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Auf den
zerbrochenen
Flügeln der Freiheit

Rebecca Michéle

edition oberkassel

Bete für die Ruhe der Seelen der reuigen Magdalen-Frauen

Schweigen breitet sich über den Friedhof aus –

Schweigen über eines der größten Verbrechen der

irischen Geschichte.

Rose

County Kerry, Irland, September 1912

»Es ist nicht nötig, dass ein jeder nach dem Gesetz beurteilt werde, denn wir haben auch Christi Gebot der Liebe.«

William Butler Yeats (1865 - 1939),
irischer Dramatiker, Lyriker, Essayist und Autobiograph,
Nobelpreisträger für Literatur 1923

Lautes Kinderlachen und Rufe drangen bis in den Kreuzgang. Rose liebte die Unbeschwertheit, die Kindern zu eigen war. Ein Lächeln auf den Lippen öffnete sie die Tür, betrat den Klassenraum und rief: »Guten Morgen, Kinder.«

»Guten Morgen, Schwester Rose«, wurde ihr Gruß im Chor erwidert. Fünfzehn Augenpaare sahen sie erwartungsvoll an. Nun waren die Kinder still und standen aufrecht hinter ihren jeweiligen Pulten. Rose trat vor sie und legte die Hände aufeinander. Die Kinder taten es ihr gleich, dann sprachen sie zusammen das Morgengebet: »Mein Gott, ich bete dich an und ich liebe dich aus ganzem Herzen. Ich danke dir, dass du mich erschaffen hast, dass ich Christ sein darf und dass du mich in dieser Nacht beschützt hast …«

Während der letzten Worte wurde die Tür aufgerissen und Rose brach ab. Ein Junge stolperte herein und sagte mit hochrotem Kopf: »Verzeihen Sie, Schwester.«

»Guten Morgen, Freddy, ich hatte dich bereits vermisst«, antwortete Rose sanft. »Geh zu deinem Platz und lasst uns das Gebet zu Ende sprechen.«

Nach dem Amen setzten sich die Kinder und nahmen ihre Schiefertafeln aus den Pulten. Rose betrachtete Freddy, den Jungen, der sich verspätet hatte, ohne dass er es bemerkte. Er war übermüdet, seine Augen dunkel umschattet, und er hatte Mühe, sie überhaupt offen zu halten. Freddy war zwölf Jahre alt, dabei kaum größer und kräftiger als ein Achtjähriger. Vor zwei Jahren war sein Vater, wenige Wochen später sein älterer Bruder nach Amerika ausgewandert. So war Freddy nun der Älteste von fünf Kindern, die seine Mutter satt bekommen musste. Ihr kleiner, ärmlicher Hof warf kaum etwas ab, und Rose wusste, dass Freddy jeden Morgen lange vor Sonnenaufgang aufstand, die Hühner fütterte, die Eier einsammelte, die einzige Kuh molk und die Ställe ausmistete. Trotzdem bestand seine Mutter darauf, dass er regelmäßig die Klosterschule besuchte, denn Freddy sollte die Möglichkeit haben, eines Tages etwas Besseres als Bauer zu werden, was nur mit einer guten Schulausbildung möglich war.

Während die Kinder auf den Tafeln eine von Rose gestellte Rechenaufgabe lösten, trat Rose neben Freddy und fragte leise: »Hast du heute schon gefrühstückt?« Der Junge schüttelte den Kopf. Rose seufzte. »Komm nach dem Unterricht mit in die Küche. Ich bin sicher, dort werden wir was für dich finden.«

Freddys Augen leuchteten auf, und er nickte erleichtert. Kinder wie ihn gab es zuhauf in der Gegend. Die Zeiten waren hart, die Landbevölkerung litt unter Unwettern und dadurch bedingten Missernten, die hier, nahe dem Ring of Kerry, häufig auftraten. Da die meisten Bauern das Land von den großen Herrengütern nur gepachtet hatten, mussten sie ihre Abgaben leisten, und die Herren interessierte es nicht, ob den Pächtern etwas zum Leben übrig blieb. In den letzten Jahrzehnten hatte es in Irland zwar keine so große Hungersnot wie siebzig Jahre zuvor mehr gegeben, dennoch kämpfte die einfache Bevölkerung täglich ums Überleben. Die Böden waren karg, die Natur rau, beständig den Winden des Atlantiks ausgesetzt.

Rose verteilte an die älteren Schüler Bücher, deren Einbände durch jahrelangen Gebrauch abgegriffen waren, und wies die Jüngeren an, das Vaterunser in Schönschrift auf die Schiefertafeln zu schreiben. In der hinteren Reihe war ein Platz unbesetzt geblieben, und Rose fragte einen der älteren Jungen: »Daniel, wo ist deine Schwester?«

»Rachel ist gestern zwölf Jahre alt geworden, Schwester.«

Rose lächelte und meinte: »Dann hat sie wohl zu viel vom Geburtstagskuchen genascht, sich den Magen verdorben und kann deswegen nicht in die Schule kommen.«

Daniel errötete und senkte verlegen den Kopf.

»Nein, Schwester. Rachel wird nicht mehr zum Unterricht erscheinen. Unser Pa meint, für ein Mädchen hat sie mehr als genug gelernt, jetzt muss sie sich auf die Dinge vorbereiten, die sie braucht, wenn sie heiratet.«

»Heiraten?«, rief Rose entsetzt. »Damit wird sich Rachel hoffentlich noch lange Zeit lassen.« Rose wusste, sie musste sich beherrschen, auch wenn es sie ärgerte, wenn intelligenten und aufgeweckten Kindern das Lernen verwehrt wurde, nur weil sie Mädchen waren. »Ich werde mit eurem Vater sprechen.«

Daniel schüttelte den Kopf.

»Bitte nicht, Schwester, es würde nichts ändern und uns nur Schaden zufügen. Pa ist unser Familienoberhaupt, sein Wort ist Gesetz, und er hat entschieden, dass Rachel keine weitere Zeit mehr in der Schule verschwenden soll.«

Rose wandte sich ab. Es gab so vieles, was sie zu diesem Thema hätte sagen können, die Kinder aber waren die falschen Ansprechpartner. Um Rachel tat es ihr leid. Das Mädchen war außergewöhnlich intelligent, lernbegierig und ihrem Alter weit voraus. Rose hatte gehofft, sie könnte eine weiterführende Schule, vielleicht sogar eine Universität besuchen, denn als Kaufmann war Rachels Vater durchaus in der finanziellen Lage, seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen.

Während sich die Schüler ruhig und konzentriert den ihnen gestellten Aufgaben widmeten, holte Rose Papier, Feder und Tinte aus dem Pult und schrieb einen kurzen Brief an Daniels und Rachels Vater. Darin schilderte sie Rachels Fähigkeiten und bat, die Entscheidung, das Mädchen von der Schule zu nehmen, zu überdenken. Nach Schulschluss wollte sie Daniel den Brief mitgeben.

