ECHTE ZAHLEN
STATT
HALBER WAHRHEITEN
AUS ÖSTERREICH UND DEUTSCHLAND
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1. Auflage
© 2020 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-7110-0249-5
eISBN 978-3-7110-5273-5
Vorbemerkungen
Fake-News-Prävention
Der Zwerg wächst schneller als der Riese
Das hätte ich nicht gedacht …
TEIL I – Piefke und Ösis
Was verbindet mehr als Córdoba?
Altes Deutschland, buntes Österreich – eine Annäherung
Der Faktor zehn
Piefke in den Bergen und Ösis auf dem platten Land
Wirtschaftsstandorte im Vergleich
Der Österreicher und sein Staat
Die lieben Nachbarn
P.S.: Aber der Wintersport …
Berlin, Wien, Hamburg, München, Köln – die Millionenstädte im deutschen Sprachraum
Lebensqualität made in Vienna
Metropolen in Europa
It’s the economy, stupid
Löhne, Preise und ein Big Mac
Schulden
Stärken, Schwächen, Ähnlichkeiten
Future, Future!
Zufriedenheit in den Millionenstädten
I wanna be your number 1
TEIL II – Eine Reise durch Österreich
Eine Zugfahrt – oder Demografie in a nutshell
Eine Zugfahrt, die ist lustig
Historische Bevölkerungsentwicklung in Österreich
The circle of life
Buntes Österreich
Viel gerühmtes Österreich
Land der Berge, Land am Strome
Land der Äcker
Land der Dome
Land der Hämmer, zukunftsreich!
Heimat großer Töchter und Söhne
Volk, begnadet für das Schöne
Viel gerühmtes Österreich
Austronomics
Eltern aus Venezuela
Wettbewerbsfähigkeit
Land der Dienstleistungen
Kleine Unternehmen dominieren – aber nicht bei den Jobs
Bundesländer-Wettrennen
Aber die Roboter …
Fridays for Future – in der Stadt und auf dem Land
Wo die Menschen leben wollen
Grünes Land – graue Stadt?
TEIL III – Wien, Wien, nur du allein
Wiener Melange
Von Klosterneuburg nach Wien
Wien wird Metropole (1850–1910)
Das »Rote Wien« (1919–1934)
Eine alternde Stadt (1910–2000)
Wiens zweiter Boom (ab 2000)
Wiener Melange – oder wer wohnt wo in Wien
A schene Leich
Der Tod war ein Städter
Woran wir heute sterben
Zentralfriedhof
Statistiken (er)zählen – Schlussbemerkungen
Merci!
Anmerkungen
Quellen
Der Storch bringt die Kinder. Ich nehme an, das wissen Sie. Wenn Sie mir das nicht glauben wollen – kein Problem: Ich kann Ihnen das beweisen. Oder genauer Robert Matthews, der hat sich die Daten von Brutpaaren bei Störchen und der Geburten von Menschen in 17 europäischen Ländern angesehen und siehe da – je mehr Brutpaare, desto mehr Geburten.
Störche und Kinder wurden immer wieder als Beispiel herangezogen, um zu zeigen, dass eine schlichte Korrelation noch lange nicht auf einen kausalen Zusammenhang hinweisen muss. Zwar lassen sich aus den Geburtsstatistiken von Ländern mit mehr Storchenpaaren auch mehr Geburten entnehmen – eine Korrelation liegt also vor. Wenn Sie aufgrund dieser Zeilen aber die Verhütungsmittel absetzen wollen, sollten Sie weiterlesen: Es gibt nämlich keine Kausalität, das Mehr an Storchenpaaren ist nicht verantwortlich für das Mehr an Kindern. Die Ursache für den statistischen Zusammenhang liegt in etwas anderem, nämlich einer gemeinsamen Erklärung für Geburten und Storchenanzahl. Diese Drittvariable ist im Beispiel von Matthews die Landfläche. Das ist an sich trivial: größere Länder, mehr Menschen, mehr Störche, mehr Geburten. In Deutschland gab es 2015 mehr Störche (6 152 Brutpaare) als in Österreich (384 Brutpaare) – und auch mehr Geburten (nämlich 737 575 in Deutschland und 84 381 in Österreich). Aber eben auch mehr Einwohnerinnen und Einwohner, mehr Bäume und mehr Ackerfläche – sprich: Deutschland ist einfach größer – sowohl in der Fläche als auch von der Bevölkerungszahl her.
