Nachwort
der Übersetzerinnen

Die Schriftsammlung Maria Montessoris „Citizen of the World – Key Montessori Readings“ bildet die Grundlage der hier vorliegenden, neu übersetzen deutschen Ausgabe mit einer aufschlussreichen Einführung durch Ginni Sackett, der amtierenden Pädagogischen Direktorin der Association Montessori Internationale (AMI).

Für die konstruktive, vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Übersetzung und Herausgabe der Texte bedanken wir uns herzlich bei Alexander Henny, dem Herausgeber des Montessori-Pierson Verlags, sowie bei der Montessori-Expertin Joke Verheul, der verantwortlichen Chefredakteurin der AMI, für wertvolle Hinweise zum geschichtlichen Hintergrundwissen.

In der vorliegenden kleinen Sammlung Verantwortung für diese Welt – Schlüsseltexte über den Menschen und eine neue Erziehung sind neun „Montessori Principles“ als grundlegende Texte zur Montessori-Pädagogik abgedruckt. Sie werden von der AMI auch in Form von Einzelbroschüren herausgegeben, die sie allen Studierenden ihrer Ausbildungskurse empfiehlt. Sie sind in englischer Sprache über die AMI Geschäftsstelle zu beziehen.

Zur weiteren Lektüre verweisen wir auf die Herausgaben von verschiedenen Verlegenern und insbesondere auf die weltweit einzigartigen „Gesammelten Werke“ Maria Montessoris, die von Harald Ludwig u.a. herausgegeben werden. Unter demselben Titel finden Sie Texte, wie sie auch im vorliegenden Band zu lesen sind. Während wir uns auf die in Englisch verfassten Texte aus den „Citizen of the World“ beziehen, leiten sie sich von Originalmitschriften und -übersetzungen ab, die Maria Montessori in italiensicher und französischer Sprache verfasst hatte.

Wir danken der Montessori-Expertin Dr. Ela Eckert für ihre kritisch-konstruktive Durchsicht und fachspezifischen Anregungen. Außerdem wäre diese Publikation nicht ohne die Assoziation Montessori (Schweiz) und die Deutsche Montessori Gesellschaft (DMG) möglich gewesen, die dieses Projekt anlässlich des 150. Geburtstags von Maria Montessori unterstützen und damit einen weiteren, qualitativ hochrangigen Beitrag zur Verbreitung dieser umfassenden und stets aktuellen Pädagogik im deutschsprachigen Raum leisten.

Malve Fehrer und Ulrike Hammer
Juli 2020

Maria Montessori – Gesammelte Werke

In dieser Edition erscheinen seit 2010 in insgesamt 21 Bänden beim Verlag Herder die bisher veröffentlichten, aber auch eine Vielzahl noch unveröffentlichter Schriften der weltberühmten Reformpädagogin als wissenschaftliche Werkausgabe. In z. T. neuen Übersetzungen, versehen mit zahlreichen Fußnoten, Anhängen und Kommentaren zu den verschiedenen Auflagen sowie mit ergänzenden Passagen aus anderen Ausgaben vermitteln die Gesammelten Werke einen guten Einblick in die Entwicklung des pädagogischen Denkens Maria Montessoris und lassen die Textgenese nachvollziehen. Herausgeber der Reihe ist Prof. (em.) Dr. Harald Ludwig, Universität Münster.

Bisher sind erschienen

Die Entdeckung des Kindes als Band 1 (2010, 32015)

Anthropologische Schriften I als Band 2/1 (2019)

Anthropologische Schriften II als Band 2/2 (2019)

Erziehung und Gesellschaft als Band 3 (2011)

Praxishandbuch der Montessori-Methode als Band 4 (2010, 32015)

Kalifornische Vorträge als Band 5 (2014)

Das Kind in der Familie als Band 7 (2011, 22017)

Psychoarithmetik als Band 11 (2012)

Psychogeometrie als Band 12 (2012)

Von der Kindheit zur Jugend als Band 14 (2015, 22018)

Durch das Kind zu einer neuen Welt als Band 15 (2013, 22017)

Das gesamte Werk wird voraussichtlich bis 2027 geschlossen vorliegen.