Die Schule des Klosters Saint-Mary-in-the-Field in der Nähe der kleinen Stadt Kenmare war die einzige im Umkreis von zwanzig Meilen, in der Kinder kostenlos unterrichtet wurden, ohne selbst in das Kloster eintreten zu müssen.

»Es ist unsere Pflicht, Gottes Wort so früh wie möglich zu verkünden und die Eltern zu unterstützen, die Kinder zu gottesfürchtigen Menschen zu erziehen.«

Diese Aussage tätigte die Mutter Oberin bei jeder sich ihr bietenden Gelegenheit, und Rose war dankbar, die Kinder unterrichten zu dürfen. Vor fünfundzwanzig Jahren war sie als Säugling an der Klosterpforte gefunden worden. Niemand wusste, wer ihre Eltern waren und woher sie kam, und Rose hatte im Kloster liebevolle Aufnahme gefunden. Mit sechzehn Jahren nahm sie den Schleier und legte den Schwur ab, als Braut Christi Gott lebenslang zu dienen. Ihre Wissbegierde war grenzenlos. Wie ein Schwamm sog sie alles auf, das sie lernen konnte, und war glücklich, einen Teil ihres Wissens an die Kinder weitergeben zu können. Ihrem Glauben gemäß lebte Rose nach den Gesetzen und Riten der katholischen Kirche – für sie die einzig wahre Kirche auf der Welt.

Der Vormittag verlief ohne Störungen. Kaum hatte die Glocke zur zwölften Stunde und damit zum Unterrichtsende geläutet, packten die Kinder ihre Sachen ein und stoben davon. Rose wusste, die meisten von ihnen durften am Nachmittag nicht spielen, sondern mussten ihren häuslichen Pflichten nachkommen. Gerade jetzt zur Erntezeit arbeiteten die Kinder bis Sonnenuntergang auf den Feldern, um ihre Familien zu unterstützen. Sie gab Daniel den Brief, der ihn skeptisch betrachtete und meinte: »Vater wird nicht erfreut sein.«

»Das ist eine Sache, die nicht dich betrifft«, antwortete Rose. »Bitte händige das Schreiben deinem Vater aus.«

»Selbstverständlich, Schwester.« Daniel würde es nicht wagen, die Anordnung einer Nonne zu missachten, auch wenn er wusste, dass Roses Bitte vergeblich war.

Freddy war an der Tür stehen geblieben und sah Rose erwartungsvoll an. Sie erinnerte sich an ihr Versprechen.

»Komm, wir gehen in die Küche.«

Die Küche war menschenleer, denn die Nonnen aßen nicht zu Mittag, sondern verbrachten diese Zeit in der Kapelle. Rose würde zu spät zum Gebet kommen. Egal, der Junge war jetzt wichtiger. Freddy war vor Hunger so schwach, dass sie befürchtete, er würde jeden Moment zusammenbrechen.

Von einem Laib Weißbrot schnitt Rose zwei Scheiben ab, beschmierte sie fingerdick mit der goldgelben Butter, die im Kloster selbst hergestellt wurde, und ließ einen Löffel goldenen Honigs darauf tropfen. Freddy lief das Wasser im Mund zusammen. Herzhaft, aber nicht gierig, biss er hinein und vertilgte die Brotscheiben binnen weniger Augenblicke. Gerade als Rose eine dritte Scheibe abschneiden wollte, öffnete sich die Tür und eine Schwester trat ein.

»Schwester Rose, was tun Sie hier? Warum sind Sie nicht beim Gebet?«

Schwester Bernadette blickte vorwurfsvoll auf den Jungen, und Freddy senkte schuldbewusst den Kopf.

»Der Junge hat heute noch nichts gegessen.« Rose sah ihre Mitschwester offen an. Sie war sich einer Rüge bewusst, das glückliche Lächeln Freddys machte eventuelle Unannehmlichkeiten wett. »Ich habe mir erlaubt, ihm ein Brot zu geben.«

Schwester Bernadette runzelte verärgert die Stirn.

»Sie wissen, dass das nicht erlaubt ist. Ich werde es der Mutter Oberin melden müssen.« Sie wandte sich an den Jungen. »Und du gehst jetzt ganz schnell! Sieh zu, dass dich niemand sieht.«

Artig bedankte sich Freddy und huschte zur Tür. Rose, die ihn aus dem Augenwinkel beobachtete, sah, wie er hastig noch zwei Äpfel vom Tisch nahm und in seine Jackentasche steckte. Sie konnte es ihm nicht verübeln, außerdem gab es hier ausreichend Lebensmittel. Die Schwestern von St Mary lebten zwar nicht im Überfluss, Rose hatte aber noch nie Hunger leiden müssen. Hinter Schwester Bernadette verließ sie die Küche und folgte der Älteren in die Kapelle. Dort verharrte Rose im stillen Gebet und bat die Mutter Maria um Beistand für die Armen und Kranken.

Zwei Tage später wurde Rose zur Mutter Oberin gerufen.

»Gegrüßt sei Jesus Christus«, sagte sie und senkte demutsvoll den Kopf, als sie deren Arbeitszimmer betrat.

»In Ewigkeit Amen«, vollendete die Mutter Oberin. »Setz dich bitte, Rose.«

Die Leiterin von Saint-Mary-in-the-Field war die Einzige, die Rose duzte. Sie selbst hatte das Baby damals vor der Tür gefunden und entschieden, das Mädchen im Kloster zu behalten und nicht einem Waisenhaus zu übergeben.

Die Mutter Oberin sah Rose ernst an und sagte: »Mir wurde eine Beschwerde über dich vorgebracht.«

Rose runzelte die Stirn und fragte: »Eine Beschwerde? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«

Die Mutter Oberin nahm ein beschriebenes Blatt zur Hand. Rose erkannte ihren Brief an Rachels Vater und ahnte, was nun kommen würde.

»Mr O’Flannigan suchte mich heute Morgen auf. Er verbietet sich eine Einmischung in seine Familienangelegenheiten.«

»Es ist falsch, Rachel aus der Schule zu nehmen«, entgegnete Rose. »Sie ist ein sehr intelligentes Mädchen, und ich wollte nur …«

Mit einer unwilligen Handbewegung schnitt ihr die Mutter Oberin das Wort ab.

