillvergnügt bei Mama saß, die am Spinnrad arbeitete, und Finlei, Sendo und Keton lauschte, die draußen spielten, während Baba mir beibrachte, Mamas Garn aufzurollen, damit es sich nicht verknotete.
Mein Herz schlug tatsächlich fürs Schneidern: Ich war imstande, mit Nadel und Faden umzugehen, bevor ich gehen, und eine Naht aus perfekten Stichen zu setzen, bevor ich sprechen konnte. Ich liebte das Nähen und freute mich, Babas Handwerk zu erlernen, anstatt mit meinen Brüdern nach draußen zu gehen. Außerdem verfehlte ich immer mein Ziel, wenn Finlei mir das Boxen und den Umgang mit Pfeil und Bogen beibringen wollte. Auch wenn ich Sendos Märchen und Geistergeschichten regelrecht aufsaugte, hatte ich selbst nie etwas zu erzählen. Und ich fiel immer auf Ketons Streiche herein, egal, wie oft meine älteren Brüder mich davor warnten.
Baba sagte stolz, ich sei mit einer Nadel in der einen Hand und einer Schere in der anderen zur Welt gekommen. Und dass ich, wenn ich nicht als Mädchen geboren worden wäre, vielleicht der größte Schneider von A’landi geworden wäre, zu dem die Kaufleute von einer Küste des Kontinents zur anderen strömten.
»Der Wert eines Schneiders bemisst sich nicht nach seinem Ruhm, sondern nach dem Glück, das er beschert«, sagte Mama, als sie merkte, wie enttäuscht ich über Babas Worte war. »Du wirst die Nähte unserer Familie zusammenhalten, Maia. Kein anderer Schneider auf der Welt kann das.«
Ich erinnere mich, dass ich sie anstrahlte. Damals war alles, was ich mir wünschte, dass meine Familie glücklich war und beisammenblieb – für immer.
Aber dann starb Mama, und alles änderte sich.
Wir lebten damals in Gangsun, einer bedeutenden Stadt an der Großen Gewürzstraße, und unser Laden erstreckte sich über einen halben Block. Baba war ein angesehener Schneider und im südlichen A’landi bekannt für seine schönen Kleider. Doch es kamen schlechte Zeiten und der Tod meiner Mutter war eine erste heftige Erschütterung von Babas starkem Willen.
Er begann zu trinken – um seinen Kummer zu ersäufen, wie er sagte. Das hielt nicht lange an – in all seiner Trauer verschlechterte sich Babas Gesundheitszustand, bis er den Branntwein nicht mehr vertrug. Er kehrte zu seiner Arbeit im Laden zurück, doch er wurde nie wieder der Alte.
Die Kunden bemerkten, dass Babas Fingerfertigkeit nachließ, und sprachen meine Brüder darauf an. Finlei und Sendo sagten es ihm nie; sie hatten nicht das Herz dazu. Aber einige Jahre vor dem Fünfwinterkrieg, als ich zehn Jahre alt war, überredete Finlei Baba dazu, Gangsun zu verlassen und in ein Haus mit Ladengeschäft nach Port Kamalan zu ziehen, einer kleinen Küstenstadt am Rande der Handelsstraße. Die frische Seeluft würde Baba guttun, behauptete er steif und fest.
Unser neues Zuhause lag an der Ecke der Yanamer- und der Tonga-Straße, gegenüber einem Laden, der so lange handgezogene Nudeln herstellte, dass man sich an einer allein satt essen konnte, und einer Bäckerei, die die besten gedämpften Teigtaschen und Milchbrötchen der Welt buk – so schmeckten sie jedenfalls für mich und meine Brüder, wenn wir Hunger hatten, und das hatten wir oft. Aber was ich am meisten liebte, war der herrliche Ausblick aufs Meer. Manchmal, wenn ich zusah, wie sich die Wellen an den Piers brachen, betete ich insgeheim, dass die See Babas gebrochenes Herz heilen möge – so wie sie langsam meines heilte.
