Über Paulina Czienskowski

Paulina Czienskowski ist freie Journalistin und Autorin. Sie lebt in Berlin, dort ist sie auch geboren und aufgewachsen. Sie hat in den USA und in Paris gelebt und in einer kleinen Stadt in Deutschland studiert, bevor sie für ein Volontariat an einer Journalistenschule zurück in ihre Heimat kehrte. »Taubenleben« ist ihr erster Roman.

Informationen zum Buch

»Wie kaum jemand anderes fängt Paulina Czienskowski das Lebensgefühl der Generation Y zwischen Anxiety, Sinnsuche, vermeintlicher Liebe als Ersatzreligion und der ständigen Beschäftigung mit sich selbst ein.« Vogue

Als Lois nach einem One-Night-Stand auf das Ergebnis eines Bluttests wartet, entgleitet ihr ein Leben, das plötzlich nicht mehr tragfähig erscheint: Sie rüttelt an ihren Festen, hinterfragt bestehende Strukturen, zweifelt und sucht die Auseinandersetzung mit der abweisenden Mutter, die über den frühen Tod des Vaters nie hat sprechen wollen. Zwischen Zartgefühl und Ekstase, Handeln und Denken, Einsamkeit und Nähe erzählt Paulina Czienskowski von einer Protagonistin, die mit unsicherem Gang und großer Sensibilität nach dem eigenen Lebensweg sucht.

»Hab geschlungen, verstanden, geheult, bin jeden Schritt mitgegangen. Mein erster Binge-Read.« Jasna Fritzi Bauer

»Wir glauben, die Welt ist gesund und wir sind krank. Dieses Buch bescheinigt uns das Gegenteil.« Helene Hegemann

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Paulina Czienskowski

Taubenleben

Roman

Inhaltsübersicht

Über Paulina Czienskowski

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum

Für Bobbi

Alles ist wie immer –

Da war er, der Tod, um 7.34 Uhr. Ich war keine 100 Meter gelaufen, als ich in der Mitte der Straße am Ende einer langen blutigen Spur einen Haufen entdeckte, links und rechts davon Spritzer. Wie ein Gemälde von Jackson Pollock sah es aus. Zumindest sagte das meine Mutter später. Damals wusste ich nicht, wer Jackson Pollock war. Und wahrscheinlich auch nicht, was überhaupt ein Gemälde. Meine Mutter benutzte oft Wörter, die ich nicht kannte.

Da stand ich, war neun Jahre alt, und sah etwas, von dem mein Vater mir so oft schon erzählt hatte: »Wenn Tauben sterben wollen, werfen sie sich vor ein fahrendes Auto.« Immer wieder prophezeite er mir dieses Elend in sehr ernstem Tonfall. Und ich lauschte jedes Mal so gebannt, als hörte ich es zum ersten Mal.

Ich kniete mich sofort auf den Boden zwischen die parkenden Autos. In meiner dunkelblauen Jeans und der schwarzen Jacke hätte man mich für eine lauernde Katze halten können. Der Vogel lag zu weit in der Mitte der Straße. Ich hatte keine Chance, überhaupt nachzusehen, ob er vielleicht doch noch lebte, zu dicht war der Verkehr. Aber gemessen an dem Durchmesser der gefiederten blutigen Masse waren bestimmt schon zwanzig Autos drübergerollt. Kein Zweifel, die Taube war tot. Wie jemand von der Spurensicherung probierte ich, den Tathergang zu analysieren. Mein inneres Auge rekonstruierte die Szenen, zeichnete sie mit Bleistift auf raues Papier, ganz langsam, wie in einem Fiebertraum, der kein Ende nehmen will.

Plötzlich fühlte sich alles schwer an. Beine, Arme, Augenlider. Mein Kopf sank tiefer in Richtung des kühlen Betons unter mir, und ich sah mich selbst von oben. Ein erbärmlicher Anblick. Vielleicht auch rührend, keine Ahnung. Mein Körper erzitterte jedes Mal, wenn das erbarmungslose Knacken brechender Knochen erklang, wie berstendes Geschirr, zermahlen zwischen Gummi und Kopfsteinpflaster unter profilierten Autoreifen. Kurz musste ich mir die Ohren zuhalten, hörte nur noch das eigene Blut im Körper rauschen.