»Rose, ich weiß, dass du es gut gemeint hast, der weitere Lebensweg Rachels ist allerdings die Angelegenheit ihres Vaters. Einzig er ist für seine Kinder verantwortlich. Solange ihre christliche Erziehung nicht infrage gestellt wird, haben wir kein Recht, dem Mann Vorschriften zu machen. Dein Verhalten war eigenmächtig und selbstgefällig. Nicht zum ersten Mal mischst du dich in Vorgänge ein, die dich nicht zu interessieren haben. Das verstößt gegen die Gebote Gottes.«

Betroffen senkte Rose den Kopf und murmelte: »Ich sehe ein, dass der Brief falsch war. Ich werde im Gebet um Verzeihung bitten.«

»Die Welt ist voller Sünder, die es gilt, auf den rechten Weg zu bringen«, sagte die Mutter Oberin belehrend. »Mädchen und Frauen sind besonders gefährdet, sich in einem sündigen Leben zu verlieren. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Mädchen Mathematik, Geschichte oder gar Fremdsprachen zu lehren, mit denen sie später in der Ehe nichts anfangen können, sondern wir wollen sie zu verantwortungsvollen Müttern heranbilden, die ihre eigenen Kinder im Sinne der Kirche erziehen. Mit zwölf Jahren ist Rachel alt genug, sich auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter vorzubereiten. Du weißt genau, Rose, dass erst der Vater oder, wenn dieser nicht mehr am Leben ist, der älteste Bruder und später der Ehemann über das Leben einer Frau entscheidet. Der Versuch, in diese Tradition einzugreifen, ist anmaßend und entspricht nicht den Leitmotiven dieser Schule.«

»Gerade Rachel …« Rose konnte die Worte nicht zurückhalten. »Sie lernt gern und gut, sie könnte etwas anderes machen als nur zu heiraten, vielleicht sogar studieren …«

»Genug, Rose!« Es hätte nicht viel gefehlt, und die Mutter Oberin hätte mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Ihre Augen funkelten zornig. »Es ist eine Unsitte, die immer mehr um sich greift, die Universitäten auch für Frauen zu öffnen. Gerade dort werden sie verdorben und geraten in Kreise, die alle Moralvorstellungen missachten. Willst du dafür verantwortlich sein, dass sich ein braves Mädchen wie Rachel den Weg ins Himmelreich verbaut?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Dann überdenke beim nächsten Mal dein Tun, bevor du handelst. Ich hoffe, ich habe dir meinen Standpunkt klargemacht?«

»Ehrwürdige Mutter, ich habe verstanden.«

Die Mutter Oberin war noch nicht fertig. Von den zweiundzwanzig Nonnen des Klosters stand Rose ihr zwar am nächsten, trotzdem hatte sie ein besonderes Augenmerk auf Rose. Die junge Nonne entglitt allmählich ihrem Einfluss, entwickelte eigene Gedanken und verstieß immer wieder gegen die Regeln des Konvents.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du Bauernkinder in die Küche bringst und ihnen von unserem Essen gibst«, fuhr sie fort.

»Den kleinen Freddy, richtig«, gab Rose zu und sah die Mutter Oberin offen an. »Er hatte an diesem Tag noch nichts gegessen, und ich befürchtete, er könnte vor Hunger jeden Moment ohnmächtig werden.«

»Wir sind keine Armenspeisung«, antwortete die Mutter Oberin streng. »Mit dem kostenlosen Unterricht tun wir bereits viel Gutes für die Bauern. Wenn wir anfangen, sie auch noch durchzufüttern, werden sie es nicht mehr für nötig halten, selbst für ihre Nahrung zu arbeiten.«

Heftiger Widerspruch regte sich in Rose. Nur mühsam beherrscht entgegnete sie: »Die Kinder können nichts dafür, wenn ihre Eltern arm sind. Es ist unsere christliche Pflicht, einem jeden zu helfen, und wir haben immer Essen übrig …«

»Es reicht, Rose!« Die Freundlichkeit war aus dem Gesicht der Mutter Oberin gewichen. »Dein andauernder Widerspruch und deine Bemühungen, die Welt verändern zu wollen, widersprechen allem, was dich das Kloster gelehrt hat. Gott hat jeden Menschen auf dieser Welt auf seinen vorgesehenen Platz gestellt, und ER sorgt für sie. Der Versuch, allein der Gedanke, in Gottes Willen einzugreifen, ist nicht nur anmaßend, sondern Blasphemie.«

Rose erbleichte. So zornig, beinahe böse, hatte sie die Mutter Oberin nie zuvor erlebt, trotzdem konnte sie deren Meinung nicht teilen. Das Leben im Kloster hatte sie gelehrt, der Äbtissin niemals zu widersprechen, darum senkte sie den Kopf und wiederholte reumütig: »Ich bitte um Verzeihung.«

»Bitte nicht mich, sondern Gott und die Jungfrau Maria, dir deine Anmaßung zu vergeben und dir zu helfen, auf den rechten Weg zurückzufinden. Rose, auch wenn dein Verhalten falsch war, erkenne ich in deinem Handeln deinen guten Willen und schätze durchaus dein Mitgefühl für die Armen. Aus diesem Grund habe ich mit dem Bischof gesprochen, und wir sind zu der Übereinkunft gekommen, dass du künftig an einer Stelle wirken sollst, an der Frauen Hilfe nötiger haben als in unserer ländlichen Beschaulichkeit.«

Roses Herz pochte hart gegen die Rippen, und schweigend hielt sie den Kopf gesenkt. Würde man sie von hier fortschicken? Die nächsten Worte der Mutter Oberin bestätigten Roses Vermutung. »Das Kloster von Saint Stephen der Sisters of Mercy in Dublin ist ein Zufluchtsort für Mädchen und Frauen, die im Leben gestrauchelt sind. Durch sinnvolle Arbeit können sie sich von ihren Vergehen reinwaschen und erhalten so die Möglichkeit, in ein geordnetes, sündenfreies Leben zurückzufinden. Es ist für dich die Möglichkeit, zu erkennen, wie viel in diesem Land für Sünder getan werden muss, damit sie eines Tages mit reiner Seele vor Gottes Angesicht treten können. Es gehört mehr dazu, als Kinder zu füttern oder Familienvätern vorzuschreiben, wie sie ihre Töchter zu erziehen haben. Ich denke, du teilst meine Meinung, Rose?«

»Selbstverständlich, ehrwürdige Mutter.«

Auch wenn Rose wusste, dass es gleichgültig war, wo und auf welche Art sie Gott diente, bei dem Gedanken, Saint-Mary-in-the-Field verlassen zu müssen, wurde ihr Herz schwer. Noch nie hatte sie sich weiter vom Kloster entfernt als bis zu der etwa zwanzig Meilen entfernten Stadt Killarney, und jetzt schickte man sie auf die andere Seite der Insel in die Hauptstadt. Rose verspürte keine Furcht, denn sie wusste, Gott und die Jungfrau Maria würden sie leiten und schützend ihre Hände über sie halten. Sie straffte die Schultern, hob den Kopf und fragte: »Wann soll ich reisen, Mutter?«

Nun lächelte die Oberin wieder wohlgefällig.

»Bereits morgen, Rose. Pater Donnelly aus Kenmare wird dich begleiten, er reist zu einem Treffen mit dem Erzbischof nach Dublin.« Als Rose bereits an der Tür war, rief die Mutter Oberin sie noch einmal zurück. »Ich bin sicher, du wirst in Saint Stephen deine Bestimmung finden, Rose. Die Wäschereien sind die sinnvollsten Einrichtungen, die Irlands Kirche jemals ins Leben gerufen hat.«

Cindy

Dublin, Irland, September 1912

»Wir dürfen nie die Verantwortung für einen Kompromiss übernehmen!«

William Butler Yeats (1865 - 1939),
irischer Dramatiker, Lyriker, Essayist und Autobiograph,
Nobelpreisträger für Literatur 1923

Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen und steigerten sich ins Unerträgliche. Cindy konnte sich nicht länger beherrschen und schrie durchdringlich.