Das Geschäft lief am besten im Sommer und Winter, wenn all die Karawanen, die auf der Großen Gewürzstraße gen Osten und Westen unterwegs waren, in Port Kamalan haltmachten, um sich unseres gemäßigten Klimas zu erfreuen. Der kleine Laden meines Vaters war angewiesen auf einen stetigen Nachschub an Indigo, Safran, Ocker zum Färben der Stoffe. Es war eine Kleinstadt, wir schneiderten also nicht nur Kleidung, sondern verkauften auch Stoffe und Garne. Es war schon lange her, dass mein Vater eine Robe genäht hatte, die einer edlen Dame würdig war, und als der Krieg begann, war ohnehin wenig auf Bestellung zu schneidern.
Das Unglück folgte uns in unser neues Zuhause. Port Kamalan war so weit von der Hauptstadt entfernt, dass ich dachte, meine Brüder würden niemals in den Bürgerkrieg, der A’landi verheerte, einberufen werden. Doch die Feindseligkeiten zwischen dem jungen Kaiser Khanujin und dem Shansen, dem mächtigsten Kriegsherrn des Landes, wurden keineswegs beigelegt, und so brauchte der Kaiser noch mehr Männer, die in seiner Armee kämpfen sollten.
Finlei und Sendo waren volljährig, daher wurden sie als Erste eingezogen. Ich war damals jung genug, um die Vorstellung, in den Krieg zu ziehen, romantisch zu finden. Zwei Brüder zu haben, die Soldat wurden, fühlte sich ehrenvoll an.
Einen Tag bevor sie uns verließen, war ich draußen und bemalte eine Bahn weißer Baumwolle. Wegen der Pfirsichblüten, die an der Yanamer-Straße wuchsen, musste ich niesen, und dabei verschüttete ich den letzten Rest von Babas teurem Indigo über meinen Rock.
Finlei lachte und wischte mir ein paar kleine Farbspritzer von der Nase.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er, während ich verzweifelt möglichst viel von der Farbe zu retten versuchte.
»Sie kostet achtzig Jen pro Unze! Und wer weiß schon, wann die Farbhändler wiederkommen?«, murmelte ich und rieb weiter an meinem Rock herum. »Es wird allmählich zu heiß, um auf der Gewürzstraße zu reisen.«
»Dann besorge ich dir unterwegs welchen«, erwiderte Finlei. Mit den Fingerspitzen drehte er mein Kinn zu sich. »Ich werde ganz A’landi sehen, wenn ich Soldat bin. Vielleicht kehre ich ja als General zurück.«
»Ich hoffe doch, dass du nicht so lange wegbleibst!«, rief ich.
Finleis Gesicht wurde ernst. Seine Augen wirkten jetzt schwarz, und er schob mir eine Strähne meines windzerzausten Haars aus dem Gesicht. »Pass auf dich auf, Schwester«, sagte er, und in seiner Stimme schwang sowohl Humor als auch Traurigkeit mit. »Arbeite nicht so hart, damit du …«
»… nicht der Drachen wirst, der niemals fliegt«, vollendete ich den Satz für ihn. »Ich weiß.«
Finlei berührte meine Wange. »Pass auch auf Keton auf. Sorge dafür, dass er nicht in Schwierigkeiten gerät.«
»Und achte auf Baba«, ergänzte Sendo, der hinter mir auftauchte. Er hatte eine Blüte von einem der Bäume vor unserem Laden gepflückt und steckte sie mir hinters Ohr. »Und übe dich in Kalligrafie. Ich komme bald wieder, um zu sehen, ob sich deine Handschrift verbessert hat.« Sendo fuhr mir durchs Haar. »Du bist jetzt die Herrin des Hauses.«
Ich beugte pflichtbewusst den Kopf. »Ja, Brüder.«
»Ihr tut ja so, als wäre ich vollkommen nutzlos«, mischte sich plötzlich Keton ein. Da schrie Baba, er solle seine Haushaltsarbeiten zu Ende bringen, und Keton zuckte zusammen.
Ein Lächeln breitete sich über Finleis ernstes Gesicht aus. »Kannst du uns das Gegenteil beweisen?«
Keton stemmte empört die Hände in die Hüften, und wir lachten alle.
»Wir werden mit der Armee an ferne Orte kommen«, sagte Sendo und legte mir die Hand auf die Schulter. »Was soll ich dir mitbringen? Vielleicht Farben aus West-Gangseng? Oder Perlen aus dem Hoheitlichen Hafen?«
»Nein, nein«, antwortete ich. »Kommt einfach nur wohlbehalten wieder heim. Ihr beide.« Doch dann zögerte ich.