Nun kann man dieses Beispiel weitertreiben, wie Raphael Diepgen zeigt. Indem die Anzahl der Störche in Relation zur Größe des Landes gesetzt wird, kann eine Storchendichte berechnet werden. Diesen Wert könnte man dann etwa als »Ländlichkeit« interpretieren – also weniger urbane Zentren und mehr Ackerflächen für Störche. Was wir jedenfalls gesichert wissen: Der Storch bringt nicht die Kinder. Mit 220 Kindern pro Jahr und Storchenpaar (wie derzeit in Österreich) wäre das vielleicht auch etwas viel Arbeit für die armen Störche …
Um ein noch offensichtlicheres Beispiel zu nehmen, auf das Matthews ebenfalls verweist: Die Lesefähigkeit steigt mit der Schuhgröße. Glauben Sie nicht? Ich konnte mit zwei Jahren gar nicht lesen und hatte sehr kleine Füße. Als diese wuchsen, wurde das mit dem Lesen immer besser, heute mit Schuhgröße 46 funktioniert das wirklich ausgezeichnet. Testen Sie es bei sich selbst – es funktioniert!
Okay, der Grund ist natürlich nicht die Schuhgröße, sondern dass Menschen mit dem Älterwerden wachsen und auch lesen lernen. Die erklärende Variable ist demnach das Alter, nicht die Schuhgröße. Dennoch: Eine statistische Korrelation lässt sich herstellen – eine Kausalität natürlich nicht.
Es lassen sich weitere Beispiele anführen, warum mit Daten sorgsam umgegangen werden sollte: Alle, die mit Jeff Bezos, dem Gründer von Amazon und einem der reichsten Menschen der Welt, gemeinsam in der Schulklasse waren, sind im Durchschnitt Millionäre. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass Ausreißer nach oben den Durchschnitt stark verändern können. Der Durchschnitt ist zwar sehr aussagekräftig, aber eben auch gefährlich. Daher werden hier oft robustere Maße wie der Median verwendet, auf die ich im Laufe des Buches etwas eingehen werde.
Schon in der Schule wird vielen abgewöhnt, sich ernsthaft für Mathematik oder Statistik zu interessieren. Das Thema gilt als spröde, irgendwie befassen sich nur ein paar Nerds damit, und es scheint alles furchtbar kompliziert. Stattdessen gibt es ein gehöriges Misstrauen, das oft in der Aussage gipfelt, man möge doch keiner Statistik glauben, die man nicht selbst gefälscht habe. Dieses Zitat stammt übrigens nicht, wie oft behauptet, von Winston Churchill – die Herkunft ist nicht geklärt.
Sie sollten sich damit nicht zufriedengeben, denn Statistik ist ein wunderbares Instrument – und sie ist eine wichtige Basis des demokratischen Diskurses. Natürlich, es gibt komplizierte Messkonzepte und ausgefeilte statistische Methoden, aber die meisten Statistiken sind ein Zählen, Aufschreiben und Sortieren von Daten. Diese Daten sind zudem in Deutschland und Österreich über die jeweiligen statistischen Ämter beziehungsweise bei der europäischen Statistikbehörde Eurostat leicht abrufbar. Auch die Bundesländer haben teilweise gut aufbereitete Daten im Internet bereitgestellt. Diese Daten haben eine hohe Qualität und unterliegen Kontrollen, zudem werden die Messkonzepte immer wieder dem neuesten Stand der Wissenschaft angepasst. Damit wird die Grundlage für einen demokratischen Diskurs erst geschaffen, denn auf Basis der Daten können dann politische Konzepte diskutiert und bewertet werden. Die Schlussfolgerungen und politischen Forderungen können sich stark unterscheiden – in der Datengrundlage sollte aber Einigkeit bestehen. Statistik ist damit Fake-News-Prävention.