»Ja, schrei du nur! Das ist die Strafe, die Gott den Frauen für ihr sündiges Leben auferlegt hat. Solch schändliche Kreaturen wie du sollten noch viel mehr leiden müssen.«

Die mitleidlosen Worte drangen wie durch einen dichten Nebel zu Cindy. Eine neue Schmerzwelle, schlimmer als alle anderen zuvor, schien ihren Körper in zwei Teile zu spalten. In dem Augenblick, als sie glaubte, das Bewusstsein zu verlieren, spürte sie etwas Warmes und Weiches zwischen ihren Beinen, und der Schmerz ließ rapide nach. Keuchend schnappte Cindy nach Luft, da hörte sie das erst leise, dann immer lauter werdende Quäken eines Kindes. Ihres Kindes! Mühsam stemmte sie sich auf die Unterarme und hob den Kopf.

»Ist es gesund? Was ist es?«

Die Schwester hielt ihr ein nacktes, blutverschmiertes Bündel hin, und Cindys Hände tasteten vorsichtig über den kleinen ­Körper.

»Ein Junge, er ist gesund und kräftig.«

Die Stimme der Schwester klang nach wie vor emotionslos, das Wunder eines neuen Lebens schien sie nicht zu berühren. Cindy kümmerte es nicht. Fasziniert betrachtete sie das kleine Wesen mit dem runden, zerknautschten Gesicht und den winzigen Fingerchen und Zehen.

»Mein Baby«, flüsterte sie, und die Schwester legte ihr das Kind an die Brust. Der kleine Mund wusste sofort, was zu tun war. Nie zuvor in ihrem Leben hatte Cindy ein solches Glücksgefühl gespürt wie jetzt, da sich die Lippen um ihre Brustwarze schlossen und zu saugen begannen. Viel zu schnell nahm ihr die Schwester das Kind wieder ab.

»Wir werden es waschen und wickeln. Du musst jetzt schlafen und dich erholen.«

Cindy war zu schwach, um zu protestieren. Die Wehen hatten sich über dreißig Stunden hingezogen, und jetzt befiel sie eine bleierne Müdigkeit. Später würde sie sich um ihr Baby kümmern. Später war noch viel Zeit dafür …

Als Cindy erwachte, fühlte sie sich ausgeruht und außer einem wunden Gefühl zwischen den Beinen hatte sie keine Schmerzen mehr. Neben ihrem Bett saßen eine sehr korpulente Nonne und ein Priester. Cindys Blick irrte in dem karg eingerichteten Krankenzimmer umher.

»Wo ist mein Baby?«

»Die Schwestern kümmern sich um den Jungen.« Der Priester legte eine Hand auf Cindys Stirn und sah ihr fest in die Augen. »Wir müssen mit dir sprechen. Cindy, so lautet dein Name, nicht wahr?«

»Ja, Vater. Cindy Mallory, ich komme hier aus Dublin.«

»Ich bin Pater O’Sullivan, das ist Schwester Cecilia, die Äbtissin von Saint Stephen. Wir sind gekommen, um dir zu helfen, Cindy.«

Seine Stimme war leise und freundlich, und Cindy sah ihn erwartungsvoll an. Für einen Priester sah Pater O’Sullivan ungewöhnlich gut aus. Er war groß, hatte breite Schultern, dunkles, an den Schläfen ergrautes Haar und braune Augen, die von einem Kranz dichter schwarzer Wimpern umgeben waren. Unwillkürlich dachte Cindy, dass es schade war, einen solch attraktiven Mann an die Kirche zu verlieren. Bei seinem Anblick schlug sicher manches Frauenherz höher. Auch Schwester Cecilia war hochgewachsen, dabei so dick, dass Cindy befürchtete, der Stuhl könnte unter ihr zusammenbrechen. Ihre wasserhellen Augen lagen zwischen Fettschichten, und zwei Doppelkinne wölben sich über dem Kragen ihres Habits.

»Kann ich mein Baby sehen?« Sie sah den Pater bittend an, denn die Äbtissin rief in Cindy ein unangenehmes Gefühl wach. »Ich möchte ihn Liam nennen, nach seinem Vater.«

Cindy spürte einen dicken Kloß im Hals. Die Geburt ihres Kindes war die bisher glücklichste und zugleich traurigste Erfahrung in den dreiundzwanzig Jahren ihres Lebens.

»Damit sind wir beim Thema.« Zum ersten Mal ergriff Schwester Cecilia das Wort. Ihre Stimme war tief, fast schon männlich. »Uns wurde gesagt, du hättest keine Familie und das Kind keinen Vater.« Ihre Mundwinkel zogen sich herunter.

»Schwester, ich weiß, ich habe gesündigt, als ich mich mit einem Mann einließ, der nicht mein Ehemann war«, erwiderte Cindy aufrichtig. »Liam und ich wollten heiraten, da bekam er das Angebot, auf einer großen Werft in Amerika zu arbeiten, wo er sehr viel mehr verdienen konnte als in Irland. Er musste sofort abreisen.« Mit dem Handrücken wischte sich Cindy die Tränen aus dem Gesicht. Die Erinnerung an den Mann, den sie liebte, überwältigte sie.

»Warum hat er dich nicht geheiratet und nach Amerika mitgenommen?« Scharf stellte Schwester Cecilia die Frage.

»Liams Gespartes reichte nur für eine Fahrkarte«, antwortete Cindy. »Er wollte hart arbeiten und mir Geld schicken, damit ich so schnell wie möglich nachkommen kann.«

»Er hat dich verlassen, obwohl du ein Kind erwartet hast?« Der Pater zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. »Wahrscheinlich war er froh, dich und das Kind nicht als Klotz am Bein mitschleppen zu müssen«, ergänzte Schwester Cecilia.

»So einer war Liam nicht!«, widersprach Cindy. »Er wusste nichts von meiner Schwangerschaft. Als er ging, war ich selbst noch nicht sicher. Ich habe ihm absichtlich nichts gesagt, denn dann wäre Liam bestimmt nicht gefahren. Die einmalige Chance auf einen Neubeginn in Amerika wollte ich ihm nicht nehmen.«

»Und warum bist du dann immer noch hier?«, fragte Schwester Cecilia verächtlich. »Inzwischen sind Monate vergangen, genügend Zeit, um dich nachkommen zu lassen. Ich nehme an, du hast von deinem Liam nie wieder etwas gehört. Ist es nicht so?«

»Nein, Schwester, so ist es nicht.« Cindy schluckte schwer. Sie wollte nicht wieder weinen, denn sie hatte alle Tränen, die ein Mensch haben kann, bereits vergossen. Ruhig, als gebe sie lediglich einen Bericht der Zeitung wieder, fuhr sie fort: »Liams Fahrkarte galt für die dritte Klasse auf dem Schiff Titanic, das am elften April dieses Jahres von Queenstown in der Grafschaft Cork auslief.«

Der Pater und die Nonne tauschten einen vielsagenden Blick, in den Augen des Priesters glomm ein Funken Mitleid.