Und dann wurde mir etwas klar, das mich sehr traurig machte: Das Ende dieses Lebens war sekundenschnell gekommen, und niemand hatte es bemerkt. Vielleicht noch nicht mal ihr Todbringer. Keiner würde je erfahren, dass diese eine Taube überhaupt existiert hatte. Weil sich niemand für diesen einen Vogel interessierte. Ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen. Ich war wütend. Und empört. Da begeht jemand Selbstmord, und am Ende interessiert es niemanden.

Ich entschied, den Vogel mit nach Hause zu nehmen und bei uns im Hof zu begraben. Bevor der nächste Regen das Blut wegwaschen und die gemahlenen Knochen zwischen den Pflastersteinen in den nächsten Gully schwemmen würde. Ich holte einen langen Stock. Gerade als ich mich wieder niederkniete, diesmal etwas mutiger, ein kleines Stück weiter vor den parkenden Autos, raste eines genau über den Haufen. Ich schrie dem röhrenden Motorengeräusch hinterher, das nur wenige Sekunden später schon nicht mehr zu hören war.

Aufgelöst rannte ich nach Hause und kam kurz darauf mit meiner Mutter zurück. Auf dem Weg sagte sie immer wieder, jeder werde irgendwann sterben. Da war er wieder, ihr alles zerschmetternder Realismus. Dagegen half nur, mir meine eigene Welt zu erschaffen. So lief ich umher wie eine Romanfigur, die ich Stück für Stück in meinen Gedanken mit Leben füllte. Das war mein Schutzschild. Denn jedes Mal, wenn ich meiner Mutter erzählte, worüber ich mich gerade sorgte, zückte sie verbal einen Dolch und erstach meine Gefühle mit einer nüchternen Bemerkung. Irgendwann behielt ich mein Innerstes einfach für mich, stopfte meine Emotionen in einen Sack und schluckte ihn runter. In den Tiefen meiner Seele kam er zum Erliegen.

Als ich meine Eltern an diesem Abend reden hörte, war ich nicht überrascht. Nicht darüber, dass meine Mutter nicht verstehen konnte, wieso mich der Tod dieses Vogels, »eine Ratte der Lüfte«, wie sie abfällig sagte, überhaupt so beschäftigte. Und auch nicht, dass mein Vater einmal mehr ohne Widerworte gegenüber ihr blieb, die wie eine Gouvernante achtlos über jede Gefühlsregung bretterte.

In jener Nacht wurde die Taube für mich zu einem Sinnbild kläglich gescheiterter Existenzen. Eine belanglose Gestalt, die in der Masse untergeht, unter Milliarden auf der Welt. Diese Banalität widerte mich an. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen und wollte sicherstellen, so sehr aufzufallen, dass ich niemals einfach derart ungesehen gehen könnte.

Von da an lag ich oft wach und stellte mir vor, was wohl passieren würde, wenn mir etwas Ähnliches zustieß wie dem Vogel. Ich hätte so gerne wissen wollen, wer kommen und nach mir sehen würde. Wer um mich weinen, sich hingebungsvoll zu mir niederknien, so wie ich es getan hatte. Ich fragte mich auch, was meine Mutter sagen würde. Wahrscheinlich: Jeder stirbt halt irgendwann. In diesem Moment würde ich dann die Augen öffnen, den Sargdeckel aufstoßen und ihr endlich die Worte ins Gesicht brüllen, die ich ihr so gerne längst gesagt hätte. Dass niemand auf dieser Welt einfach nur jeder ist. Ich bin mir sicher: Genau das hatte ihr auch mein Vater sagen wollen, bevor er ging.

Unsanft stößt sie mich an. Ich möge doch bitte zur Blutabnahme ins Nebenzimmer kommen. Die Sprechstundenhilfe steht direkt vor mir, spricht unterkühlt und viel zu laut:

»Kom-men Sie bit-te?!«

Sie starrt mich böse an. Mein Name muss zuvor schon mehrmals durch den Praxislautsprecher geschallt sein. Mit weit aufgerissenen Augen sitze ich da und schwitze. Erst jetzt wird mir wieder klar, wo ich bin.