Weitere Schriften Maria Montessoris

Maria Montessori (1952): Kinder sind anders, Stuttgart

Maria Montessori (1965): Grundlagen meiner Pädagogik, Heidelberg

Maria Montessori (1966): Über die Bildung des Menschen, Freiburg

Maria Montessori (1967): Freies Zeichnen. Studien nach dem Leben.

In: Montessori-Werkbrief 14, 16–18

Maria Montessori (1969): Die Entdeckung des Kindes, Freiburg

Maria Montessori (1972): Das kreative Kind. Der absorbierende Geist, Freiburg

Maria Montessori (1976): Schule des Kindes, Freiburg

Maria Montessori (1979): Spannungsfeld Kind – Gesellschaft – Welt, Freiburg

Maria Montessori (1987): Kinder sind anders, München

Maria Montessori (1989): Die Macht der Schwachen, Freiburg

Maria Montessori (1992): Dem Leben helfen, Freiburg

Maria Montessori (1995): Gott und das Kind, Freiburg

Maria Montessori (2009): Kinder sind anders, Stuttgart

Maria Montessori (2014): Grundlagen meiner Pädagogik, 12. Aufl. Wiebelsheim

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Dieses ist der zweite Vortrag,
den Maria Montessori 1933 beim
19. Internationalen Kurs in London hielt

Die zwei Naturen des Kindes

Ich sagte Ihnen, dass das Zentrum unserer Pädagogik, das Fundament, auf dem alles beruht, die Verwandlung des Kindes ist. Wir verwenden das Wort „Verwandlung“ in einem neuen Sinne. Im Allgemeinen bedeutet es, wenn man von Erwachsenen spricht, eine „Wandlung der Überzeugungen“, indem man neue Orientierungen in Bezug auf die Einstellungen seines Gewissens findet. Wenn wir jedoch beim Kind von Verwandlung sprechen, meinen wir die Offenbarung einer Natur, die sich von der unterscheidet, die wir bisher von ihm kannten. Sie tritt so sehr hervor, dass einige der Journalisten vor 30 Jahren, als dies zum ersten Mal bemerkt wurde, den Begriff „das neue Kind“ verwendeten. Was meinten sie damit? Offensichtlich eine Art Kindheit, die man vorher nicht gekannte hatte: Kinder, die mit einer anderen Wesensart ausgestattet zu sein schienen. Die Grundlage unserer Arbeit besteht also darin, zwischen diesen beiden Naturen des Kindes unterscheiden zu können. Die eine, die oberflächlichere, diejenige, die wir in den gewöhnlichen Lebensumständen beobachten, ist allen gut bekannt. Es ist die Natur, die von Psychologen als die einzige Natur des Kindes betrachtet wird.

Und es ist ausschließlich diese Natur, die von den gegenwärtigen Strömungen der Pädagogik berücksichtigt wird. Aber wenn wir von der Natur des Kindes sprechen, beziehen wir uns auf jene verborgene Natur, die besondere Bedingungen erfordert, wenn sie sich offenbaren und entwickeln soll.

Ich möchte Ihnen nun diese beiden Erscheinungsformen vor Augen führen, um den Unterschied zwischen ihren psychologischen Aspekten zu veranschaulichen. Kinder, die wir unter alltäglichen Umständen beobachten können, zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus, zum Beispiel durch eine Ungeordnetheit ihrer Motorik. Da sie sich ständig in Bewegung befinden, zerbrechen und zerstören sie oft Dinge. Bei solchen Kindern herrscht eine Unruhe, die der Erwachsene nicht kontrollieren kann. Selbst wenn es den Anschein hat, dass er sie eingedämmt hat, ist dies nicht wirklich geschehen. Man kann es an anderen Reaktionen erkennen. Das Kind ist ungehorsam und reagiert auf geforderte Disziplin mit Ausbrüchen, die man gemeinhin Ungezogenheit nennt, oder es reagiert damit, dass es zu weinen beginnt. Andere Merkmale dieses allgemeinen Verhaltens der Kindheit sind Schwindeln und Gier. Kinder lieben leckere Speisen, essen gern übermäßig, und der Erwachsene muss sich ständig einmischen und versuchen, sie anzuleiten. Dann gibt es Besessenheit. Kinder hängen sehr an ihrem Besitz, an ihrem Spielzeug usw. und sind immer bereit, für ihr Eigentum zu kämpfen.