»Trotzdem hast du eine große Sünde begangen, indem du mit einem Mann das Bett geteilt hast, ohne dass eure Verbindung von Gott gesegnet war.« Schwester Cecilias Blick bohrte sich in Cindys Augen. »Da ich annehme, dass du von diesem Ausrutscher abgesehen eine gute Katholikin bist und nicht auf ewig im Fegefeuer schmoren willst, werden wir dir helfen, Gott um Verzeihung zu bitten.«

Cindy nickte. Ihre Eltern waren gestorben, als sie noch ein Kind gewesen war. Jahrelang war sie bei Tanten und Onkeln aufgewachsen, wurde von einem zum anderen geschoben, bis sie vor vier Jahren in einer Dubliner Schenke eine Stellung in der Küche erhalten hatte. Ihren einzigen Bruder hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, Cindy wusste nicht, wo er sich aufhielt und ob er überhaupt noch am Leben war. In der Schenke hatte sie Liam kennengelernt, und zum ersten Mal in ihrem Leben bekam Cindy eine Vorstellung davon, wie es sein könnte, ein richtiges Zuhause und eine eigene Familie zu haben. Nach Liams Tod hatte einzig die Gewissheit, einen Teil von ihm unter dem Herzen zu tragen, sie vor der Verzweiflung bewahrt. Für das Kind musste sie weiterleben und ihm später von seinem Vater erzählen. Der Wirt hatte sie hinausgeworfen, als ihre Schwangerschaft sichtbar wurde, und Cindy hatte sich den Sommer über irgendwie durchgeschlagen. Als die Wehen einsetzten, hatte sie sich mit letzter Kraft in das Hospital geschleppt. Wohin sie jetzt mit ihrem Baby gehen sollte, wusste sie nicht.

Zu den Verwandten hatte sie keinen Kontakt mehr. Diese würden eine ledige Mutter mit einem Säugling ohnehin nicht bei sich aufnehmen.

»Schwester Cecilia steht einer Einrichtung vor, in der sündigen Frauen und Mädchen die Möglichkeit zur Rückkehr in ein ehrbares Leben geboten wird«, riss sie Pater O’Sullivan aus ihren Gedanken. »Dort kannst du arbeiten und dich von der schweren Schuld, die auf deinen Schultern lastet, befreien.«

»Was ist mit meinem Baby?«, fragte Cindy besorgt. »Kann es bei mir bleiben?«

»Das ist unmöglich, wir sind für Kleinkinder nicht eingerichtet«, erklärte Schwester Cecilia. »Für den Jungen wird gut gesorgt. Er kommt in die Obhut gottesfürchtiger Leute, die sich um ihn kümmern werden. In ein paar Monaten kannst du mit ihm zusammen ein neues Leben beginnen.«

Entspannt lehnte sich Cindy zurück.

Ja, das war eine Möglichkeit, auch wenn die Vorstellung, sich von ihrem Kind trennen zu müssen, ihr beinahe das Herz zerriss. Es würde ja nur für eine kurze Zeit sein, nur so lang, bis sie ihr Leben geregelt und eine Stellung gefunden hatte, mit der sie sich und ihren Jungen ernähren konnte. Cindy hatte keine großen Ansprüche, sie war immer arm gewesen und hatte gelernt, auch mit Wenigem auszukommen.

»Die Plätze in der Einrichtung sind allerdings begrenzt.« Die Stimme des Paters bekam einen beschwörenden Unterton. »Daher musst du dich sofort entscheiden, ob du das großzügige Angebot annehmen willst. Ich habe die entsprechenden Papiere bereits vorbereitet.«

Aus einer Aktentasche holte er einen eng beschriebenen Bogen Papier, Feder und Tinte und legte es auf den Nachttisch neben Cindys Bett. Sie atmete tief durch und unterschrieb das Dokument, ohne den Text durchzulesen.

Sie hatte nur unzureichend Lesen und Schreiben gelernt, und was die Kirche verfasste, war ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Der Pater und Schwester Cecilia hatten ihr zugesichert, bald wieder mit ihrem Kind zusammen zu sein. Cindy sah keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln, schließlich waren sie ja Vertreter Gottes auf Erden.

Kaum hatte sie unterschrieben, packte Pater O’Sullivan das Schriftstück wieder ein. Er und die Schwester erhoben sich gleichzeitig. Sie hatten es plötzlich eilig, das Krankenzimmer zu verlassen.

»Sobald du dich kräftig genug fühlst, wird eine Schwester dich abholen und zu uns bringen.« Die Äbtissin warf einen letzten Blick auf Cindy. »Ich schlage vor, in fünf Tagen.«

Cindy nickte und schöpfte Hoffnung, ihrem Sohn bald eine gesicherte Zukunft bieten zu können.

Zwei Tage später suchte Pater O’Sullivan in Begleitung eines Ehepaars in eleganter Kleidung das Magdalenkloster Saint Stephen am nördlichen Stadtrand auf. Unverzüglich wurden die drei Besucher ins Arbeitszimmer der Äbtissin geführt. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, nahm die Mutter Oberin einen Säugling aus einem Körbchen und legte ihn der Frau in die Arme.

Tränen der Freude traten ihr in die Augen, und sie flüsterte: »Er ist wunderschön! So klein und zierlich. Ach, Schwester, ich weiß nicht, wie sehr wir Ihnen danken können.«

Die Äbtissin lächelte verständnisvoll und erwiderte: »Der Junge ist gesund und wird Ihnen viel Freude bereiten.«

Der Mann nickte und fragte: »Die Mutter hat ihn einfach so hergegeben? Unvorstellbar, wie sich eine Frau von ihrem eigen Fleisch und Blut trennen kann.«

»So sind sie eben, die armen Leute.« Verachtung schwang in Pater O’Sullivans Stimme. »Der Junge ist das elfte Kind einer Arbeiterfamilie, die nicht weiß, wie sie die anderen zehn satt bekommen soll. Die Mutter war heilfroh, das Kind zur Adoption zu geben. Alle Papiere sind unterschrieben. Die Frau weiß, dass der Junge bei Ihnen ein gesichertes Leben haben und zu einem guten Katholiken erzogen werden wird.«

Der Herr nickte zustimmend und meinte: »Wir sind sehr traurig, dass Gott uns eigene Kinder verwehrt, obwohl meine Frau und ich täglich zur Jungfrau Maria beten und jeden Sonntag eine Messe lesen lassen. Nun haben wir die Möglichkeit, einem armen ungewollten Wurm ein anständiges und gottgefälliges Leben zu bieten. Obschon fünfhundert Pfund eine hübsche Stange Geld sind.«

Schwester Cecilia verbarg ihren Unwillen über diese versteckte Kritik und lächelte gütig. »Wie bereits erwähnt, handelt es sich um sehr arme Leute. Mit Ihrer großzügigen Spende ermöglichen Sie den anderen zehn Kindern ein menschenwürdiges Leben und eine gute Ausbildung.«

»Ach, William, fang jetzt bitte nicht an zu feilschen!«, rief die Frau dazwischen. »Sieh, wie entzückend der Kleine ist! Da sollte es dir auf ein paar Pfund nicht ankommen.«

»Du hast recht, Liebes.«

Der Herr zog seine Brieftasche heraus und legte die bereits abgezählten Banknoten auf den Schreibtisch der Äbtissin, dann erhoben sich er und seine Frau und verließen mit dem Baby das Kloster.