Es kommt mir vor, als würden mich die anderen Wartenden beim Frauenarzt ähnlich strafend ansehen wie diese Frau in weißen Klamotten, die meinen Namen keift. Selbst die Dame auf dem fake Monet-Poster an der Wand glotzt mich an. Sie alle schauen, als würden sie wissen, dass ich unvernünftig war. Dass ich vor ein paar Monaten ungeschützten Sex mit diesem Künstler hatte, mit Edi, obwohl ich ihn gar nicht richtig kannte. Und dass ich urplötzlich sicher war, mir damit mein eigenes Grab geschaufelt zu haben. Ganz bestimmt sehen sie die Panik, die gerade durch meinen Körper wummert.

Mit hochgezogenen Augenbrauen bittet mich die Sprechstundenhilfe erneut, ihr zu folgen. Der Weg zum Zimmer ist kurz, aber lang genug, um mich zu erinnern, wieso ich hier bin, schweißgebadet, mit Blitzgewittern im Hirn.

Es ist dunkel. Draußen und in der Bar. Mirabel, Heinrich und ich stehen am Tresen, ein junger Mann in Trenchcoat in der Tür, Platten unter seinem Arm. Sein Gesicht im schweifenden Diskolicht. Seine Augen liegen tief, sein Kiefer so markant, man könnte ihn daran durch den Raum schleifen. Wer ist das, frage ich Heinrich. Edi, Franzose. Heinrich spricht den Namen mit Betonung auf dem i aus. Der Ex-Freund vom Geburtstagskind. Eine halbe Stunde später stelle ich mich direkt neben sein Pult und fokussiere ihn so lange, bis ich ihn habe.

Ich bin mir sicher, dass genau das mein kosmischer Ausgleich sein wird. Dieser eine Schicksalsschlag, über den Mirabel und ich schon so häufig gesprochen haben. Wir glauben: Jeder muss im Leben irgendeinen Bruch erleiden, damit das Leid der Welt gleichmäßig auf alle verteilt ist. Niemand kann einfach so durchs Leben tänzeln, ohne auch nur ein einziges Mal gehörig gelitten zu haben, während ein anderer den Mund dauerhaft voller Scheiße hat. Es wäre zu ungerecht.

Ungefähr so erkläre ich es der Frauenärztin im Sprechzimmer, als sie fragt, wieso ich mir denn eigentlich so sicher sei. Ich fühle mich fast ein wenig so, als müsste ich mich darauf bewerben, dass mir ihre Sprechstundenhilfe gleich ein paar Milliliter Blut abzapft. »Befreien Sie sich am besten mal aus Ihrer Alarmstellung, die kann sonst noch ganz andere Schicksalsschläge provozieren.« Die Ärztin grinst. Und dann sitze ich in einem klitzekleinen Zimmer mit Einbauschränken auf einem Stuhl, wieder die Sprechstundenhilfe vor mir. »Arm frei machen, auf der Ablage da platzieren!«, befiehlt sie.

In einem Hinterhof. Morgendlich dämmeriger Schein vertreibt die tiefschwarze Nacht. Hysterisch zwitschernde Vögel. Alles klingt nach Frühling, riecht danach. Ich bin wieder wach. Aber ich hab nicht geschlafen, oder doch? Kann nicht sein, ich stehe ja. Dieser Typ hält mich in seinen Armen, eng umschlungen, unsere Zungen auch. Meine Finger halten sich an seinem Kieferknochen fest. Wir wechseln kein Wort. Um uns herum Fahrräder, Mülltonnen, Fliederbüsche. Es fühlt sich gut an, fast schon vertraut. Aber wieso? Und wie kommen wir hier hin? Blackout. Ich traue mich nicht zu fragen. Selbstschutz. Haltung bewahren.

Wieder ein Hitzeschub. Ich glaube, ich werde rot, und fasse mir mit der freien Hand an die Ohren. Sie glühen. Ich will hier weg, schließe also lieber wieder die Augen und sitze in Gedanken dann doch wieder neben Edi im Taxi.

Schlieren. Die Häuser, die vorbeiziehen, Edi, ganz nah neben mir, der Fahrer am Steuer. In meinen Ohren dröhnt klassische Musik. Wir haben nicht drüber gesprochen. Wir haben gar nicht gesprochen. Ein Abkommen im Stillen, zu ihm zu fahren. Jungfräuliches Sonnenlicht schießt immer wieder zwischen Bäumen hervor, blendet mich. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich schwarze Punkte. Sie ändern ihre Form im Sekundentakt. Schwindel.

