Horst Bosetzky
Die Brüder Sass –geliebte Ganoven
Biografischer Kriminalroman
Geldschrankknacker 1926 kommen die bis dahin im Leben irgendwie gescheiterten Brüder Franz und Erich Sass auf die ebenso innovative wie geniale Idee, Banktresore mit hilfe eines Schneidbrenners zu öffnen. Sie landen ihren ersten großen Coup, als sie durch einen Tunnel in die Stahlkammer einer Bank eindringen und 179 Schließfächer ausräumen. Als sie schließlich Robin Hood spielen und bedürftigen Berlinern Geldscheine in die Briefkästen stecken, werden sie endgültig zu Kultfiguren. Kriminalsekretär Max Fabich kommt ihnen auf die Spur, kann ihnen aber nichts Konkretes nachweisen. Als 1933 die Nazis an die Macht kommen, wird ihnen in Deutschland der Boden zu heiß und sie fliehen nach Kopenhagen, wo die dänische Polizei alsbald eine Serie von Einbrüchen und geknackten Tresoren zu Protokoll nehmen muss. Die Brüder Sass werden nach Deutschland ausgeliefert, zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt und am 27. März 1940 bei der Überstellung ins KZ Sachsenhausen ermordet.
Dr. Horst Bosetzky (ky) wurde 1938 in Berlin geboren. Der emeritierte Professor für Soziologie veröffentlichte neben etlichen belletristischen und wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche, zum Teil verfilmte und preisgekrönte Kriminalromane. 1992 erhielt er den Ehren-Glauser des SYNDIKATS für das Gesamtwerk und die Verdienste um den deutschsprachigen Kriminalroman. 2005 wurde ihm der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Zehn Jahre lang war Horst Bosetzky Sprecher des SYNDIKATS und Gründungsmitglied von QUO VADIS. Besuchen Sie:
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Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Teufelssee (2017)
Eingebunkert (2016)
Witwenverbrennung (2015)
Fahnenflucht (2013)
Der Fall des Dichters (2012)
Nichts ist so fein gesponnen (2011)
Promijagd (2010)
Unterm Kirschbaum (2009)
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild
ISBN 978-3-8392-5446-2
Die Handlung basiert auf realen Begebenheiten, geht aber frei mit Personen, Daten und Ereignissen um.
»Wenn die Toten vom Schlaf erwacht, / leise aus ihren Gräbern steigen …« Martin Kruschin zitierte ein Gedicht, das er neulich per Zufall im Internet entdeckt hatte, von einem Poeten mit dem Pseudonym Nachtengel verfasst.
Seine Freundin Jessica lachte. »Wenn das man kein Nachzehrer ist, der uns die Lebenskraft absaugen will.« Als Ethnologin war sie sehr an Wiedergängern und Untoten interessiert.
Sie hatten ihren Kleinwagen am Wirtshaus Schildhorn geparkt und liefen nun auf einem schnurgeraden Weg zum Friedhof Grunewald-Forst, der weithin als »Selbstmörderfriedhof« bekannt war. Kruschin studierte Geschichte an der FU Berlin und wollte seine Master-Arbeit über diesen ganz besonderen Berliner Friedhof schreiben.
»Warum heißt der eigentlich so?«, wollte Jessica wissen.
»Na, weil wegen der Strömung der Havel Selbstmörder oft in der Bucht bei Schildhorn angespült wurden. Die hat man dann anfangs einfach hier im Wald verbuddelt, weil die Kirchen sie auf ihren Friedhöfen nicht haben wollten. Das war ein ›Schandacker‹ hier. Später machte die Stadt Berlin einen richtigen Friedhof daraus, und zuerst kamen auch andere Selbstmörder hierher, dann normale Gestorbene. Irgendwann soll er ›entwidmet‹ werden, wie das in der Amtssprache heißt, und dann ist die Natur hier wieder gänzlich pur.«
Sie traten durch das steinerne Eingangstor, dessen Flügel nur angelehnt waren. Am hinteren Ende des Friedhofs waren zwei Arbeiter dabei, eine Grube auszuheben. Offenbar gab es doch noch neue Beerdigungen. Martin Kruschin holte seinen Block hervor, um sich Notizen zu machen, seine Freundin zückte ihr iPhone, um die Grabkreuze und -steine, die für ihn wichtig waren, abzulichten. Zuerst stachen ihnen zwei merkwürdige Kreuze ins Auge. Martin Kruschin hatte sich schon kundig gemacht.