Kaum waren sie fort, holte Pater O’Sullivan aus einem Schrank eine Flasche Likör und zwei Gläser. Er schenkte ein und stieß mit der Mutter Oberin an, dann zählte er von den fünfhundert Pfund dreihundert ab und steckte sie in seine Tasche.

»Es ist immer wieder schön, mit Ihnen Geschäfte zu machen, ehrwürdige Mutter. Nur gut, dass die Sünde nicht ausstirbt und wir kinderlosen, vermögenden Paaren zu etwas Glück verhelfen können.«

Die Äbtissin genehmigte sich einen weiteren Likör, dann sagte sie: »Und ich habe stets genügend Arbeitskräfte für meine Wäscherei. Auf eine weitere gute Zusammenarbeit, Pater O’Sullivan.«

Fiona

Dalkey, County Dublin, Irland, September 1912

»Zu lange Opfer zu bringen, kann ein Herz versteinern.«

William Butler Yeats (1865 - 1939),
irischer Dramatiker, Lyriker, Essayist und Autobiograph,
Nobelpreisträger für Literatur 1923

Die Augen weit geöffnet, sagte sie inbrünstig: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … Amen.«

Fiona FitzGibhann bekreuzigte sich drei Mal hintereinander und erhob sich von ihren Knien. Eine einzelne Kerze warf flackernde Schatten auf das Bildnis der Jungfrau Maria, und Fiona war es, als blicke die Mutter Gottes sie vorwurfsvoll an.

»Ach, Maria, ich liebe ihn so sehr!«, sagte Fiona zu dem Ölbild. »Es kann doch keine Sünde sein, seinem Herzen zu folgen.«

Ja, sie war dabei, gegen das vierte Gebot Du sollst Vater und Mutter ehren zu verstoßen. Wenn der Wille ihres Vaters bedeutete, dass sie für immer auf die wahre Liebe verzichten musste, dann würde Gott bestimmt verstehen, dass sie ihrem Herzen folgen musste. Mit ihrer Entscheidung tat sie niemandem ein Leid an. Fiona war sicher, wenn erst einige Zeit vergangen war, würde ihr Vater einsehen, dass sie den richtigen Weg gewählt hatte. Sie war schließlich seine einzige Tochter, und er liebte sie.

Sie blickte zu dem auf der Frisierkommode stehenden kleinen Portrait ihrer Mutter. Die zarte Frau war wenige Tage nach Fionas Geburt im Kindbett gestorben, dennoch fühlte sich Fiona mit ihrer Mutter eng verbunden. Äußerlich bestand eine große Ähnlichkeit: Fiona hatte das gleiche rotblonde Haar, die helle Haut, die bei Sonneneinstrahlung zu Rötungen und Sommersprossen neigte, und die großen grünen Augen, das Schönste in ihrem schmalen Gesicht. Seit Jahren hatten der Vater und die älteren Brüder die Mutter nicht mehr erwähnt. Fiona aber sprach täglich zu ihr und fühlte, dass die Mutter aus dem Himmel auf ihre Tochter nieder sah und ihre Hand schützend über sie hielt.

Das Schuldgefühl, das tun zu müssen, zu dem sie sich entschlossen hatte, plagte sie gegenüber der toten Mutter mehr als gegenüber der Jungfrau Maria und Gott. Sie war eine gläubige Katholikin, so wie alle Generationen der FitzGibhanns. Ihr drei Jahre älterer Bruder Collum war Priester und stand einer kleinen Pfarrgemeinde in den Wicklow Mountains vor, nicht weit vom Herrenhaus entfernt.

Ihr Vater achtete streng auf die Einhaltung der katholischen Riten. Die Familie und das gesamte Personal mussten sich jeden Morgen pünktlich um sieben Uhr in der kleinen Hauskapelle einfinden, wo Fionas Vater selbst die Andacht abhielt. Adam FitzGibhann war der reichste und mächtigste Großgrundbesitzer der Gegend, FitzGibhann Hall ein weitläufiges, herrschaftliches Haus, in dem kein Luxus fehlte. Die FitzGibhanns gehörten seit vier Generationen zur anglo-irischen Adelsklasse. Damals hatte sich Seamus Gibhann, ein irischer Aristokrat, mit der englischen Besatzung arrangiert und an der Seite der Miliz gegen aufständische Iren gekämpft. Als Dank dafür durften er und seine Nachkommen nicht nur weiterhin im katholischen Glauben leben, er erhielt auch Landbesitz südlich von Dublin und die Berechtigung, unter britischer Herrschaft den Titel eines Lords zu führen, damals eine übliche Vorgehensweise, mit deren Hilfe es den Briten gelungen war, das Land ihrer Knechtschaft zu unterwerfen. Als Zeichen für seine Treue gegenüber der britischen Regierung setzte Seamus ein Fitz vor seinen Namen.

Fiona griff nach der kleinen, bereits gepackten Tasche, löschte die Kerze und verließ ihr Zimmer, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ob sie jemals nach FitzGibhann Hall zurückkehren und den Vater und die Brüder wiedersehen würde, war ungewiss, aber nicht hoffnungslos. Die Entscheidung, mit allem zu brechen, hatte sie sich nicht leicht gemacht, und schon morgen um diese Zeit würde sie Braedens Frau sein. Dann war ihr Platz an der Seite des Mannes, den sie mehr liebte als alles andere – mehr als das herrschaftliche Anwesen, die schönen Kleider, den Schmuck und auch ihre Familie. Im Frühjahr war sie mündig geworden, ihr Vater konnte die Vermählung mit Braeden nicht länger verbieten. Vielleicht, wenn Zeit vergangen war und sie und Braeden ein Kind hatten, würde der Vater ihr verzeihen können, wenn sie ihm seinen Enkel in die Arme legte.

Eine Uhr im Haus schlug die elfte Abendstunde, als Fiona unbemerkt aus der Tür huschte. So schnell es ihr enger Rock zuließ, schritt sie die lange, mit Hecken gesäumte Auffahrt zum Haupttor hinunter. Erst als aus dem Schatten der Bäume eine große, breitschultrige Gestalt in ihren Weg trat, wich ihre Beklemmung.

»Braeden!«

Erleichtert ließ sie sich in seine Arme ziehen und erwiderte seine zärtlichen Küsse.