»Haben Sie gute Venen?« Wieder der Befehlston der Sprechstundenhilfe. »Keine Ahnung«, stammle ich, während sie ein elastisches Band um meinen Arm zurrt. »Geht schon«, sagt sie, nachdem sie mir mit ihrem Zeigefinger auf meine Vene in der Armbeuge geschnipst hat und ich meine Hand zur Faust geballt habe. Meine Angst vor Spritzen behalte ich für mich. Ich kneife die Augen zu und schaue nach dem ziependen Piks doch hin zur Nadel. Das Blut läuft langsam durch die Kanüle über den Schlauch ins Röhrchen. Dunkles Blut. Routiniert und mit groben Bewegungen wechselt sie die Auffangröhrchen. Es fließt langsam. »Heute kaum getrunken, was?« Sie will keine Antwort.

Fahrstuhl in den elften Stock. Plattenbau. Den größten Teil meines Lebens habe ich in so einem Turm gelebt, ganz oben. Im Spiegel der Fahrstuhlkabine: wir nebeneinander. Wir beobachten unsere Spiegelbilder. Er mich, ich ihn. Noch immer wechseln wir kein Wort. Ekelhaftes Neonlicht von oben. Ich sehe scheußlich aus, er verbraucht. Es steht ihm. Ich mag, wie das Licht Schatten auf sein Gesicht wirft. Starke Konturen auf den Wangen, unter den Furchen um seine Augen.

Die Sprechstundenhilfe rüttelt unliebsam an meinem Arm, auf dessen Beuge sie gerade ein festes X aus Pflasterstreifen klebt, darunter ein Stück Mull. Ich solle drücken, sagt sie, der Einstich blute. Und dass in drei Tagen das Ergebnis komme. Ich blicke ihr direkt ins Gesicht. Alles darin ist groß. Es wirkt bedrohlich auf mich, sie ist viel zu nah.

Direkt neben der Tür auf zwei Stühlen seiner Wohnung: fünf Jeans, fünf weiße Pullover, zehn weiße T-Shirts. Penibel gefaltet und gestapelt. Er trage immer das gleiche Outfit, sagt er, über Monate, um keine Zeit zu verlieren. Ich hab gar nicht danach gefragt, nicke trotzdem. Wieder Schweigen. Die Sonne ballert durch die Fenster. Alles knallhell. Ein Gang durch kahle Räume. Glänzendes Laminat, in den Ecken Staub, der in den Lichtstrahlen herumwirbelt. Die Decken niedrig. Hässlich. Meine Kindheit. Blick in Bad und Küche, vom Balkon über die Stadt. Ich atme tief ein und aus.

Wir laufen nach vorne zum Anmeldetresen. Die Ärztin rufe nur an, wenn was ist, sagt die Sprechstundenhilfe. »Wenn der Umschlag vom Labor dick ist, stimmt etwas nicht.« Sie schaut mich nicht an, redet wieder viel zu laut. Sie ist plump und indiskret, das würde ich ihr gerne sagen. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie ein paar der Wartenden aufhorchen, ihre Köpfe in meine Richtung drehen. Ich lache hysterisch auf, als säße ich auf der Anklagebank mit dem Wissen, einen schwerwiegenden Fehler begangen zu haben, und begreife langsam, dass ich aus der Nummer so einfach nicht mehr rauskommen werde.

Edi hat kein Bett, keinen Schrank, keinen Esstisch. Nur ein schwarzes Ecksofa, das er mit drei Handgriffen zu einer Art Bett ausklappt. Aus den Küchenschränken holt er weißes Bettzeug, wirft es auf das samtene Sofa. Die Ecken sind abgegriffen. Leise öffne ich die einzig geschlossene Tür. Wieder kahl, nur eine Skulptur in der Mitte des Raums, beklebt mit Federn. Ich erschrecke. Der Windstoß lässt lose Federn fliegen. Ich umrunde die Figur einmal, zweimal, noch einmal, tippe sie an. Sie scheint ganz leicht, schwankt sachte hin und her. »Was machst du da?«, höre ich Edis Stimme aus dem Nichts. Er steht im Türrahmen, unbemerkt. »Komm ins Bett.«

Ich setze mich auf die Treppenstufen vor der Praxis, nur kurz. Vier Buchstaben sind es, die ich in die Suchleiste meines Handys tippe. A-I-D-S. 407 000 000 Ergebnisse.