Sendo stupste mich an. »Was ist, Maia?«
Meine Wangen brannten. Ich schlug die Augen nieder und blickte auf meine Hände. »Wenn ihr Kaiser Khanujin sehen solltet«, begann ich langsam, »dann zeichnet sein Porträt für mich, in Ordnung?«
Finleis Schultern bebten vor Heiterkeit. »Also hast du von den Mädchen im Ort gehört, wie gut er aussieht? Jede von ihnen hat nichts anderes im Sinn, als eine der kaiserlichen Konkubinen zu werden.«
Ich war so verlegen, dass ich ihn nicht ansehen konnte. »Ich habe kein Interesse daran, eine Konkubine zu werden.«
»Du willst nicht in einem seiner vier Paläste leben?«, fragte Keton verächtlich. »Ich habe gehört, dass er einen für jede Jahreszeit hat.«
»Keton, das reicht«, tadelte ihn Sendo.
»Mir sind seine Paläste egal«, erwiderte ich und wandte mich von meinem jüngsten Bruder zu Sendo. Seine Augen glänzten vor Sanftmut – er war immer mein Lieblingsbruder gewesen, und ich wusste, dass er es verstehen würde. »Ich will wissen, wie er aussieht, sodass ich eines Tages seine Schneiderin werden kann. Eine kaiserliche Schneiderin.«
Keton verdrehte die Augen. »Das ist genauso wahrscheinlich, wie seine Konkubine zu werden!«
Finlei und Sendo funkelten ihn finster an.
»Also gut«, versprach Sendo und tippte auf die Sommersprossen auf meiner Wange. Er und ich hatten als Einzige in der Familie Sommersprossen – das Ergebnis stundenlangen Tagträumens an der Sonne. »Ein Porträt des Kaisers für meine begabte Schwester Maia.«
Ich umarmte ihn, obwohl ich wusste, dass meine Bitte sehr albern war. Und doch hoffte ich.
Wenn ich gewusst hätte, dass dies unser allerletztes Beisammensein war, hätte ich um gar nichts gebeten.
Zwei Jahre später erhielt Baba die Nachricht, dass Finlei im Kampf gefallen war. Das kaiserliche Emblem unten auf dem Brief war so rot wie frisch vergossenes Blut und so eilig gestempelt, dass der Schriftzug von Kaiser Khanujins Namen verwischt war. Noch Monate später musste ich allein bei dem Gedanken daran weinen.
Dann, eines Nachts und ohne Vorankündigung, lief Keton weg, um sich der Armee anzuschließen. Alles, was er hinterließ, war ein rasch hingekritzelter Zettel, den er auf meine frische Wäsche gelegt hatte – er wusste, dass es das Erste wäre, was ich am Morgen nach dem Aufwachen sehen würde.
Ich bin schon zu lange nutzlos gewesen. Ich werde Sendo finden und ihn heimbringen. Kümmere Dich um Baba.
Tränen traten mir in die Augen, und ich zerknüllte das Papier in der Faust.
Was wusste Keton vom Kämpfen? Wie ich war er so spindeldürr wie Schilfrohr, kaum stark genug, sich gegen den Wind zu stemmen. Er konnte keinen Reis auf dem Markt kaufen, ohne sich betrügen zu lassen, und er versuchte immer, sich aus einem Kampf herauszureden. Wie sollte er einen Krieg überleben?
Ich war aber auch wütend – weil ich nicht mit ihm gehen konnte. Wenn Keton sich selbst für nutzlos hielt, was sollte ich erst sagen? Ich konnte nicht in der Armee kämpfen. Und trotz all der Abertausend Stunden, in denen ich mir neue Nähstiche ausdachte und Entwürfe zeichnete, um sie zu verkaufen, würde ich niemals Meisterschneider werden. Ich konnte niemals Babas Laden übernehmen. Ich war ein Mädchen. Das Beste, worauf ich hoffen konnte, war eine gute Heirat.