Angst und Abhängigkeit sind weitere Dinge, die dieser Natur eigentümlich sind. Im Allgemeinen sind solche Kinder voller Ängste. Sie haben Angst vor der Dunkelheit, um eine Sache zu erwähnen, und sie sind in hohem Maße abhängig von Älteren. Sie suchen ständig nach jemandem, der ihnen hilft oder ihnen Gesellschaft leistet. Dies kann als natürliche Bindung emotionaler Art interpretiert werden. Wenn dem so wäre, wäre nichts dagegen einzuwenden, im Gegenteil! Aber oft handelt es sich nicht um Zuneigung. Oft erweckt das Kind, das seine Mutter oder seine Geschwister nie verlassen möchte, den Eindruck, ein Wesen zu sein, das von der Angst besessen ist, in der Welt allein gelassen zu werden, und das deshalb ständig auf Unterstützung angewiesen ist.

Auch im intellektuellen Bereich scheint es das Bedürfnis nach fortwährender Hilfe seitens der Älteren zu spüren. Es stellt ständig Fragen und fleht Erwachsene an, ihm Geschichten zu erzählen. Was die Geschichten betrifft, scheinen solche Kinder unermüdlich zu sein, und die Fragen, die sie über sie stellen, lassen oft Angst oder eine unruhige Sehnsucht erkennen.

Im Allgemeinen sind diese Kinder nicht in der Lage, sich über einen längeren Zeitraum zu beschäftigen. Sie können ihre Aufmerksamkeit nicht lange fokussieren. Wenn der Erwachsene sie zu etwas zwingen will, muss er sie ständig beaufsichtigen und ihre Aufmerksamkeit zurückrufen – und die Kinder ermüden sichtlich.

In Bezug auf die Arbeit werden solche Kinder daher sowohl als faul als auch als unfähig angesehen. Es gibt einen Aspekt ihrer Intelligenz, der sehr aktiv ist: die Phantasie. Was allgemein als eines der interessantesten Phänomene des kindlichen Geistes wahrgenommen wird, ist seine Fähigkeit, personifizieren zu können. Das Kind personifiziert Dinge seiner Umgebung. Dass es Gegenstände in etwas Lebendiges und Belebtes umwandeln kann, ist, gerade weil dabei die Wiedergabe der Wirklichkeit so weit entfernt ist, eines der Dinge, die beim Kind am meisten geschätzt werden.

Diese Merkmale und andere, die ich aufzählen möchte, gehören zu einer Natur, die nicht geeignet ist, die Begeisterung der Erwachsenen so weit zu wecken, dass man sie als Richtschnur für seine Erziehungsversuche bei Kindern ansehen könnte. Aber wir wissen sehr gut, dass der erziehende Erwachsene jedes von ihnen einzeln abwägt und dabei einige als zu korrigierende Mängel und andere als zu kultivierende positive Punkte ansieht. Zu letzteren gehören die Phantasie, der ständig geäußerte Wunsch nach Geschichten, die Fragen nach und die Bindung an Familienmitglieder. Aber obwohl bei der Erziehung einige der kindlichen Merkmale unterdrückt und andere gefördert werden, sind sie meiner Meinung nach allesamt Symptome von „abweichender“ Natur.