Ein Auto rast an mir vorbei, hupt hysterisch. Ich bin versehentlich bei Rot über die Straße gelaufen. Meine Scheinrealität, die ich mir auf dem Heimweg in meinem Kopf zusammenbaue, saugt mich auf. Das Hupen hat mich zurückgeholt. Ich schaue in müde Gesichter, versuche mir vorzustellen, mit welchen Problemen all die Menschen sich gerade herumschlagen. Und wie viel Gemeinsames wir alle wohl miteinander haben. Liebeskummer. Geldsorgen. Hunger. Kater. Streit. Ist es nicht verrückt, dass jeder immerzu über irgendetwas im Leben nachdenkt, irgendetwas fühlt, genau hier und jetzt? Die Körper auf den Straßen funktionieren, irgendwie, die meisten können sich ganz normal fortbewegen und fallen nicht großartig auf. Was aber in ihren Köpfen passiert, an was sie denken, kann man von außen höchstens erahnen. Ich brauche noch Toilettenpapier. Verdammt, ich bin schon wieder erkältet. Diese dreckigen Schulden! Ob Baldrian auch gegen Stress hilft? All das.

Vor dem U-Bahnhof schreibe ich Mirabel, dass ich »es« gemacht habe.

Sie: endlich

Ich: glaubst du jetzt doch dran?!

Sie: nein, Quatsch – alles wird gut sein, das sag ich doch schon die ganze Zeit …

Ich: hm …

Sie: haha, hör mal auf! Wieso solltest du denn bitte Aids haben??? Beruhig dich mal

Ich: Gegenfrage: wieso nicht?

Sie: jetzt hör auf!

Mirabel sagte mir einmal, dass ich oft klinge, als würde ich mich nach etwas Endgültigem sehnen. Das stimmt so nicht. Aber es erleichtert mich, dass jeden von uns zu einem Zeitpunkt ein Ende einholen wird. Es verbindet uns allesamt miteinander. Den Gedanken mag ich. Eigentlich war ich deshalb auch immer furchtlos und hatte keine Angst vor dem Tod. Weil er sagt, dass man das, was passiert, nur bedingt in der Hand hat. Der Tod erlaubt einem, sich aus der Verantwortung zu nehmen. Sonst muss man das ja jeden Tag, immerzu, Verantwortung übernehmen, sich entscheiden. Wie viel Kaffeepulver oder welche Kassenschlange. Diese Selbstbestimmtheit ist anstrengend.

Mirabel sagt auch, ich sei ein Hypochonder aus Langeweile. Vielleicht hat sie recht. Zumindest bin ich Dramatikerin und übertreibe gerne. Aber vielleicht ist es diesmal wirklich anders. Was, wenn der Brief auffällig dick ist und der Anruf in vier Tagen kommt – was dann? Ich denke an die Taube, aber davon erzähle ich ihr besser nichts. Eigentlich sagen wir uns immer alles. Ich ihr manches etwas verspätet. Das enttäuscht sie jedes Mal. Manchmal aber muss das sein. Sie hat etwas an sich, das mich an meine Mutter erinnert. Dann, wenn sie mich bevormundet, mir erklären will, wie ich mich zu fühlen habe. Für sie beide ist alles immer logisch. Für alles haben sie eine Erklärung, die so simpel klingt, dass auch ich mich in meinem Drama nicht mehr ernst nehmen kann. Als hätten meine Gefühle keine Berechtigung. Manchmal verdreht Mirabel sogar die Augen, wenn ich etwas über mich erzähle, winkt ab, mimt die Unbeeindruckte. Ab und zu meide ich sie deshalb.

Ich laufe und laufe. Nur nicht anhalten. Die stete Bewegung vertreibt meine Grübelei. Ich nehme die Treppen hinunter zur U-Bahn. Ein Windstoß auf halbem Weg. Gerade fährt die Bahn ein. Es riecht staubig, trocken, nach kühlem Beton, der noch nie von Sonnenstrahlen erwärmt und von Regengüssen nass wurde. Dieser ganz eigene Geruch hier unter der Erde wird mich lebenslang ans Leben erinnern.