Baba sprach nie von Ketons Rückkehr, wollte monatelang überhaupt nicht von meinem jüngsten Bruder sprechen. Aber ich sah, dass seine Finger steif wurden – er konnte sie nicht einmal mehr weit genug spreizen, um eine Schere zu halten. Er starrte tagelang aufs Meer, während ich unseren schlecht laufenden Laden weiterführte. Es blieb mir überlassen, Aufträge an Land zu ziehen, um dafür zu sorgen, dass meine Brüder noch ein Zuhause hatten, in das sie heimkehren konnten.
Niemand hatte Bedarf an Seide und Satin, nicht, während unser Land sich von innen heraus selbst zerfleischte. Deshalb fertigte ich Hemden aus Hanf für unsere einheimischen Fischer und Leinenkleider für ihre Frauen an, und ich verspann Flachs zu Wolle und flickte die Mäntel der Soldaten, die auf der Durchreise waren. Die Fischer gaben mir Fischköpfe und Säcke voll Reis für meine Arbeit. Den Soldaten etwas zu berechnen, erschien mir nicht richtig.
Gegen Ende jedes Monats half ich den Frauen bei der Vorbereitung der Gaben für die Toten – Papierkleider, die knifflig zu nähen waren –, um sie zu Ehren der Ahnen vor den Gebetsschreinen zu verbrennen. Ich nähte Papier in die Schuhe von durchziehenden Händlern und Schnüre mit Münzen in ihre Gürtel, damit die Taschendiebe das Nachsehen hatten. Ich reparierte sogar Amulette für Reisende, die mich darum baten, obwohl ich nicht an Magie glaubte. Damals noch nicht.
An Tagen, an denen es keine Aufträge gab und unsere Vorräte an Weizen und Reis bedrohlich zur Neige gingen, holte ich meinen Rattankorb heraus und gab ein paar Garnspulen, eine Bahn Musselin und eine Nadel hinein. Ich streifte durch die Straßen, ging von Tür zu Tür und fragte, ob jemand etwas auszubessern hatte.
Doch nur wenige Schiffe legten im Hafen an. Staub und Schatten fegten durch die leeren Straßen.
Die fehlenden Aufträge machten mir nicht so sehr zu schaffen wie die peinlichen Begegnungen, die ich auf dem Heimweg über mich ergehen lassen musste. Früher war ich sehr gern in die Bäckerei gegenüber unserer Werkstatt gegangen, doch das änderte sich während des Krieges. Denn jetzt wartete Calu, der Sohn des Bäckers, auf mich, wenn ich in die Yanamer-Straße zurückkehrte.
Ich mochte Calu nicht. Nicht, weil er nicht im Heer diente – er konnte das gar nicht, denn er war durch die kaiserliche Gesundheitsprüfung gefallen. Ich mochte ihn nicht, weil er es sich, seitdem ich sechzehn geworden war, in den Kopf gesetzt hatte, dass ich seine Frau werden würde.
»Ich sehe es gar nicht gern, dass du so um Arbeit bettelst«, sagte Calu eines Tages. Er winkte mich in die Bäckerei seines Vaters. Der Duft der Brote und Kuchen waberte aus der Tür. Mir lief das Wasser im Mund zusammen beim Geruch von Hefe, fermentiertem Reismehl und gerösteten Erdnüssen und Sesam.
»Es ist besser, als zu verhungern.«
Er wischte sich roten Bohnenbrei von den Händen. Schweiß tropfte von seinen Schläfen in die Teigschüssel auf seinem Arbeitstisch. Normalerweise hätte ich darüber die Nase gerümpft – wenn Calus Vater gesehen hätte, wie nachlässig er war, hätte er ihm eine Strafpredigt gehalten –, aber jetzt war ich zu hungrig, als dass es mir etwas ausgemacht hätte.
»Wenn du mich heiraten würdest, müsstest du nie mehr Hunger leiden.«
Seine Dreistigkeit war mir unangenehm, und ich dachte mit Schrecken daran, wie es wäre, wenn Calu mich anfasste, wenn ich seine Kinder bekäme, wenn meine Stickrahmen verstaubten und meine Kleider klebrig von Zucker würden. Ich unterdrückte einen Schauder.
