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Helge Weichmann

Schandglocke

Kriminalroman

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Zum Buch

Gefährliches Puzzle Ein Besuch im Pflegeheim nimmt für die Historikerin Tinne Nachtigall eine unerwartete Wendung: Ihr ehemaliger Professor, inzwischen Demenzpatient, weiht sie in seine kruden Gedankengänge ein. Was hat es mit dem Schinderhannes und einem seltsamen Geschenk für Napoleon auf sich? Welche Rolle spielt ein Kellermeister aus kurfürstlichen Zeiten? Und warum soll sie gegen Windmühlen kämpfen? Zunächst tut Tinne seine Rätselworte als wirres Hirngespinst ab. Als der Professor aber aus dem Pflegeheim flieht und bald darauf ermordet wird, ahnt sie, dass mehr dahintersteckt. Gemeinsam mit dem Lokalreporter Elvis taucht sie in jene Epoche ein, in der Mainz zu Frankreich gehörte und Napoleon die Stadt in große Umbrüche stürzte. Dabei stoßen sie auf ein Vermächtnis, das bis zum heutigen Tag im Verborgenen liegt und für das jemand zu töten bereit ist. Doch von nun an sind auch Tinne und Elvis im Fadenkreuz …

Helge Weichmann wurde 1972 in der Pfalz geboren und ist seit 20 Jahren in Rheinhessen zu Hause. Während seines Studiums jobbte er als Musiker und Kameramann und bereiste zahlreiche Länder, bevor er sich als Filmemacher selbstständig machte. Seine Kreativität lebt er in vielen Bereichen aus: Er betreibt eine Medienagentur, arbeitet als Moderator, fotografiert, filmt, zeichnet und schreibt. Er ist begeisterter Hobbykoch, Weinliebhaber und Sammler von Vintage-Gitarren. Mit der chaotischen Historikerin Tinne Nachtigall und dem dicken Reporter Elvis hat Helge Weichmann zwei liebenswerte Figuren geschaffen, die ihre ungewöhnlichen Abenteuer mit viel Pfiff, Humor und Improvisationstalent meistern. »Schandglocke« ist der vierte Teil der Reihe.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mörderjagd mit Elwetritsch (2020)

Schandflut (2019)

SOKO Ente (2019)

Schandfieber (2018)

Schwarze Sonne Roter Hahn (2017)

Schandkreuz (2016)

Schandgold (2014)

Schandgrab (2013)

Impressum

Copyrightvermerk: Abdruck des Covers DER SPIEGEL 27/1979
auf Seite 178 erscheint mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlag
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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © looky / clipdealer.com

ISBN 978-3-8392-5562-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Ebenso sind die genannten Firmen, Institutionen, Universitäten, Museen und Forschungseinrichtungen fiktiv oder, falls real existierend, in fiktivem Zusammenhang genutzt.

Poesiealbum

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Zitate

Venez mes frères, vite, je bois des étoiles!

Eilt herbei, meine Brüder, ich trinke die Sterne!

Dom Pérignon, um 1700

 

Auszug aus:

www.kinderquatsch.org/txtwsd/sammel/abzreime/

 

Ene mene Dillegraf,

zappel zappel wie de Aff,

wink dei’m Zwilling, witt, witt, witt,

der macht dann des Tänzche mit.

altes Kinderlied aus Bad Kreuznach

Sonntag, 20. November 1803

»Was kann ich für Euch tun, Vater?«

Fréderic, der wachhabende Soldat, schaute durch den Sehschlitz der Tür. Auf den Treppen stand ein Priester, eingehüllt in eine graue Kutte, ein Holzkreuz baumelte vor seiner Brust, sein Gesicht lag im Schatten der Kapuze. Die Hand, mit der der Mann gerade an die Pforte des Holzturms geklopft hatte, war noch erhoben. Ein Mönch vielleicht, so genau wusste Fréderic das nicht. Mit der Kirche hatten die französischen Soldaten nicht viel zu schaffen.

»Er hat nach Beistand gefragt. Vielleicht will er die Beichte ablegen.«

Er – es brauchte keine weitere Erklärung, wer damit gemeint war.