Es ist laut im Abteil. Die versprengten Tonfetzen, die auf mich einprasseln, wühlen mich normalerweise auf. Gerade aber dominiert das monotone Rattern der Räder, die sich über die Schienen schieben, und das untertourige Gemurmel aus allen Richtungen beruhigt mich. Es ist, als würde ich mich in einem luftdichten Kokon befinden. Oft fühle ich mich unglaublich weit weg von jedem und allem um mich herum. Jetzt ist das anders, ich muss mich mental verbinden, um von meinen Gedanken nicht irre zu werden. Auch wenn ich nichts über mein gähnendes Gegenüber weiß, nicht, ob der große Hund von dem Mann da drüben immer so ungeniert den Boden ablecken darf oder das Herrchen gerade nur unaufmerksam ist. Ich verbinde mich mit jedem Menschen im Waggon, versuche meine Isolation zu durchbrechen. Diese Nähe, die nur aus flüchtigen Blicken und sich aneinanderreibenden Kleidungsstücken besteht, gibt mir das Gefühl, nicht einsam zu sein. Es ist so, wie wenn ich mich vom Leben entkoppelt fühle und Radio höre oder mir eine Sendung im Fernsehen anschaue. Ich höre gar nicht richtig hin, schaue mir keins der Gesichter in der unästhetischen Bilderflut wirklich an. Mir reicht das Wissen, dass zeitgleich mit mir tausend andere es auch tun. Sich sinnbefreite, sexistische, menschenverachtende Formate anschauen, in denen sich muskulöse Männer und überschminkte Frauen ineinander verlieben müssen. Eine irreale Verbundenheit, in der ich alleine bin, aber nicht einsam.

In die Details, die mich umgeben, mischt sich der penetrante Geruch einer überreifen Banane. Ich entdecke eine junge Frau, die gerade ins tiefgelbe Fruchtfleisch beißt. Erst neulich habe ich Mirabel gesagt, wie unangenehm ich es finde, Bananen in der Öffentlichkeit zu essen. Mir ist das zu intim. Sie musste lachen, fragte mich, seit wann ich so verklemmt sei. Bin ich nicht, nur ist mir das Schälen, der Akt an sich, zu assoziativ. Gedankenverloren schaue ich die Frau, die schräg gegenüber von mir sitzt, an. Sie fühlt sich beobachtet, dreht sich geniert zur Seite, bricht die Stücke der Banane mit der Hand ab und führt sie erst dann zum Mund. Es ist ungewöhnlich, dass ich einzig durch Blicke einen Unbekannten auf etwas aufmerksam machen kann. Zu verschieden sind Fremd- und Selbstwahrnehmung. Die Frau neulich im Bus neben mir zum Beispiel, die sich alle zehn Sekunden räusperte. Von derlei körperlichen Automatismen fühle ich mich schnell provoziert. Sie bemerkte nichts von meinen auffordernden Blicken. Ich weiß, dass ich mich da viel zu wichtig nehme. Als würde mich irgendwer bewusst provozieren wollen. Aber mich stört gerade das Unbewusste, das diese Menschen ausstrahlen, wenn sie die Welt um sich herum unbeirrt an ihren Ticks teilhaben lassen. Ich finde, man sollte alles, was man tut, als Erstes selbst wahrnehmen. Sonst ist man am Ende Sklave seiner selbst.

Ich muss umsteigen. Wieder raus aus dem Kokon, auf den Bahnsteig, Treppen runter, einen anderen Aufgang wieder hinauf. Eine verwirrt aussehende Frau hievt gerade einen Kinderwagen die Treppen zum Gleis nach oben. Als ich helfen will, wehrt sie ab, so als wäre mein Angebot übergriffig, mit ihr die Last zu teilen. Im Waggon stehe ich neben ihr und beobachte sie unauffällig. Die ganze Fahrt über hält sie ihren Kopf gebannt nach unten gebeugt, in Richtung Kinderwagen. Sie meidet jeden Blickkontakt, murmelt etwas vor sich hin, das man beim Quietschen der Schienen nicht verstehen kann. Irgendwann bemerke ich, dass in dem Wagen gar niemand liegt. Nur kiloweise löchrige Einkaufstüten, über die sie linkisch eine Jacke gespannt hat. Ich stelle mir vor, wie sie vor Jahren ihr Baby verloren hat und seitdem, gefangen in ihrer Trauer, mit diesem Wagen umherfährt. Wie sie tut, als sei alles noch genau so, wie es mal war und doch nie wieder sein wird. Man muss nur fest genug an etwas glauben, bis man es irgendwann für real hält.