»Hat dich jemand gesehen?«, fragte der junge Mann und sah in Richtung des Hauses. Fiona schüttelte den Kopf.

»Vater und Shane sind vor einer Stunde zu Bett gegangen. Collum hat uns nach dem Abendessen verlassen und ist ins Pfarrhaus zurückgekehrt.«

Vertrauensvoll schmiegte sie ihre Finger in seine kräftige und von Schwielen durchzogene Hand. Das fahle Licht des Halbmondes warf Schatten auf sein Gesicht. Zweifelnd sah er Fiona an und fragte mit rauer Stimme: »Bist du dir völlig sicher, dass du mit mir gehen willst, mein Liebling? Mit mir, dem mittellosen Sohn eines Fischers, der tagtäglich hart und unermüdlich für sein Essen arbeiten muss? Wir gehen ins Ungewisse, ich kann dir nichts bieten …«

»Du schenkst mir deine Liebe«, unterbrach Fiona. »Was bedeuten Schmuck und elegante Kleider, wenn man sich wie eine Zuchtstute verkaufen muss? Lieber lebe ich an deiner Seite und erbettle unsere Nahrung, als die Ehefrau von Lord O’Neill zu werden. Der Mann ist alt, hässlich und seine ganze Art ist widerlich. Ich verstehe Vater nicht, dass er mich mit ihm vermählen will, weil er sich von dieser Verbindung finanzielle Vorteile erhofft.«

»Fiona, du weißt ja nicht, wovon du sprichst, du warst niemals arm«, murmelte Braeden und sah Fiona besorgt an, sie blickte voller Vertrauen zu ihm auf. »Dann lass uns gehen, es ist ein langer Weg in die Stadt.«

In der Garage von FitzGibhann Hall stand eines der modernen, pferdelosen Automobile. Beim Schmieden ihres Fluchtplans hatte Fiona vorgeschlagen, mit dem Wagen nach Dublin zu fahren. Braeden hatte dies vehement abgelehnt.

»Es reicht, dass ich die Tochter des Hauses entführe. Ich mache mich nicht zusätzlich strafbar, indem ich ein Automobil stehle.«

Die Nacht war kühl, der Hauch des Herbstes lag in der Luft. Immer wieder zuckte Fiona bei den Geräuschen des Waldes zusammen und schmiegte sich fester an Braeden. Er würde sie vor allen Gefahren dieser Welt beschützen.

Sie kannten sich seit der Kinderzeit. Fiona hatte nie gleichaltrige Freunde aus ihren Kreisen gehabt, ihre Spielkameraden waren immer die Kinder der Umgebung gewesen. Ihr Vater hatte es zwar nicht gern gesehen, wenn sich seine Tochter mit dem Nachwuchs der Pächter und Fischer abgab, letztlich war ihm das Mädchen zu unwichtig, um es ihr zu untersagen. Ständig war sie ihren Erzieherinnen ausgebüxt und hatte sich den Dorfkindern angeschlossen. Dennoch hatte Fiona eine tadellose Erziehung und eine ihrem Stand angemessene Bildung genossen. Braeden, der Sohn eines Fischers aus Dalkey, einem Dorf südlich von Dublin, hatte die drei Jahre jüngere Fiona immer beschützt. Vor einem Jahr entdeckte Fiona, dass sie Braeden gegenüber mehr als nur Freundschaft empfand, und sie war überglücklich, als er ihre Gefühle erwiderte.

Braeden hatte sich lange zurückgehalten, denn Lord FitzGibhann würde einer Verbindung zu einem armen Fischer niemals zustimmen, im Gegenteil. Er hatte für Fiona eine Heirat mit dem zwanzig Jahre älteren Lord O’Neill arrangiert, die Verlobung sollte in vier Wochen sein. Fiona war weder gefragt worden, noch wollte sich der Vater ihre Einwände anhören. Als Braeden von den Hochzeitsplänen erfuhr, hatte er beschlossen, nach Dublin zu gehen und dort eine Arbeit anzunehmen.

»Ich kann nicht hierbleiben und mitansehen, wie du die Frau eines anderen wirst.«

»Ich komme mit dir!«, hatte Fiona spontan gerufen.

»Das ist unmöglich, du gehörst in deine Welt und ich in meine, Fiona.«

Fiona hatte Braeden so lange bedrängt, bis er schließlich bereit war, sie mitzunehmen. In Dublin würden sie Mann und Frau werden, und es war ihr gleichgültig, ob sie künftig in Armut leben musste. Das Einzige, was zählte, war, dass sie und Braeden ihr Leben miteinander verbringen konnten.

Sie kamen gut voran, und der Morgen graute, als sich die ersten Kirchtürme Dublins aus dem nebligen Dunst schälten. Fiona gähnte, sank auf einen Wegstein und massierte sich die schmerzenden Knöchel. Nie zuvor war sie so lange und ohne Pause gelaufen.

»Ich kann nicht mehr, Braeden.«

Er nickte verständnisvoll, sah sich um und deutete auf eine Scheune.

»Wir haben uns eine Rast verdient. Lass uns zwei, drei Stunden schlafen.« Er klopfte auf seine Umhängetasche. »Vater hat mir Brot und Käse eingepackt, du bist sicher hungrig.«

In der Scheune war es warm und duftete nach dem Heu, das bereits eingefahren worden war. Sie bereiteten sich eine Kuhle, ließen sich das dunkle Brot, den Käse und jeweils einen Apfel schmecken, dann kuschelte sich Fiona in Braedens Arme und war binnen Sekunden eingeschlafen. In der aufgehenden Sonne, deren Strahlen durch das kleine Fenster in die Scheune fielen, betrachtete Braeden ihr Gesicht mit der hellen Haut und den vielen Sommersprossen. Es erschien ihm immer noch wie ein Wunder, dass dieses zarte, wunderschöne Geschöpf ausgerechnet ihn liebte, so sehr, dass sie ihr Leben in Luxus und Sicherheit für eine ungewisse Zukunft aufgab und sich den Zorn ihres Vaters zuzog. Lord FitzGibhann war bei den Pächtern wegen seiner harten, unnachgiebigen Art geradezu verhasst. Es kümmerte ihn nicht, wenn die Fische ausblieben oder die Ernten durch Unwetter zerstört wurden. Unbarmherzig forderte er den Anteil, der ihm von Gesetz wegen zustand. Nach dem englischen Gesetz …

Braeden knirschte mit den Zähnen. Es war an der Zeit, Irland den Iren zurückzugeben, und er wollte seinen Beitrag dazu leisten. Er hatte bereits Kontakt zu der Bruderschaft geknüpft und war voller Hoffnung, mit ihrer Hilfe in der Stadt eine gute Anstellung zu erhalten. Von seinen Plänen ahnte Fiona nichts, das war auch besser so. Er war gesund und kräftig und würde jede Arbeit annehmen, die es ihm ermöglichte, Fiona ein Dach über dem Kopf zu bieten und sie beide zu ernähren. Sanft küsste er ihre im Schlaf leicht geöffneten Lippen, dann rückte er von ihrem Körper ab. Bisher hatten sie sich nur geküsst und oberflächliche Zärtlichkeiten ausgetauscht, dabei die Grenze der Schicklichkeit niemals überschritten. Braeden würde Fiona zwar liebend gern körperlich zu seiner Frau machen, seine strenge katholische Erziehung hingegen verbot ein Zusammensein vor der Ehe. Er wollte Fiona erst ganz besitzen, wenn sie von einem Priester rechtmäßig getraut worden waren. Sein Warten hatte nun bald ein Ende, denn schon am Abend dieses Tages würden sie vor Gott Mann und Frau sein. Über diesen Gedanken schlief Braeden ein.