»Jetzt? Fast um Mitternacht?«

Der Priester zuckte mit den Schultern.

»Das Gewissen schläft nicht, mein Sohn. Der Gerichtsdiener hat es mir sagen lassen, kurz vor der Spätmesse, und nun bin ich hier.«

Das Französisch des Priesters klang unbeholfen und hatte den holprigen Akzent des Département du Mont-Tonnerre, des Donnersberg-Departements. Diese Bezeichnung fasste die linksrheinischen, französisch regierten Gebiete zusammen, deren Verwaltungshauptstadt Mayence war, Mainz. Die meisten Einwohner des Départements konnten sich inzwischen, nach fast zehn Jahren, einigermaßen verständlich auf Französisch ausdrücken, wenngleich auf den Straßen und in den Häusern weiterhin Deutsch gesprochen wurde. Nur in den höheren Kreisen hatte sich die langue française auch im privaten Gespräch durchgesetzt.

»Nun?«

Mit den Fingern umfasste der Priester das Holzkreuz vor seiner Brust, während er auf eine Antwort wartete. Fréderic war unschlüssig. Einerseits waren die Kirche und ihre Besitztümer unter französischem Einfluss immer weiter zurückgedrängt worden – Klöster wurden aufgelöst, Kirchen als Ställe und Lagerhäuser benutzt oder gleich ganz abgerissen. Andererseits war der Wunsch nach einer Beichte sicherlich nachvollziehbar angesichts des Urteils, das am heutigen Nachmittag über den Mann im Turm gefällt worden war.

Er öffnete die beiden eisernen Türriegel. Der Priester war größer als Fréderic, hielt sich aber gebückt, als laste das Gewicht der Welt auf seinen Schultern. Ein beachtlicher Bauch spannte die Kutte, sein Gesicht blieb im Schatten der Kapuze.

»Danke, mein Sohn. Möge Gott es dir vergelten.«

Gemeinsam traten die beiden Männer in den Wachraum. Fréderics Kamerad Marcel schnarchte dort vor sich hin, den roten Waffenrock aufgeknöpft, die Stiefel auf dem Boden, seine Füße mit löchrigen Socken auf einem Stuhl hochgelegt. Normalerweise wäre ein solches Verhalten in der französischen Armee undenkbar, Zucht und Ordnung galten als oberstes Prinzip. Doch die Nachtwachen im Turm, die Fréderic und Marcel nun schon seit mehr als zwei Wochen bestritten, hatten ihre Disziplin nach und nach aufgeweicht. Keine Menschenseele kam oder ging, es gab keinen Appell, kein Vorgesetzter ließ sich blicken. War es da nicht mehr als menschlich, wenn irgendwann die unbequemen Stiefel ausgezogen wurden und die Augen zufielen?

Angesichts des priesterlichen Besuchs war Fréderic die Szene nun allerdings unangenehm. Er zischte einen halben Satz, worauf Marcel hochschrak. Schnell waren der Rock gerichtet und die Stiefel wieder an den Füßen, er straffte sich. Seine Brauen schoben sich zusammen, als wolle er den etwas peinlichen Auftritt ausmerzen.

»Permis de visite? Besuchserlaubnis?«

Statt einer Antwort griff der Priester erneut an sein Holzkreuz, ohne den Blick zu heben. Fréderic schaute zwischen den beiden hin und her. Sicher, Marcel hatte recht – ohne ein vom Untersuchungsrichter abgezeichnetes Papier durfte niemand nach oben zu den Zellen gehen. Dieses Reglement war immer streng beachtet worden, sogar der Wachdienst, der den Angeklagten zum Schloss in den Gerichtssaal gebracht hatte, war täglich aufs Neue mit einer Permis ausgestattet gewesen. Aber mitten in der Nacht beim Beichtbesuch eines Priesters? Der Mann Gottes würde wohl kaum die Gitterstäbe herausreißen und mit dem Gefangenen davonflattern wie ein Vögelchen. Fréderic nahm Marcel zur Seite und tuschelte. Zögernd nickte sein Kamerad.

»Enfin, Ihr habt 20 Minuten, Vater. Das muss genügen«, sagte Marcel bestimmt und merkte, dass er seinen Waffenrock falsch zugeknöpft hatte. Mit möglichst viel Würde fing er an, die Knopfreihe neu zu ordnen.