Meine Mutter hatte mir oft gesagt, dass Gedanken die Realität formen. Sie meint das im Positiven. Also: Sage dir die schönen Dinge, die dein Leben beschreiben, dann wirst du vor allem sie sehen. Dabei passt das gar nicht zu ihr. Um meiner Mutter diese Theorie wirklich abnehmen zu können, hätte ich sie wohl öfter glücklich sehen müssen. Ich jedenfalls beherrsche diesen Trick durchaus, allerdings umgekehrt. Ich sage mir die hässlichen Dinge, die mein Leben beschreiben, und grüble über all das, was schlecht ist. Ein Pfeil schießt mir durch den Kopf. Genau in diesem Moment schaut die Frau mit Kinderwagen auf. Ich blicke in ein erschöpftes Gesicht, eine zerfurchte Mondlandschaft. Leblos. Sie steigt aus. Ich muss noch ein paar Stationen fahren und setze mich. Mein Körper zittert. Ich schüttle den Kopf, damit meine Gedanken verschwinden.

Bei der nächsten Station steigt ein Junge ein. Er ist vielleicht elf, aber schon groß und ziemlich breit. Über seiner Oberlippe ein dunkler Flaum. Er setzt sich mir direkt gegenüber, starrt mich an, noch bevor er sitzt. Ich halte seinem bohrenden Blick stand. Man sagt, man könne einander drei Komma drei Sekunden anschauen, bevor es für beide Seiten unangenehm wird. Davon scheint er nie gehört zu haben, glotzt unbeirrt weiter. Ich blicke zum Boden. Habe ich vielleicht irgendwo was hängen? Ich fasse mir ins Haar, streiche mir über meine Wangen, ein Griff zur Nase. Er fasst sich auch ins Haar, streicht sich über die Wangen, greift sich an die Nase. Das sehe ich aus den Augenwinkeln. Nun putze ich sie mir. Auch er tut es. Ich schlage die Beine übereinander. Dann er. Ich werde nervös. Auch als ich ihn direkt anschaue, meine Augen dabei demonstrativ verdrehe und meinen Blick abwende, hört er nicht auf. Er spielt mit mir. Dieser Junge da, der nicht mal halb so alt ist wie ich, nichts zu verlieren hat, weil er glaubt, sein ganzes Scheißleben liegt noch vor ihm, schaut mich einfach weiter an und verdreht jetzt genau wie ich demonstrativ die Augen. Lass mich in Ruhe, du distanzloses Monster, schreit es in mir. Und dann will ich ihn tatsächlich anbrüllen. Ich wüte innerlich. Der Zug fährt in die nächste Station ein. Die Türen springen auf. Raus hier, bevor ich komplett die Fassung verliere. Auf dem Bahnsteig bleibe ich für einen Moment wie angewurzelt stehen. Ich wage es nicht, mich noch mal umzudrehen, spüre noch immer seine Blicke auf meinem Rücken, durch die Scheiben hindurch, wie sie seelenruhig an mir schaben. Endlich verschwindet die Bahn im dunklen Tunnel. Jetzt erst bemerke ich, dass ich vier Stationen zu früh ausgestiegen bin. Ich steige die Treppen hinauf ans Tageslicht, laufe den Rest zu Fuß.

Sie ist vom Stuhl gerutscht«, schreit Heinrich und lacht. »Halt die Klappe«, sage ich harsch. Die Dielen in meiner Wohnung quietschen so laut, dass ich Sorge habe, jemand könnte wegen Ruhestörung die Polizei rufen. Es ist sechs Uhr morgens, wir kommen gerade zu mir nach Hause. Der Test liegt keine vierundzwanzig Stunden zurück. Wir haben uns abgeschossen, acht Stunden lang, sechs Wodkashots waren es sicher. Heinrich kann das, mich dazu animieren, den Geist abzuschalten.

»Ich glaube, sie bekommt einfach zu wenig Liebe von dir«, macht er weiter in exakt derselben Lautstärke. »Sie will auf sich aufmerksam machen, deshalb tut sie sich weh, damit du dich endlich wieder um sie sorgen musst. So wie bei uns damals …«

»Oh man, du bist so dicht, sei jetzt mal leise, bitte«, sage ich, muss aber unfreiwillig grinsen über Heinrichs Theatralik. Seine hysterische Albernheit steckt an. Dass Heinrich und ich mal ein Paar waren, liegt nun schon die Hälfte unseres gesamten Lebens zurück. Es ist interessant, zu sehen, wie sich die Dinge verschieben. Dass wir noch