Als Montessori-Pädagogen stellen wir fest, dass es in der Kindheit noch eine andere und tiefere Natur gibt. Sie zeigt sich im „verwandelten Kind“. Die Merkmale dieser Natur sind ganz anders. Darunter ist die Liebe zur Arbeit, auf die sich der Geist des Kindes konzentriert. Die Konzentration wird sichtbar, indem ein Kind dieselben Übungen immer wieder wiederholt. Und es gibt die Ordnung in der Bewegung. Beides gehört zusammen, denn man sieht eine akribische Genauigkeit in den Bewegungen, die sich in Handlungen äußern. Sie werden nicht einfach fortgesetzt, sondern wiederholt. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass diese geordnete Tätigkeit, solange sie andauert, scheinbar ohne Ermüdung des Kindes stattfindet. Ein weiteres Merkmal dieser Natur ist die Unabhängigkeit vom Erwachsenen; die Fähigkeit des Kindes, selbstständig zu handeln, mit dem Streben nach Genauigkeit in dem, was es tut.

Andere Phänomene sind der Respekt vor dem persönlichen Eigentum anderer und das liebevolle Interesse an äußeren Gegenständen, das so intensiv ist, dass wir es „Liebe zur Umgebung“ genannt haben. Es ist jedoch eine Liebe, die durch Wissen inspiriert ist, und nicht durch den Wunsch nach Besitz. Daher gibt es keinen Streit unter den Kindern. Im Gegenteil, sie entwickeln eine ruhige und liebevolle Umgangsart und damit die Möglichkeit zum sozialen Miteinander. Die Tatsache, dass Kinder Spielzeug, Süßigkeiten und Belohnungen ablehnen, solange diese Bedingungen gegeben sind, sorgte damals, als sie zum ersten Mal beobachtet wurde, und auch heute noch für großes Erstaunen. Die Kinder bitten außerdem weder um die Hilfe der Erwachsenen oder um eine übermäßige Anzahl von Geschichten noch verspüren sie ständig das Bedürfnis, Fragen zu stellen. Andere Phänomene, die keinen besonderen Grund für ihr Auftreten zu haben scheinen, sind das Verschwinden der Angst und des Geflunkers.

Das sind also die Merkmale, die diesen beiden Naturen entsprechen. Sie verlaufen parallel zueinander. Auf der einen Seite gibt es das Schwelgen in übermäßiger Phantasie als Rückzug aus der Realität, auf der anderen Seite die tiefere Natur, die Bindung an die Umgebung mit dem Interesse an einem genauen Wissen über die Gegenstände in ihr. Auf der einen Seite ungeordnete und lärmende Bewegungen, auf der anderen Seite ruhige und leise Handlungen. Auf der einen Ebene die Abhängigkeit vom Erwachsenen und auf der anderen eine weitgehende Unabhängigkeit. In der oberflächlichen Natur finden wir Faulheit. In der tieferen Natur finden wir Liebe zu Arbeit, Konzentration und Ausdauer bei der Arbeit.

Es könnte von Interesse für uns sein, die Bedingungen kennenzulernen, unter denen sich diese beiden unterschiedlichen Naturen manifestieren. Solche, die Tendenzen hervorbringen, die zur oberflächlichen Natur gehören, sind diejenigen, die üblicherweise anzutreffen sind. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Tendenzen, die zur tieferen Natur gehören, unbekannt waren. Deshalb suchte niemand nach ihnen und man konnte sie mit keinem im Voraus festgelegten Plan wecken. Es war notwendig, es nicht dem Zufall zu überlassen, diesen Offenbarungen die Möglichkeit zu geben, zu erscheinen. Um zu verstehen, was geschehen ist, muss man eine Vorstellung von zwei verschiedenen Verfahren haben, wie man zu psychologischem Wissen gelangt. Das eine ist die Forschung. Dabei geht es um einen Psychologen, der einen bestimmten Aspekt untersuchen will und sich auf den Weg macht, dies durchzuführen. Er weiß im Voraus, worauf er hinaus will und bedient sich bei seiner Untersuchung der einen oder anderen Methode.

Das andere ist die Entdeckung. Die Entdeckung betrifft etwas, das zwar bereits vorhanden ist, aber aus dem einen oder anderen Grund dem menschlichen Bewusstsein verborgen geblieben ist. In diesem Fall handelte es sich um die Entdeckung der tieferen Natur des Kindes. Denn als die richtigen Voraussetzungen geschaffen waren, war das Ergebnis das spontane Auftreten von Merkmalen, die nicht einen Teil, sondern die ganze Persönlichkeit offenbarten. Ich muss noch einmal bekräftigen, dass sie nicht die Folge eines bestimmten oder im Voraus festgelegten Erziehungsplans waren. Sie waren nicht das Ergebnis einer festgelegten Methode.