Der Priester folgte Fréderic aus der Wachstube ins Treppenhaus. Der Holzturm, der am Rand von Mayence in der Nähe des Rheins lag, war als Teil der alten Stadtmauer erbaut worden und gehörte ursprünglich zum gleichnamigen Tor, dem Holztor. Früher war das Bauwerk ein reiner Wachturm gewesen, dann hatte man in seinem oberen Teil Zellen eingerichtet und sie als Gefängnis genutzt. Mit der Umstrukturierung des Rechtssystems errichteten die Franzosen dann allerdings ein neues, größeres Gefängnis im Gewölbe des Kurfürstlichen Schlosses, das strategisch günstig lag und einen direkten Zugang zum dortigen Gerichtssaal erlaubte. Die Tatsache, dass der Holzturm nun doch wieder einen Gefangenen beherbergte, war einzig dessen Prominenz zu verdanken. Der Mann war eine regelrechte Berühmtheit, jeden Tag wurden neue Besuchsanfragen gestellt – von Rechtsgelehrten und Anwälten, aber auch von Dichtern, Malern und Schriftstellern. Sie alle waren fasziniert von den Geschichten, die man sich über den Mann erzählte, und jeder wollte ihm einmal persönlich gegenüberstehen. Also entschied Jeanbon de Saint André, der Präfekt des Donnersberg-Departements, diese Situation auszunutzen und das neue französische Rechtssystem ins beste Licht zu rücken. Statt in dunkle Gefängniskatakomben wurden die Besucher deshalb in den Holzturm geführt, wo sie sich mit eigenen Augen überzeugen konnten, dass der Gefangene angemessen untergebracht war und sogar den Ausblick über das Dächermeer der Stadt genießen konnte.

Fréderic und der Priester passierten die Waffenkammer und erreichten die Steinstufen, die steil nach oben führten. Bald schon keuchte der dicke Priester, sein Holzkreuz pendelte hin und her. Im oberen Stockwerk befand sich ein Vorraum mit vier Gittertüren, die Zellen dahinter waren leer bis auf eine. An der Wand des Vorraums flackerte eine Petroleumlampe und warf ihren unruhigen Schein auf eine Gestalt, die reglos auf ihrer Pritsche lag. Ein kleines Fenster ließ das Mondlicht herein und malte einen hellen Streifen auf den Mann.

Mit dem Fuß trat Fréderic gegen die Gittertür, der misstönende Laut ließ den Priester zusammenfahren.

»Aufwachen, na los. Der liebe Gott kommt dich besuchen.« Er lachte meckernd.

Der Mann auf der Liege rührte sich nicht. Wieder trat Fréderic gegen die Tür. Der Priester wartete, bis das grelle Geräusch verklungen war, dann erhob er die Stimme. Auf Deutsch sagte er: »Ich bin der, nach dem du verlangt hast, Johann. Wir haben viel zu reden.«

Die fremde Stimme ließ den Mann aufmerksam werden. Langsam setzte er sich, seine Füße scharrten auf dem Boden. Das Mondlicht zeigte ein junges Gesicht, weiche Züge, ein fliehendes Kinn, eine hohe Stirn. Die Haare waren nackenlang und nach hinten gestrichen, die Augen schwarz, als hätten sie zu viel gesehen. Johannes Bückler, den man den Schinderhannes nannte, blieb stumm, nur sein Blick zuckte umher.

Der französische Soldat machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Alors! Fangt an!«

»Die Beichte ist etwas Privates, mein Sohn«, sagte der Priester, nun wieder auf Französisch. Mit einer sanften Handbewegung, die nicht recht zu seinem massigen Körper passen wollte, deutete er zur Treppe. Fréderic zauderte, dann schnaufte er und wandte sich zum Gehen.

»20 Minuten. Nutzt die Zeit, Vater, er hat genug Sünden zu beichten.«

Als der Soldat verschwunden war und seine Stiefel auf den Steintreppen verhallten, wurde die Stille drückend. Es war Bückler, der schließlich das Schweigen brach, seine Lippen bewegten sich kaum dabei.