Wie leicht heute mit falschen Zahlen Stimmung gemacht wird, hat der ehemalige Verkehrsminister Norbert Hofer am 13. Januar 2019 in einem Interview mit der ZIB 2 gezeigt: 30 000 Tschetschenen würden Mindestsicherung in Wien beziehen, sagte er. Nun ist dieses Beispiel schon relativ komplex, da es keine tschetschenische Staatsbürgerschaft gibt. Tschetschenien ist eine autonome Republik in Russland, deren Bewohnerinnen und Bewohner die russische Staatsbürgerschaft haben. Am 1. Januar 2019 lebten in ganz Österreich 32 576 russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Wie viele davon aus Tschetschenien sind, ist nicht bekannt – es wird zwar davon ausgegangen, dass ihr Anteil an den russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern in Österreich relativ hoch ist, aber: In Wien leben überhaupt nur 15 872 Menschen mit einem Pass der Russischen Föderation. Allein der Blick in die Bevölkerungsstatistik zeigt also, dass die Angabe von Norbert Hofer nicht stimmen kann. Selbst wenn alle Tschetschenen in der Mindestsicherung sind (was nicht anzunehmen ist) und alle russischen Staatsbürger in Wien aus Tschetschenien stammen (was sicher nicht stimmt), ist die Zahl Hofers deutlich zu hoch gegriffen und damit falsch. Völlig unabhängig davon ist dann die Frage zu diskutieren, ob man den politischen Ableitungen von Norbert Hofer zustimmt oder nicht.
Die Salzburger Nachrichten druckten am 6. Februar 2018 auf der Titelseite folgende Schlagzeile: »Salzburg überholt Wien bei den Investitionen aus dem Ausland«. Nun war der Zeitung schlicht ein – nicht untypischer und daher exemplarisch verwendbarer – Datenfehler unterlaufen. Vorweg: Salzburg (und auch Wien) hatte durchaus beachtliche Entwicklungen. Aber: Die Auslandsinvestitionen in Wien beliefen sich auf 88,4 Milliarden Euro, die in Salzburg auf 10,9 Milliarden Euro. Salzburg überholt Wien? Auch bei den absoluten Zuwächsen war Wien klar vorne: +27 Milliarden Euro zwischen 2010 und 2015, in Salzburg betrug der Zuwachs knapp 6 Milliarden Euro. In Prozent war Salzburg damit schneller gewachsen als Wien: +121 Prozent in 5 Jahren gegenüber +44 Prozent. Korrekt hätte es also heißen müssen: »Investitionen aus dem Ausland wuchsen in Salzburg schneller als in Wien« oder einfach nur: »Salzburg: starkes Wachstum bei Investitionen aus dem Ausland«.
Was wir daraus lernen? Bestand und Wachstum sind etwas Unterschiedliches, relative und absolute Zahlen auch. Denn nur weil ein Kind schneller wächst als seine Eltern, ist es (noch) lange nicht größer.
Das vorliegende Buch ist der Versuch, zu möglichst vielen Lebensbereichen Daten zusammenzutragen und unterhaltsam zu präsentieren. Ich bin beruflich als Leiter der Magistratsabteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien täglich mit Daten befasst, und dennoch war auch ich überrascht bei manchen Informationen. Wenn Sie am Ende des Buches mehr wissen als zu Beginn, wenn vielleicht sogar die ein oder andere falsche Vorstellung korrigiert wurde und wenn Sie beim Lesen auch noch Spaß hatten, dann hat das Buch seinen Zweck erfüllt.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Zunächst betrachten wir Piefke und Ösis beziehungsweise Deutschland und Österreich: die Bevölkerungsentwicklung, die Wirtschaft, die »lieben Nachbarn« und natürlich den Wintersport. Wir vergleichen aber auch die Millionenstädte Berlin, Wien, Hamburg, München und Köln miteinander. Im zweiten Teil begeben wir uns auf eine Reise durch Österreich, lernen viel über den »Kreislauf des Lebens« zwischen Geburt, Hochzeit, Scheidung und Tod, aber auch über die Religiosität, Gurken und Kulturheidelbeeren, die größte Gemeinde Österreichs – nämlich Sölden in Tirol. Und über die Treibhausgasemissionen der Bundesländer. Schließlich geht es im dritten Teil exemplarisch um Wien und seine Geschichte: Wie ist Wien Metropole geworden, woran sind wir früher gestorben, woran sterben wir heute, wer wohnt heute in der Bundeshauptstadt? Wir enden – wie kann es anders sein – auf dem Zentralfriedhof.