»Das sind Kreuze der russisch-orthodoxen Kirche – ein lateinisches Kreuz mit zwei zusätzlichen kurzen Querbalken. Hier sind nämlich fünf Russen begraben, die sich während der Oktoberrevolution in die Havel gestürzt hatten.«
»Damit könnte man doch auch heute noch Leute anlocken: Zum Selbstmord nach Berlin! Wir haben jede Menge Flüsse und Kanäle und S- und U-Bahn-Strecken.«
»Das ist makaber!«
»Du hast recht: Lieber Makeba als makaber.« Und sie begann Pata Pata zu singen.
»Hör auf: Störung der Totenruhe.«
»Vielleicht möchten die Toten gern gestört werden …«
Martin Kruschin lachte. »Ja, vor allem die Minna Braun.«
»Wer war Minna Braun?«
»Eine Krankenschwester, der das Schicksal schwer zugesetzt hatte: Die Eltern hatten sie verstoßen, der Verlobte hatte sie verlassen, der Arbeitgeber gefeuert. Da ging sie hier zum Havelufer, 1919 war das, und schluckte alles, was sie vorher an Tabletten gebunkert hatte. Forstarbeiter haben sie dann gefunden und hierher in die Aufbahrungshalle des ›Selbstmörderfriedhofs‹ gebracht. 14 Stunden später kommt ein Kriminalbeamter, um die Identität der Toten festzustellen. Er schreit auf, denn er sieht, wie sich der Kehlkopf der Scheintoten bewegt. Sie kommt ins Krankenhaus und überlebt. Ganz Berlin hat seither Angst davor Angst davor, scheintot begraben zu werden.«
Sie machten sich auf die Suche nach den Grabstellen anderer bekannter Persönlichkeiten.
»Wen hast du denn noch auf deiner Liste?«, wollte Jessica wissen.
»Clemens Laar, Schriftsteller.«
»Nie gehört …«
»Aber bestimmt den einen Satz gesprochen, mit dem er unsterblich geworden ist.«
»Keine Ahnung.«
»Na: … reitet für Deutschland. Das ist ein Romantitel, 1936 bezogen auf Carl-Friedrich Freiherr von Langen, zwei Goldmedaillen für Deutschland in der Dressur, Einzel und Mannschaft. Im Film war das Willy Birgel. Von dem haben damals alle so geschwärmt wie heute von George Clooney.«
Damit machten sie sich auf die Suche nach den fünf anderen Namen, die noch abzuhaken waren: Götz Clarén (1928 – 1997), Rundfunk- und Synchronsprecher, Horst Kudritzki (1911 – 1970), Komponist und Dirigent, Nico (1938 – 1988), Fotomodell und Sängerin der Rockband »The Velvet Underground« sowie die beiden Männer, die hier ihr Ehrengrab bekommen hatten, der Heimatforscher Willi Wohlberedt (1878 – 1950) und der Oberförster Willi Schulz (1881 – 1828).