»Ich habe nicht nach einem Pfaffen rufen lassen. Wer seid Ihr und was wollt Ihr?«

»Morgen bringen sie dich aufs Schafott, Johann. Das Urteil ist gesprochen, in diesem Augenblick wetzt der Henker das Beil der Guillotine.« Die Worte des Priesters kamen ohne jede Emotion. »Ich bin hier, um dir ein Geschäft vorzuschlagen. Ein Geschäft, bei dem du nur gewinnen kannst.«

Schweigen war die Antwort, Bückler saß im Mondlicht, regungslos wie eine Statue aus Stein.

»Ich biete dir nicht mehr und nicht weniger als dein Leben, Johann. Du kannst als freier Mann irgendwo neu anfangen, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land.«

Die Sekunden verstrichen, bis der Schinderhannes den Kopf eine Winzigkeit schräg legte. Seine Augen suchten das Gesicht unter der Kapuze, doch sie fanden nur Schatten.

»Was ist der Preis? Was muss ich dafür tun?«

»Das, was du am besten kannst.«

Ein fast lautloses Lachen kam aus Bücklers Kehle. Es war mehr ein Hauchen, das in ein Husten überging und nicht gesund klang.

»Ich kann nichts. Nichts außer rauben und stehlen.«

Nun endlich schob der andere seine Kapuze nach hinten. Die Augen des Schinderhannes wurden groß, als er den Mann erkannte, der in der Kutte steckte. Es war kein Priester, o nein. Es war jemand, dessen Blick während des Prozesses oft den seinen getroffen hatte. Ein Mann, der hier in Mainz die Fäden in der Hand hielt. Der Mann beugte sich nach vorn, umfasste das Gitter und näherte sich dem Gesicht von Bückler.

»Rauben und stehlen? Genau darum geht es. Du sollst etwas für mich stehlen, Johann, und dafür gebe ich dir dein Leben zurück.«

Am nächsten Morgen bemühte sich die Sonne vergeblich, den grauen Novembernebel zu durchdringen. Vom Rhein zogen feuchte Schwaden herbei, machten die Farben stumpf und dämpften die Geräusche. Eine unüberschaubare Menschenmenge hatte sich versammelt, dicht gedrängt standen die Bewohner und säumten die Uferstraße zum Neutor wie Kieselsteine. Auch die Strecke zur Stadt war belagert, jeder Meter, den die Wagen mit den Verurteilten passieren würden. Heute war der Tag, an dem die Verbrecherbande aus dem Hunsrück ihre gerechte Strafe empfangen würde.

Gegen Mittag setzten Trommeln ein, der Ruf ging von Mund zu Mund: »Es geht los, die Wagen haben das Gefängnis beim Schloss verlassen!« Langsam rollte der Zug die Uferstraße entlang, ein Kommando Gendarmen an der Spitze, gefolgt von einer Abteilung Infanterie. Fünf Leiterwagen wurden von Pferden gezogen, darauf saßen die Verurteilten in roten und weißen Leinenhemden. Die Trommler und ein berittenes Corps schlossen die Reihe. Die Gefangenen hatten die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, einige hielten die Köpfe gesenkt, andere schauten trotzig in die Menge.

Die Umstehenden reckten sich, jeder wollte einen Blick auf die Wagen erhaschen. Wo war er denn, der Schinderhannes? Da, im ersten Wagen, das musste er sein! Zwar kannte kaum jemand Johannes Bückler von Angesicht zu Angesicht, doch man hatte den Mann ganz nach vorne gesetzt, mit Abstand zu den anderen. Der Platz eines Hauptmanns. Eines Räuberhauptmanns.