Wie immer gilt: Trotz aller Sorgfalt können Fehler passieren – dafür entschuldige ich mich schon jetzt. Die Daten sind aber alle frei zugänglich und nachprüfbar. Vielleicht haben Sie ja Lust bekommen, auf den Seiten des Statistischen Bundesamtes in Deutschland oder bei der Statistik Austria etwas zu stöbern. In den Quellenangaben finden Sie zudem weiterführende Informationen.
Auf einer Dienstreise nach Tirol habe ich in einem Gasthaus eine Melange bestellt, nicht ahnend, dass in Tirol Cappuccino gebräuchlich ist. Die darauffolgende Schimpftirade der Kellnerin ließ mich zwar mangels Kenntnissen des Tirolerischen etwas ratlos zurück, zwei Dinge aber hatte ich verstanden: Sie hatte ein – sagen wir – angespanntes Verhältnis zu Wienern, und sie hielt mich für einen Wiener. Was ich als Integrationserfolg hätte verbuchen können, war also keiner: In Tirol, so scheint mir, mag man Wiener noch weniger als die »Piefke«.
Die Beziehungen zwischen Deutschen und Österreichern sind vielfältig: Man zieht sich wechselseitig auf, man heiratet einander, man spricht irgendwie dieselbe Sprache und versteht sich doch nicht immer. »Scheibtruhe« musste ich googeln.
Insbesondere der Blick aus Österreich nach Deutschland ist oft von einer Art »Kleiner-Bruder-Komplex« geprägt. Das wird dann künstlerisch verarbeitet (»Die Piefke-Saga«), oder man beruft sich auf vereinzelte sportliche Erfolge im Fußball. Solange in Österreich von »Córdoba« geschrieben wird – jenem Sieg der Österreicher gegen die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien –, kann man sich sicher sein, dass aktuell keine Erfolge zu feiern sind. Umgekehrt sehen viele Deutsche den Nachbarn vor allem als Urlaubsziel mit etwas provinziellen Einwohnerinnen und Einwohnern, aber schönen Landschaften, steilen Skipisten und einer wunderschönen Hauptstadt. Córdoba ist weitgehend unbekannt, und sportlich wird Österreich vor allem im Winter wahrgenommen.
Ich bin also einer der 192 426 Deutschen, die am 1. Januar 2019 in Österreich lebten. Es gibt fast so viele Deutsche in Österreich, wie Menschen in Linz wohnen. Oder in Kassel. Was liegt also näher, als die beiden Nachbarn zu vergleichen? Dabei gibt es natürlich viele Gemeinsamkeiten und ähnliche Entwicklungen, aber doch auch überraschende Unterschiede. Deutschland beispielsweise ist demografisch älter, Österreich hat eine sehr leistungsfähige Wirtschaft. Und wie ist das jetzt mit dem Wintersport?
Die »durchschnittliche« Deutsche heißt Ursula1, ist 45,8 Jahre alt, wohnt in Nordrhein-Westfalen und arbeitet im Gesundheits- und Sozialwesen.2 Sie ist mit 88,7 Prozent Wahrscheinlichkeit deutsche Staatsbürgerin. Ihr Bruttolohn lag 2017 um 21,0 Prozent niedriger als der eines Mannes in Deutschland, was verschiedene Ursachen hat (Branche, Arbeitszeit, Gender Pay Gap). Dieser heißt Peter, ist 43,1 Jahre alt und mit 86,9 Prozent Wahrscheinlichkeit deutscher Staatsbürger. Peter wohnt ebenfalls in Nordrhein-Westfalen und arbeitet im verarbeitenden Gewerbe. Wenn Peter und Ursula im Jahr 2018 ein Kind bekommen haben, dann haben sie ein Mädchen Emma und einen Buben Ben genannt, vielleicht auch Mia oder Hanna(h) beziehungsweise Paul oder Leon.
Die durchschnittliche Österreicherin hingegen heißt Julia3, ist 44,0 Jahre alt und mit 84,4 Prozent Wahrscheinlichkeit österreichische Staatsbürgerin. Sie wohnt in Wien, arbeitet im öffentlichen Dienst4 und verdient brutto 19,9 Prozent weniger als Männer. Der typische Mann in Österreich heißt Michael, ist 41,5 Jahre alt und wohnt ebenfalls in Wien. Er ist mit 83,1 Prozent Wahrscheinlichkeit österreichischer Staatsbürger und arbeitet in der Herstellung von Waren. Wenn Julia und Michael 2017 ein Kind bekommen haben, dann haben sie es Anna beziehungsweise Maximilian oder auch Emma oder Marie beziehungsweise Paul oder David genannt.