Ein dumpfer Knall und ein Schuss ließen die beiden Liebenden auffahren. Im Umriss der geöffneten Scheunentür standen drei Männer. Einer trug ein Gewehr, aus dem er den Schuss abgegeben hatte. Die Kugel war knapp über Braedens Kopf in einen Balken eingedrungen.

»Vater!« Fiona sprang auf. Ihr Haar und die Kleidung waren von Heu bedeckt. Verächtlich spuckte Lord FitzGibhann vor seiner Tochter aus.

»Hure! Du dreckige, verkommene Dirne!«

»Vater, das ist nicht wahr!«

Fiona machte einen Schritt auf ihren Vater zu. Der wich zurück, als wäre sie der Leibhaftige persönlich. Sie wandte sich an ihre beiden Brüder, die neben dem Vater standen. Shane, der Älteste und Erbe, musterte sie voller Hass, während Collum, der Priester, die Augen senkte und zu Boden blickte.

Braedens Hand legte sich beruhigend auf Fionas zitternde Schulter, er sah Fionas Vater entschlossen an und sagte: »Lord FitzGibhann, es tut mir leid, dass wir diesen Weg gewählt haben. Sie hätten nie zugestimmt, dass ich Ihre Tochter zur Frau nehme. Meine Absichten sind ehrenhaft. Wir werden noch heute heiraten, und ich werde Ihrer Tochter ein guter und treuer Ehemann sein.«

Shanes Faust traf Braeden mitten ins Gesicht. Seine Lippe platzte auf, Blut spritzte, dann schlug Shane ein weiteres Mal mit ganzer Kraft zu. Braeden taumelte, fiel nach hinten, streifte mit seinem Kopf einen Balken und stürzte bewusstlos zu Boden. Blut sickerte ins Heu.

»Du hast ihn umgebracht!« Fiona wollte zu Braeden eilen, aber Shane packte ihre Arme und drehte sie grob auf den Rücken. Sein Griff war wie eine Stahlklammer. Vor Schmerz schrie Fiona auf. Adam FitzGibhann trat vor sie und ohrfeigte sie dreimal hintereinander mit der flachen Hand. Ihr Kopf schien in zwei Teile zu zerspringen. Nie zuvor hatte Fiona den Vater derart außer sich vor Wut erlebt. Für einen Moment fürchtete sie um ihr Leben.

»Ich hätte es wissen müssen.« Er spuckte ihr ins Gesicht. »Du bist genau wie deine Mutter! Du bist eine Hure, wie sie eine Hure gewesen ist.«

Fiona stockte der Atem.

»Wie kannst du so etwas sagen, Vater? Mutter war doch keine …« Das Wort wollte ihr nicht über die Lippen.

Collum trat vor und fragte: »Du hast es ihr nie gesagt, Vater?«

FitzGibhann schüttelte den Kopf.

»Nein, denn ich hoffte, die Verderbtheit und Sünde, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, durch eine anständige christliche Erziehung ausmerzen zu können. Ich hätte sie damals gleich ins Kloster geben sollen, anstatt den Bastard unter meinem Dach zu beherbergen und von meinem Tisch essen zu lassen.«

Fiona fühlte sich wie in einem Albtraum. Was hatten die Worte des Vaters zu bedeuten? Und was war mit Braeden? Er lag, die Augen geschlossen, auf dem Rücken und regte sich nicht mehr. Lebte er noch? Warum war ihre Flucht so schnell entdeckt worden, und wieso hatte die Familie sie hier finden können? Flehend heftete sie ihren Blick auf Collum. Er war nicht nur ihr Bruder, mit dem sie immer ein besseres Verhältnis als zu Shane hatte, sondern auch ein Mann Gottes! Er musste ihr zur Seite stehen!

»Bitte, Collum, erklär mir, was hat das alles zu bedeuten? Ich schwöre bei Gott und der Heiligen Jungfrau, dass ich nie mit Braeden …« Sie brach ab und errötete, und der Vater ohrfeigte sie ein weiteres Mal.

»Bringt sie raus«, befahl er seinen Söhnen.

Shane schleppte sie aus der Scheune und stieß sie auf die Rückbank des Automobils. Fiona wunderte sich, dass weder sie noch Braeden das Motorengeräusch gehört hatten, wahrscheinlich hatten sie beide sehr tief geschlafen.

Tochter

»Ich weiß, ich habe gesündigt, Vater. Es tut mir leid …«

Seine Hand schlug wieder in ihr Gesicht, und Fiona schmeckte Blut.

»Wag es niemals wieder, mich Vater zu nennen! Nie wieder, hörst du? Collum, fahr los.« Adam FitzGibhann gab den Befehl, und Collum startete den Motor.

Fiona glaubte zuerst, man würde sie zurück nach FitzGibhann Hall bringen, dann bemerkte sie, dass Collum die Straße nach Dublin hinein einschlug, auf der nun das morgendliche Leben erwachte.

»Wohin bringst du mich?«, fragte sie heiser.

Lord FitzGibhann drehte sich nicht zu Fiona um, als er mit kalter Stimme antwortete: »An einen Ort, an dem du den Rest deines Lebens verbringen und darüber nachdenken kannst, welche Sünden du begangen hast, bevor du zur Hölle fährst. Ab heute habe ich keine Tochter mehr.«

Resigniert kauerte sich Fiona in das Lederpolster. Sie wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Sie wusste, jedes weitere Wort war sinnlos. Es gab nichts, was das kalte Herz des Vaters, der behauptete, gar nicht ihr Vater zu sein, erweichen konnte. Auch von ihren Brüdern war keine Hilfe zu erwarten. Wenn Fiona nur wüsste, ob Braeden noch lebte! Gleichgültig, was FitzGibhann mit ihr machen würde – Hauptsache, Braeden war nichts geschehen. Mit brennenden Augen starrte sie durch die Scheibe in die Sonne, die sich im Glas der unzähligen Fenstern der Wohnhäuser spiegelte.

Magdalen-Kloster und Wäscherei, Dublin, Irland,
September 1912

»… denn diese Welt existiert nur, um eine Geschichte zu sein in den Ohren der kommenden Geschlechter.«

William Butler Yeats (1865 - 1939), irischer Dramatiker, Lyriker, Essayist und Autobiograph, Nobelpreisträger für Literatur 1923