Legenden und Halbwahrheiten flogen zwischen den Menschen umher. Ein Raufbold wäre er, unerschrocken, schnell mit den Fäusten und noch schneller mit dem Messer. Lange Jahre hatten er und seine Bande ihr Unwesen getrieben im Hunsrück und auch im Soonwald, jeder Reisende musste um sein Hab und Gut fürchten, mehr noch, um sein nacktes Leben. Doch andererseits, hieß es, hätte der Schinderhannes nur von den Reichen genommen, nie von den Armen. Es gab Geschichten, wie er dem geizigen Krämer den Beutel geschnitten hatte und das Geld später unter den Bauern verteilte. Oder der Pferdehändler, der einer Witwe ihr letztes Pferd für einen lächerlichen Preis abkaufte und sich ins Fäustchen lachte. Später aber, da lachte er nicht mehr, als er im Wald dem Hannes gegenüberstand. Dieser raubte Geld und Pferd und brachte beides zur Witwe zurück, jaja, aus solchem Holz war er geschnitzt, der Schinderhannes, das erzählten sich die Leute.

Der Zug erreichte die Freifläche jenseits des Neutors. Dort hatte sich bis vor zehn Jahren das Lustschloss Favorite samt gepflegter Gartenanlage befunden, doch beide waren während der Belagerung von Mainz zerstört worden. Nun ragte auf dem weiten, abschüssigen Areal eine rot angestrichene Guillotine in die Höhe. Die Soldaten, die die Menge auf Distanz halten sollten, hatten kaum etwas zu tun. Eine seltsame Scheu umfing die Menschen, wie von selbst hielten sie Abstand zum Schafott.

Ansgar Nikolaus Becker, der seit zwölf Jahren das Amt des Friedensrichters in Kirn bekleidete, war eigens zur Urteilsverkündung und Hinrichtung nach Mainz gereist. Einige Taten der sogenannten Schinderhannesbande waren in seinem Bezirk verübt worden, er selbst hatte drei berittene Exkurse geleitet, um das Gesindel im Wald aufzuspüren. Vergebens. Die Räuber kannten die unwegsamen Höhenzüge des Hunsrücks wie ihre Westentaschen und waren der Obrigkeit stets einen Schritt voraus. Einzig in kalter Lagerfeuerasche hatte Ansgar stochern können und in den Knochenresten, die vom letzten Mahl der Bande übriggeblieben waren.

Deshalb war es für den Richter eine Frage der Ehre gewesen, bei der Aburteilung dieser Lumpen dabei zu sein. Die öffentlichen Plätze im Gerichtssaal waren zwar verlost worden, weil es viel zu viele Interessenten gegeben hatte, doch mit Hinweis auf seine juristische Tätigkeit hatte Ansgar eine Permission erlangen können. So war er keinen Steinwurf entfernt gewesen, als der Vorsitzende Richter Georg Friedrich von Rebmann das Urteil über Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, gesprochen hatte: Tod durch die Guillotine.

»Kein Muskel hat sich in seinem Gesicht gerührt, gell, kein Muskel!«, berichtete er seinem Nebenmann, einem Mainzer Bäckergesellen, der die Hinrichtung als Spektakel ansah und aus Sensationslust gekommen war. »Wie eine Maske, bleich, als wär er in seinem Inneren längst schon tot!«

Die Geschehnisse beim Schafott zogen Ansgars Aufmerksamkeit auf sich. Er passte gut auf, denn im Nachhinein wollte er einen Bericht für das Kirner Gerichtsbuch verfassen. Eben war der erste Wagen zum Halten gekommen, die Trommeln verstummten, die plötzliche Ruhe ließ die Pferde der berittenen Garde unruhig werden. Eine einsame Glocke war zu hören, ihr Ton kam von fern und klang verloren. Die Schandglocke, so nannten sie die Menschen, sie hing im Turm von St. Stephan und war die einzige, die bei Hinrichtungen geläutet wurde. Ein Offizier mit weißer Schärpe trat an den Wagen heran und griff einen der Gefangenen am Arm. Die Menge tuschelte – dem Schinderhannes ging es zuerst an den Kragen!

»So ist’s recht, der Hauptmann macht den Anfang.« Ansgar knuffte seinen Nachbarn und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. »Der Erste beim Stehlen ist auch der Erste beim Sterben!«

Der Offizier führte den Mann die Stufen zur Guillotine hoch. Der Gefangene trat an die roten Balken mit dem geschliffenen Fallbeil heran, neben denen bereits der Henker wartete.