»Du hättest immer eine Menge zu essen – dein Baba auch«, versuchte es Calu noch einmal und leckte sich über die Lippen. Er lächelte; seine Zähne waren so gelb wie Butter. »Ich weiß, wie sehr du das Blätterteiggebäck meines Vaters liebst, seine gedämpften Teigtaschen mit Lotusfüllung, seine Kokosbrötchen.«
Mein Magen knurrte, aber ich wollte nicht zulassen, dass mein Hunger mein Herz überstimmte. »Bitte hör auf, mich zu fragen. Meine Antwort wird sich nicht ändern.«
Da wurde Calu zornig. »Du bist dir zu fein für mich, oder?«
»Ich muss den Laden meines Vaters führen«, versuchte ich einzulenken. »Er braucht mich.«
»Ein Mädchen führt keinen Laden«, hielt er dagegen. Dabei öffnete er den Dämpfkorb und entnahm ihm einen frischen Stapel Teigtaschen. Für gewöhnlich gab er Baba und mir einige, aber ich wusste, dass er das heute nicht tun würde. »Du magst eine gute Näherin sein – die beste im Ort –, aber wäre es nicht jetzt, da deine Brüder fort sind und für den Kaiser kämpfen, an der Zeit, vernünftig zu werden und eine Familie zu gründen?« Er griff nach meiner Hand. Seine Finger waren mehlbestäubt und feucht. »Denk an das Wohlergehen deines Vaters, Maia. Du bist selbstsüchtig. Du könntest ihm ein besseres Leben bieten.«
Getroffen machte ich mich von ihm los. »Mein Vater würde seinen Laden niemals aufgeben.«
Calu schnaubte. »Das wird er müssen, denn du kannst ihn allein nicht am Laufen halten. Du bist dünn geworden, Maia. Denk nicht, es wäre mir nicht aufgefallen.« Meine Zurückweisung machte ihn grausam, er lächelte höhnisch. »Gib mir einen Kuss, und du kriegst ein Brötchen.«
Ich reckte das Kinn. »Ich bin kein Hund.«
»Ach, jetzt bist du zu stolz zum Betteln, was? Du willst deinen Vater hungern lassen, weil du so hochnäsig …«
Ich hatte genug davon, ihm weiter zuzuhören. Ich floh aus der Bäckerei und stürmte über die Straße. Mein Magen knurrte noch immer, als ich Babas Ladentür hinter mir zuknallte. Das Schlimmste war: Ich wusste, dass ich selbstsüchtig war. Ich sollte Calu wirklich heiraten. Aber ich wollte meine Familie aus eigener Kraft retten – wie Mama es gesagt hatte.
Ich sackte gegen die Tür. Aber was, wenn ich es nicht schaffte?
Baba fand mich dort lautlos schluchzend.
»Was ist denn los, Maia?«
Ich wischte mir die Tränen ab und stand auf. »Nichts, Baba.«
»Hat Calu dich schon wieder gefragt, ob du ihn heiraten willst?«
»Wir haben nichts zu tun«, sagte ich ausweichend. »Wir …«
»Calu ist ein guter Junge«, gab Baba zurück. »Aber er ist eben nur das – ein Junge. Und deiner nicht würdig.« Er beugte sich über meinen Stickrahmen und begutachtete den Drachen, den ich gestickt hatte. Es war schwer, auf Baumwolle statt auf Seide zu arbeiten, aber ich hatte mich bemüht, jede Einzelheit herauszuarbeiten: die karpfenähnlichen Schuppen, die scharfen Klauen und dämonischen Augen. Ich sah, dass Baba beeindruckt war. »Du bist zu Höherem berufen, Maia.«
Ich wandte mich ab. »Wie könnte ich das sein? Ich bin kein Mann.«
»Wenn du es wärest, hätte man dich in den Krieg geschickt. Die Götter schützen dich.«
Ich glaubte ihm nicht, aber um seinetwillen nickte ich und trocknete meine Tränen.
Einige Wochen vor meinem achtzehnten Geburtstag erreichten uns gute Neuigkeiten: Der Kaiser kündigte einen Waffenstillstand mit dem Shansen an. Der Fünfwinterkrieg war vorüber, zumindest vorläufig.
Aber unsere Freude darüber verwandelte sich schnell in Trauer, denn eine weitere Nachricht traf ein. Eine mit einem blutroten Siegel.