Immerhin: Emma und Paul tauchen in Deutschland und Österreich bei den beliebtesten Vornamen auf.
Aus dieser – zugegeben sehr verkürzten – Darstellung lassen sich schon wesentliche demografische Erkenntnisse ablesen: Deutsche sind älter, und der Ausländeranteil ist in Österreich höher. Das Wichtigste – jedenfalls für manche Debatten – ist aber: Deutschland ist deutlich größer. Mit Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg gibt es allein drei Bundesländer, die jeweils mehr Einwohnerinnen und Einwohner haben als ganz Österreich. Aber: Kein deutsches Bundesland ist flächenmäßig größer als die Alpenrepublik.
In Österreich hält sich hartnäckig die Faustregel, dass Deutschland um den Faktor zehn größer sei. Nun, Deutschland hat eine Fläche von gut 357 578 Quadratkilometern, Österreich von rund 83 879 Quadratkilometern. Deutschland ist also flächenmäßig gut viermal so groß wie Österreich. Bei den Einwohnerinnen und Einwohnern ist der Faktor gegenwärtig 9,4: Deutschland hat am 1. Januar 2019 exakt 83 019 213 Einwohnerinnen und Einwohner, Österreich zum gleichen Zeitpunkt 8 858 775. Der Faktor zehn stimmt also nicht ganz – er ist aber dennoch nicht falsch, sondern schlicht veraltet.
Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 war dieser Faktor zehn zunächst näherungsweise richtig, im Jahr 2005 war er dann wirklich korrekt: Damals hatte Deutschland zehnmal mehr Einwohner als Österreich. Daher ist es eine zulässige Näherung gewesen, alles mit dem Faktor zehn zu multiplizieren, um es zu vergleichen: BIP, Budget, Staatsschulden, Anzahl der SchulabbrecherInnen, Fußballweltmeistertitel (okay, die nicht5) etc. Mit dieser Rechnung hat man überschlagsmäßig die Werte auf die jeweilige Bevölkerungszahl bezogen und so vergleichbar gemacht. In den vergangenen Jahren ist Österreichs Bevölkerung allerdings erheblich schneller gewachsen als die deutsche. Warum das so war, und wie sich das erklärt, wollen wir uns im Folgenden etwas genauer anschauen.
Wir starten unsere Betrachtung mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Jahr 1995. Zwischen 19966 und 2019 ist die Bevölkerung in Deutschland lediglich um 1,5 Prozent gewachsen, in Österreich gab es im gleichen Zeitraum ein Plus von 11,4 Prozent. Das ist bemerkenswert, und das hätten viele vermutlich so nicht erwartet.
Was sind nun die Gründe für das Bevölkerungswachstum eines Landes? Es sind Geburten, Sterbefälle, Zu- und Abwanderung, oder technischer ausgedrückt: die natürliche Bevölkerungsbewegung und die räumliche Bevölkerungsbewegung. Die natürliche Bevölkerungsbewegung beschreibt die Geburten und Sterbefälle in einem Zeitraum, wobei für die Bevölkerungsentwicklung der Saldo entscheidend ist. Wenn es mehr Geburten als Sterbefälle in einem Jahr gibt, dann ist die Geburtenbilanz positiv. Gibt es mehr Sterbefälle als Geburten, dann ist die Geburtenbilanz negativ. Auch eine ausgeglichene Geburtenbilanz ist möglich, wenn in einem Jahr exakt gleich viele Menschen sterben, wie geboren werden.
Die räumliche Bevölkerungsbewegung umfasst die Zu- und Abwanderungen. Gibt es in einem Jahr mehr Zuwanderungen als Abwanderungen, dann ist die Wanderungsbilanz positiv, andernfalls negativ – oder im sehr seltenen Fall, dass gleich viele Menschen kommen wie gehen: ausgeglichen.