»Wie man sich täuschen kann, gell, im Gerichtssaal hat er viel kleiner ausgesehen, der Hannes«, meinte Ansgar. Er kniff die Augen zusammen, um das Gesicht des Verurteilten besser zu erkennen. »Sie haben ihm auch die Haare geschnitten, so wie’s ausschaut. Und ihn ordentlich gekämmt. Das war mal nötig. Und Farbe hat er gekriegt, gell, jetzt, wo’s ans Sterben geht, da ist er nicht mehr so bleich.«

Der Mann neben der Guillotine schaute in die gaffende Menge, sein Atem ging schnell, selbst auf die Entfernung konnte Ansgar den bebenden Brustkasten sehen. Ohne weitere Verzögerung packte der Henker zu, zwang ihn bäuchlings auf ein Brett hinter der Guillotine und schnallte ihn mit Lederriemen fest. Die Trommeln setzten wieder ein, ihr Rhythmus klang wie ein Herzschlag. Die Menge hielt den Atem an, das Brett wurde nach vorn geschoben, der Kopf des Verurteilten erschien zwischen den Balken. Die Trommelschläge wurden schneller, ihr dumpfes Brausen fuhr Ansgar in den Bauch und ließ seinen Körper vibrieren.

»Jetzt, Hannes, jetzt kommt dein Ende!«, rief er, Begeisterung und Abscheu erfüllten ihn gleichermaßen. Die Trommeln wirbelten, dann stoppten sie plötzlich. Kein Laut war zu hören, die Menge war wie eingefroren. Mit einem fast unhörbaren Klicken löste sich die Haltevorrichtung, das zentnerschwere Fallbeil raste abwärts, einen Wimpernschlag später knallte es unten auf. Der trockene Laut hallte über den Platz.

Der Kopf des Gefangenen kippte nach vorne in einen Korb, der Henker warf sofort ein Tuch darüber. Das Fallbeil hielt den Blutfluss aus dem Rumpf zurück, erst, als der Henker das Brett zurückschob, schossen die roten Ströme hervor und ließen das Holz der Guillotine glänzen.

Die Menge erwachte aus ihrer Starre, auch Ansgar merkte, dass er die Luft angehalten hatte. Der Strolch hatte seine gerechte Strafe erhalten, keine Frage, nun hatten auch er und seine Leute im fernen Kirn ihre Genugtuung erfahren. Mit gerecktem Hals spähte er zu einer gepolsterten Bankreihe auf der rheinabgewandten Seite des Richtplatzes. Dort verfolgten die Honoratioren das Geschehen, er erkannte Richter von Rebmann, Untersuchungsrichter Johann Wilhelm Wernher, den Öffentlichen Ankläger Anton Keil, mehrere Advokaten und als Vertreter der Stadt den Präfekten Jeanbon de St. André und den Bürgermeister Franz Konrad Macké. Eigentlich hätte Ansgar erwartet, dass sich die Herren voller Zufriedenheit die Hände schüttelten, schließlich waren Verhaftung und Verurteilung der Räuberbande ein Musterstück des französischen Rechtssystems gewesen. Stattdessen wirkten ihre Gesichter wie eingefroren, der Präfekt schien sogar die Fäuste zu ballen.

Als Friedensrichter besaß Ansgar eine gute Menschenkenntnis, er spürte, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

»Was ist los, Ihr hohen Herren?«, murmelte er halblaut, »Ihr seht aus, als hättet Ihr gerade den falschen Mann geköpft.«

Er schmunzelte über seinen eigenen Gedanken, während die Trommeln wieder einsetzten und der Offizier den nächsten Delinquenten nach oben führte.

Montag, 2. Juli 1979

260 Kilometer über der Erdoberfläche (Thermosphäre)

Die Luft in den oberen Atmosphärenschichten war dünn, die Konzentration von Sauerstoff und Kohlendioxid kaum messbar. Die wenigen gasförmigen Teilchen reichten aber, um dem heranrasenden Giganten einen spürbaren Widerstand zu bieten. Mit mehr als sieben Kilometern pro Sekunde trafen die Flächen aus Stahl und Glas gegen die dünne Luft, Reibung setzte ein und wurde stärker, schließlich kumulierte der Druck in gewaltigen Torsionskräften. Das obere Sonnensegel hielt den Verwirbelungen nicht stand, es wurde aus seiner Halterung gebogen, brach ab und riss die Steuermotoren mit sich. Servos, Stellschrauben und Getriebestangen schwebten einen Augenblick um das Weltraumlabor wie kleine Fische neben einem Wal, bevor sie gepackt und davongeschleudert wurden.