»Wohlberedt müsste man heißen«, sagte Jessica. »Und dann zu jeder Talkshow eingeladen werden.«
»Das kann ich verstehen, Frau Kotenbeutel. Du kannst dich also nur verbessern, wenn du mich heiraten würdest. Ich wäre lieber ein anderer Willi Schulz, der von Schalke 04 und dem HSV, über 50 Länderspiele. Der hat mal gesagt …«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment stießen die beiden Arbeiter, die in der hintersten Ecke des Friedhofs eine Grube aushoben, ekstatische Freudenschreie aus. Kruschin und seine Freundin liefen hin und sahen, wie beide Unmengen an Schmuckstücken nach oben beförderten, es regnete geradezu goldene Ketten, Ringe und Broschen. Eilig geputzte Brillanten funkelten in der Sonne.
»Wir sind reiche Leute!«, jubelte der jüngere der beiden Arbeiter.
»Das muss gemeldet werden«, sagte Jessica so laut, dass die beiden es hören konnten. »Ihnen steht nur die Hälfte des Wertes zu, die andere dem Eigentümer des Grundstückes hier, also der Stadt Berlin.«
»Da wär’n wa ja schön blöd, wenn wa det melden tun!«, rief der ältere der beiden Friedhofsarbeiter, der in Kruschins Augen so brutal und dümmlich aussah wie ein Terrorist mit Kalaschnikow. »Und wenn ihr wat sajen tut, kriejta wat uffs Maul!«
Martin Kruschin zweifelte keinen Augenblick daran, dass das ernst gemeint war, und überließ seiner Freundin das Argumentieren, denn dass die Friedhofsarbeiter sie attackieren würden, war weniger wahrscheinlich.
»Wenn ihr die Sachen zu Geld machen wollt, braucht ihr einen Hehler«, sagte Jessica dann auch. »Und der legt euch ganz sicher rein. Oder die Polizei beobachtet ihn – und dann seid ihr geliefert. Aber wenn wir jetzt die Polizei holen, dann ist euch mindestens die Hälfte des Erlöses sicher, und ihr landet nicht im Knast.«
Das klang überzeugend, und nachdem sie noch an die zehn Minuten diskutiert hatten, durfte Jessica ihr iPhone aus der Tasche ziehen und 110 anrufen.
Am nächsten Tag stand die Sache groß in den Zeitungen, und als Martin Kruschin am Nachmittag zum 80. Geburtstag seines Großvaters nach Spandau fuhr, hatte der zwei Bücher und eine Reihe Internet-Ausdrucke auf seinem Schreibtisch ausgebreitet.
»Das zu dem Fund auf deinem ›Selbstmörderfriedhof‹ …«
»Ekkehard Schwerk«, las Martin Kruschin, »Die Meisterdiebe von Berlin. Paul Gurk, Tresoreinbruch …«
»Gemeint sind die Brüder Sass, die gehörten ab 1929 zu den prominentesten Deutschen. Und als ich zur Kripo gekommen bin, hat man immer noch über die geredet, zumal ein großer Teil ihrer Beute noch immer nicht gefunden worden war.«
Martin Kruschin schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Jetzt verstehe ich, wo da der Zusammenhang ist!«
»Ja, was auf dem Friedhof bei Schildhorn gefunden worden ist, könnten die Brüder Sass da versteckt haben, denn …«, der Großvater deutete auf eine grün markierte Stelle in einem Artikel, wo DIE WELT über die Meisterdiebe aus Moabit berichtet hatte, »hier: ›Bis zu seinem Tod wird Max Fabich‹ – das war der federführende Kollege damals – ›fest davon überzeugt sein, dass die Brüder den größten Teil ihres unredlich erworbenen Millionenvermögens im Grunewald verscharrt haben. Aber wo? Er ist den Einbrechern einmal zufällig in einem Gartenrestaurant am Schildhorn begegnet und hatte daraus seine Schlüsse gezogen.‹ Die beiden hatten nämlich Spaten in der Hand. So steht es auch bei Schwerk auf der Seite 77.«
Der Enkel war neugierig geworden. »Erzähl mir doch bitte noch ein bisschen was von diesem Brüderpaar.«
Der Erste Kriminalhauptkommissar Richard Kruschin tat es gern und sehr ausführlich.