Warum ist die Einwohnerzahl in Österreich in den vergangenen gut 20 Jahren nun so viel stärker gewachsen als in Deutschland? Es sind zwei Komponenten, in denen sich die Länder unterscheiden. So hat Österreich eine positive Geburtenbilanz, Deutschland hingegen eine negative. In Österreich gab es also mehr Geburten als Sterbefälle, in Deutschland war es umgekehrt. Den Grund dafür kennen wir auch schon, haben wir bei unseren »statistischen Paaren« Ursula, Peter, Julia und Michael doch bereits gesehen, dass die Deutschen älter sind als die ÖsterreicherInnen – im Durchschnitt. Diese Daten kann man sich dann noch genauer ansehen, was sich aber bereits an dieser Stelle sagen lässt: Damit hat Deutschland relativ weniger potenzielle Mütter, also Frauen im »gebärfähigen« Alter. Gleichzeitig hat die Bundesrepublik aber mehr Menschen im »Hauptsterbealter« (ja, Demografie kann etwas zynisch klingen), also Menschen, die aufgrund ihres Alters mit höherer Wahrscheinlichkeit sterben. Der Unterschied liegt also nicht in gravierend unterschiedlichen Fertilitätsraten7 oder Lebenserwartungen, sondern nur in der Altersstruktur der Bevölkerung begründet.
Natürliche Bevölkerungsbewegung 1996–2018 |
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Deutschland |
Österreich |
Lebendgeborene 1996–2018 |
16 701 364 |
1 848 791 |
Gestorbene 1996–2018 |
19 867 284 |
1 794 392 |
Saldo |
–3 165 920 |
54 399 |
Quellen: Statistisches Bundesamt Deutschland; Statistik Austria
Die Fertilitätsrate in Deutschland ist – wie in westlichen Ländern allgemein – seit den 1970er-Jahren deutlich gefallen. 1995 lag sie schließlich bei unter 1,3 Kindern je Frau, was auch mit dem Einbruch der Geburten in den neuen Bundesländern nach der deutschen Wiedervereinigung zusammenhängt: Der Nachwendeschock führte dazu, dass die Fertilitätsrate in Ostdeutschland bis 1995 auf unter ein Kind je Frau absank. Rechnerisch muss jede Frau etwas über zwei Kinder8 bekommen, damit sich die Bevölkerung zahlenmäßig erhält. Davon war und ist Deutschland weit entfernt, zumal die damals nicht geborenen Kinder heute als potenzielle Eltern fehlen. Im Jahr 2018 lag die Fertilitätsrate in Deutschland nach einem Anstieg seit Mitte der 1990er-Jahre wieder bei 1,57 Kindern je Frau.
Auch in Österreich ist die Fertilitätsrate in den vergangenen Jahren wieder angestiegen, liegt mit 1,48 im Jahr 2018 aber unter dem deutschen Wert. 1995 lag die Gesamtfertilitätsrate bei 1,42 und pendelte meist um den Wert von 1,4 Kindern je Frau. Sie sank demnach nie so stark ab wie in Deutschland.
Man sieht, dass es in Österreich etwas mehr Geburten gab, als es im Größenvergleich mit Deutschland zu erwarten wäre, was am größeren Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter liegt.
Die Hauptursache der unterschiedlichen natürlichen Bevölkerungsbewegung in Deutschland und Österreich sind dabei nicht die Geburten, sondern die höheren Sterbezahlen in Deutschland. Die Lebenserwartung ist in beiden Ländern sehr ähnlich – sie liegt in Österreich etwas über Deutschland – und ist demnach nicht die Ursache für die unterschiedliche Häufigkeit von Sterbefällen. Auch die höheren Sterbezahlen in Deutschland liegen in der Altersverteilung begründet: Deutschland ist schlicht älter, was die Wahrscheinlichkeit von Sterbefällen erhöht.
Die Altersverteilungen unterscheiden sich auch derzeit deutlich: Während in Deutschland 21,5 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter sind (und 6,5 Prozent bereits über 80 Jahre alt sind), betragen diese Werte für Österreich lediglich 18,8 respektive 5,0 Prozent. Gleichzeitig ist in Österreich ein etwas größerer Anteil der Bevölkerung zwischen 20 und 39 Jahre, im besten Alter also, um Kinder zu bekommen.
Kurz gesagt: Wer älter ist, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit zu sterben. Die Wahrscheinlichkeit, dass noch Kinder kommen, sinkt hingegen mit zunehmendem Alter.
Die unterschiedliche Altersverteilung hat natürlich spezifische nationale Ursachen wie etwa der Geburtenrückgang nach der Wiedervereinigung in Deutschland, sie ist aber auch in der Zuwanderung begründet.