Sechs Jahre vorher, 1973, war Skylab als modernster Außenposten der Menschheit ins All gebracht worden, eine kolossale Metallröhre, 77 Tonnen schwer und so hoch wie ein zwölfstöckiges Gebäude. NASA-Astronauten absolvierten darin wissenschaftliche Versuchsreihen, dokumentierten die Aktivität der Sonnenflecken und betrachteten im Wohnmodul die blau-weiße Murmel unter sich, die in atemberaubender Schönheit auf ihrem schwarzen Mantel aus Samt lag.

Doch schon nach einem Jahr fiel die Entscheidung, Skylab stillzulegen. Zum einen erwies sich die Technik als störanfällig, zum anderen nahmen die Space Shuttles auf dem Reißbrett Gestalt an. Die wiederverwendbaren Raumgleiter waren das neue Vorzeigeprojekt der NASA, eine immobile und geldverschlingende Forschungsstation passte nicht mehr in dieses Konzept.

Die letzte Crew verließ Skylab im Februar 1974. Die Station verwaiste, ihre Kondensatoren verloren an Spannung, die Batterien entluden sich, die Relais gaben keine Impulse mehr weiter. Die gewaltige Maschine fiel in einen Dämmerschlaf, ihre Kreise im Nirgendwo generierten nur noch automatisierte Meldepunkte, von denen niemand Notiz nahm … bis diese Punkte drei Jahre später von ihrem üblichen Schema abwichen. Die Sonnenflecken, deren Beobachtung eine der Aufgaben des Labors gewesen war, erwiesen sich nun als dessen Nemesis: Die Eruptionen sorgten dafür, dass die äußersten Schichten der Erdatmosphäre verwirbelten und die Station abbremsten. Diese Veränderung war minimal, doch sie genügte, um die Umlaufbahn zu verändern und den Koloss auf eine Abwärtsspirale zu schicken.

Bei der NASA schrillten die Alarmglocken, auf einmal war Skylab wieder auf der Agenda. Denn 77 Tonnen Metall, die auf die Erdoberfläche zurasten, ließen Wissenschaftler und Politiker gleichermaßen unruhig werden. Berechnungen zeigten zwar, dass ein Großteil der Masse in der Atmosphäre verglühen würde. Die Überbleibsel wären aber noch immer groß genug, um beim Einschlag auf der Erde verheerende Schäden anzurichten.

Im Frühjahr 1978 wurde ein Aktionsplan aufgestellt, um das Weltraumlabor wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch nun rächte sich das jahrelange Desinteresse am Schicksal der Station: Die dazugehörigen Handbücher, zahllose Aktenmeter an technischen Protokollen, schlummerten in den Archiven und mussten erst wiedergefunden werden. Und die Ingenieure, die Skylab entworfen und gebaut hatten, waren längst in anderen Projekten eingesetzt oder bereits im Ruhestand. In aller Eile trommelte die NASA das Kernteam wieder zusammen und brachte die Männer auf die Bermudas. Dort befand sich die Bodenstation, die als einziger Sender der Welt noch mit Skylab in Kontakt treten konnte. Die Ingenieure arbeiteten Tag und Nacht, um die marode Technik weit über ihren Köpfen zum Leben zu erwecken. Es gelang ihnen, eines der Sonnensegel neu zu positionieren, die Grundversorgung der Station zu aktivieren und den letzten Brennstoff in einer der Steuerdüsen zu zünden. Dadurch veränderte sich die Rotation von Skylab, nun sollte das Labor in die Weiten des Alls treiben. Der betagte Riese widersetzte sich jedoch allen Plänen. Der neue Drall änderte zwar die Umlaufbahn, allerdings nicht stark genug – Skylab setzte seinen Kurs auf die Erde langsam, aber unaufhaltsam fort. Weitere, geradezu groteske Vorschläge wurden ausgearbeitet: Eine Atomrakete sollte die Station pulverisieren, mit riesigen Sonnenreflektoren wollte man Skylab verglühen lassen. Doch keine Idee war auch nur ansatzweise praktikabel, und die Zeit drängte. Mit jedem neuen Tag rückte das Labor näher an die Erde heran, ein menschgemachtes Damoklesschwert in 250 Kilometern Höhe.