Sendo war im Kampf in den Bergen gefallen, nur zwei Tage vor dem Waffenstillstand.
Baba war wie vernichtet. Er kniete eine ganze Nacht vor unserem Schrein, in den Armen die Schuhe, die Mama für Finlei und Sendo angefertigt hatte, als sie noch ganz klein waren. Ich betete nicht mit ihm. Ich war zu zornig. Wenn die Götter nur weitere zwei Tage über Sendo gewacht hätten!
Weitere zwei Tage.
»Wenigstens hat mir der Krieg nicht alle meine Söhne genommen«, sagte Baba gedrückt und klopfte mir auf die Schulter. »Wir müssen für Keton stark bleiben.«
Ja, es gab immer noch Keton. Mein jüngster Bruder kehrte einen Monat nach dem Waffenstillstand zurück. Er kam in einem Fuhrwerk an, die Beine ausgestreckt, während die Räder über die schmutzige Straße ächzten. Sein Haar war gestutzt, und er hatte so viel Gewicht verloren, dass ich ihn kaum erkannte. Aber was mich am meisten erschreckte, waren die Gespenster in seinen Augen – denselben Augen, die früher vor Witz und Schalk gefunkelt hatten.
»Keton!«, rief ich.
Ich lief mit offenen Armen auf ihn zu, und Tränen des Glücks strömten über meine Wangen. Bis mir klar wurde, warum er so dasaß, an Reis- und Mehlsäcke gelehnt.
Vor Trauer schnürte es mir die Kehle zu. Mein Bruder konnte nicht mehr gehen.
Ich kletterte auf das Fuhrwerk und schlang meine Arme um ihn. Er umarmte mich, aber die Leere in seinen Augen war nicht zu übersehen.
Der Krieg hatte uns viel genommen. Zu viel. Ich hatte gedacht, dass mein Herz nach Finleis, dann nach Sendos Tod abgehärtet wäre – um stark zu sein für Baba. Aber ein Teil von mir zerbrach an dem Tag, als Keton heimkehrte.
Ich floh auf mein Zimmer und kauerte mich an die Wand. Ich nähte, bis meine Finger bluteten, bis das Schluchzen, das mich schüttelte, im Schmerz unterging. Doch bis zum nächsten Morgen hatte ich mich wieder zusammengeflickt. Ich musste für Baba sorgen. Und jetzt auch für Keton.
Fünf Winter, und ich war erwachsen geworden, ohne es zu wissen. Ich war nun so groß wie Keton und mein Haar so glatt und schwarz wie das meiner Mutter. Andere Familien mit Mädchen meines Alters heuerten Kupplerinnen an, die Ehemänner für sie suchen sollten. Meine Familie hätte das auch getan, wäre Mama am Leben gewesen und Baba noch ein erfolgreicher Schneider. Aber diese Tage waren lange vorbei.
Als der Frühling kam, ließ der Kaiser verkünden, dass er die Tochter des Shansen, Lady Sarnai, zur Frau nehmen werde. A’landis blutigster Krieg würde mit einer Hochzeit zwischen Kaiser Khanujin und der Tochter seines Feindes zu Ende gehen. Baba und ich brachten es nicht übers Herz zu feiern.
Dennoch war es eine gute Nachricht. Der Frieden hing von der Harmonie zwischen dem Kaiser und dem Shansen ab. Ich hoffte, eine königliche Hochzeit würde das Zerwürfnis zwischen ihnen aus der Welt schaffen, was dann sicher wieder mehr Reisende auf die Große Gewürzstraße locken würde.
An diesem Tag bestellte ich die größte Menge Seide, die wir uns leisten konnten. Es war ein riskanter Kauf, aber ich hatte Hoffnung – bevor der Winter kam, mussten die Geschäfte einfach besser werden.
Mein Traum, Schneiderin des Kaisers zu werden, verblasste zu einer fernen Erinnerung. Unsere einzige Einkommensquelle war nun mein Geschick im Umgang mit Nadel und Faden. Ich nahm es hin, dass ich für immer in Port Kamalan bleiben würde, schicksalsergeben zurückgezogen in meine Ecke von Babas Laden.
Ich sollte unrecht behalten.