Menschen, die in ein anderes Land wandern, sind in aller Regel jung, auch wenn die Ursachen (Ausbildung, Arbeit, Flucht, persönliche Gründe wie die Liebe) sehr verschieden sein können. Wir haben bei Ursula, Peter, Julia und Michael bereits gesehen: Österreich ist internationaler – eben auch ein Grund dafür, warum Österreich jünger ist.
Räumliche Bevölkerungsbewegung 1996–2018 |
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Deutschland |
Österreich |
Zuwanderung 1996–2018 |
23 756 972 |
2 737 326 |
Abwanderung 1996–2018 |
17 949 157 |
1 928 880 |
Saldo |
5 807 815 |
808 446 |
Quellen: Statistisches Bundesamt Deutschland; Statistik Austria
Österreich hatte in den vergangenen Jahren vor allem eine starke Zuwanderung aus Deutschland und aus dem osteuropäischen Raum zu verbuchen. Hinzu kommen in beiden Ländern die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Insgesamt sieht man jedoch eine bedeutend höhere Dynamik in Österreich, sowohl in der Zuwanderung, aber auch in der Abwanderung und schließlich im Saldo.
Bevölkerungsentwicklung nach Komponenten 1996–2018 |
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Deutschland |
Österreich |
EinwohnerInnen 1.1.1996 |
81 817 499 |
7 953 067 |
Wanderungsbilanz 1996–2018 |
5 807 815 |
808 446 |
Geburtenbilanz 1996–2018 |
– 3 165 920 |
54 399 |
Statistische Korrektur |
–1 440 181 |
42 863 |
EinwohnerInnen 31.12.2018 |
83 019 213 |
8 858 775 |
Veränderung 1996–2018 |
1,5 % |
11,4 % |
Quellen: Statistisches Bundesamt Deutschland, Statistik Austria
Neben der Geburten- und der Wanderungsbilanz ist in der Tabelle auch eine statistische Korrektur zu sehen, die vor allem für Deutschland relevant ist. Grund waren laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes einerseits die Einführung der Steueridentifikationsnummer und damit einhergehende Bereinigungen des Melderegisters in den Jahren 2008 bis 2010 sowie andererseits der Zensus 2011 (Registerzählung)9. In Österreich gab es mit dem Zensus 2011 ebenfalls Korrekturen, die aber deutlich geringer ausgefallen sind. Erstens hat Österreich ein Zentrales Melderegister, Deutschland nicht. Und zweitens gab es in Österreich regelmäßige Volkszählungen (zuletzt 2001). In Westdeutschland fand die letzte Volkszählung hingegen 1987 – also vor der Wiedervereinigung – statt. Sie war von erheblichen Protesten und gerichtlichen Auseinandersetzungen begleitet, da viele Menschen ihre Daten nicht preisgeben wollten, und blieb daher erst einmal die letzte. Angesichts der Daten, die heute freiwillig an diverse Internetplattformen gegeben werden, ist das ein Treppenwitz der Geschichte.
Fassen wir das noch einmal kurz zusammen: Deutschland sieht gegenüber Österreich ziemlich alt aus. Das Durchschnittsalter in Österreich beträgt 42,8, in Deutschland 44,4 Jahre. Das erscheint relativ wenig, ist für einen Durchschnittswert aber nicht unerheblich. Einerseits sind die Geburten in Deutschland im Zuge der Wiedervereinigung insbesondere in Ostdeutschland stark zurückgegangen, wenngleich die Fertilitätsrate heute in Deutschland und Österreich auf einem vergleichbaren Niveau liegt. Andererseits hat die deutlich stärkere Wanderungsdynamik Österreich gegenüber dem großen Nachbarn verjüngt. Die Konsequenz daraus ist, dass Österreich mehr Frauen im Hauptgebäralter hat – mehr (potenzielle) Mütter sorgen für mehr Geburten. Zusätzlich sterben ältere Menschen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als junge, sodass die Altersstruktur zu einer höheren Sterbezahl in Deutschland führt. Die Lebenserwartung ist dabei auf einem sehr ähnlichen Niveau. In Summe bedeutet dies: Österreich wächst schneller als Deutschland, den Faktor zehn haben wir hinter uns gelassen, der Faktor neun ist bereits greifbar.