Die amerikanische Regierung sah sich gezwungen, die Weltöffentlichkeit zu informieren. Obwohl die veröffentlichten Berichte vage und eher optimistisch formuliert waren, brach Panik aus. Staatsoberhäupter bombardierten Präsident Carter mit diplomatischen Noten, Physiker wollten sämtliche Details erfahren, die Bevölkerung reagierte mit Hamsterkäufen. In den USA wurden 1,5 Millionen Dollar für ein Sofortprogramm bewilligt, ein Notfallteam aus Ärzten und Wissenschaftlern stand bereit, alle waren geimpft und mit internationalen Visa versehen. Die Augen der Welt richteten sich auf den Himmel.

Doch Skylab ließ sich nicht in die Karten schauen und fing an zu trudeln. Das machte eine Berechnung seiner Flugbahn so gut wie unmöglich. Mit jedem Umlauf sank es 90 Meter tiefer, bald schon war der helle Punkt am Nachthimmel mit bloßem Auge zu erkennen wie ein unheilvoller Komet. Die Rechner bei der NASA liefen heiß, die Ergebnisse blieben dürftig. Alles, was man mit Sicherheit sagen konnte, war, dass Skylab irgendwann im Juli 1979 auf die Erde stürzen würde. Auch der Ort des Einschlags war schwer zu prognostizieren – alle Regionen zwischen 50 Grad nördlicher und südlicher Breite lagen im Bereich der Umlaufbahn. Die NASA wurde nicht müde zu betonen, dass drei Viertel dieses Gebiets Ozeanfläche oder unbewohntes Land waren. Doch im Gefahrengebiet lagen auch zahlreiche Millionenstädte, und es war klar, dass die tonnenschweren Reste der Station mit einer Geschwindigkeit von 500 Stundenkilometern aufschlagen würden.

Deutschlands Süden war von der Warnung betroffen. In Bonn trat der Stab für besondere Lagen zusammen und betrieb Krisenmanagement. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Werthhoven hielt ihre Radarschirme himmelwärts gerichtet, die Technische Universität Braunschweig wertete die Daten aus. Sämtliche Regionen in Skylabs Korridor kamen auf die rote Liste: Baden-Württemberg, Bayern, das Saarland sowie Teile von Rheinland-Pfalz und Hessen. Der Bevölkerung wurde geraten, gewissenhaft Radio zu hören, doch vielen Bürgern war das nicht genug: Keller wurden in improvisierte Schutzbunker verwandelt, Urlaubsreisen in sichere Länder standen hoch im Kurs, die hessische CDU plädierte sogar dafür, schulfrei zu geben und die Kinder in unterirdischen Räumen in Sicherheit zu bringen. Angst ging um, das Ding am Himmel ließ die Menschen nicht mehr ruhig schlafen.

Während in der Thermosphäre das Weltraumlabor weiter auf die Erde zuraste und das zweite Sonnensegel abgerissen wurde, saß 220 Kilometer tiefer ein Mann in seinem Arbeitszimmer. Im Mainzer Ortsteil Bretzenheim war längst schon die Nachtruhe eingekehrt, die Albanus­straße lag da wie ausgestorben, doch der Mann hatte alle Lichter im Zimmer angeknipst. Um ihn herum standen Bücherregale bis zur Decke, auf dem Tisch stapelten sich Blätter, handschriftliche Notizen und kolorierte Zeichnungen. Seine Hand zitterte, während er in einem Magazin einen Artikel las. Immer wieder schlug er das Heft zu und betrachtete das Titelbild, als hoffte er, es würde auf geheimnisvolle Weise verschwinden.

Der Mann überflog die Worte des Artikels nochmals, obwohl er sie in der letzten halben Stunde schon dreimal gelesen hatte. Mit einem Ruck richtete er sich auf.

Jetzt war die Zeit zum Handeln gekommen.