Im Gegenteil: Das, was man als Montessori-Methode bezeichnet, ist das Ergebnis der Entdeckung von Tendenzen, die zuvor keine Möglichkeit einer dauerhaften Bekundung hatten. Die Menschen bestehen darauf, dass ich die Methode geschaffen habe, aber dem ist nicht so. Sicherlich hatte ich meinen Anteil daran, aber erlauben Sie mir, das Geschehen durch einen Vergleich zu veranschaulichen.

Wir könnten das, was stattgefunden hat, mit dem Prozess vergleichen, der sich in einer Fotokamera auf einer lichtempfindlichen Platte entwickelt. Auf ihr wird das Bild eines äußeren Objekts abgebildet. Natürlich muss die Platte eine gewisse Empfindlichkeit aufweisen, damit dieses Bild nachhaltig eingeprägt bleibt, aber das Bild wird nicht durch die Platte erzeugt. Es ist das Abbild eines Objekts, das eine eigene Form hat, seine eigenen Merkmale. Ich war die Platte. Meine Vorbereitung hatte mich empfänglich gemacht, und ich gebe zu, dass in mir auch eine Kamera vorbereitet war. In mir selbst, so möchte ich sagen, war ein bestimmter Mechanismus vorbereitet, ein wissenschaftlicher Mechanismus. Doch Tatsache ist, dass das psychologische Bild, das dauerhaft erfasst werden könnte oder eben nicht, nichts mit dem Gerät zu tun hat. Es ist nicht der Apparat, der das Objekt erzeugt, vielmehr erfasst er sein Abbild. Dieses auf der Platte entstandene Bild ist nur eine Fotografie von etwas, das existiert. In diesem Fall war es die verborgene Natur des Kindes. Ich will damit sagen, dass diese tiefere Natur des Kindes vielleicht nicht für jeden sichtbar war, aber das bedeutet nicht, dass die tiefere Natur durch mich entstanden ist, denn ich, die zufällig der Apparat war, habe sie erfasst. Sie ist ein vollständiges Ganzes mit seiner eigenen spontanen Existenz. Phänomene verdanken ihre Existenz nicht demjenigen, der sie entdeckt. Es ist lediglich das Erkennen der Tatsachen, das von der Wahrnehmungsfähigkeit des Entdeckers abhängt.

Jemand, der Elektrizität entdeckt, hat Elektrizität nicht erschaffen. Der Entdecker vermag jedoch die Bedingungen für die Wiederholung der Phänomene, die er gesehen hat, wiederherzustellen. Er tut dies, weil er versteht, was sie hervorgebracht hat.

Genau das ist mir passiert. Wenn man diese psychologischen Phänomene einmal gesehen hat, kann man nicht mehr daran vorbeigehen. Sie machten auf mich einen derartigen Eindruck, dass ich von dem Wunsch erfüllt war herauszufinden, ob es möglich wäre, sie zu wiederholen.

Ich bin sicherlich nicht die einzige, die diese Art von Phänomenen gesehen hat und von ihnen berührt wurde. Hunderte, vielleicht Tausende von unbekannten Menschen müssen sie gesehen haben. Ich möchte das Beispiel von zwei berühmten Pädagogen zitieren. Pestalozzi ist einer von ihnen. In seiner Schule in Stanz sah er ähnliche Phänomene. In seinen Schriften beschreibt er sie mehr oder weniger wie folgt:

Er schreibt, er habe Kinder gesehen, die eine Arbeit mit einem erstaunlichen Geist der Liebe ausführten. Er selbst hätte die Kinder nicht dazu bringen können, es zu tun, weil er sich nicht einmal vorstellen konnte, dass es im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegt. Pestalozzi staunte, dass diese Kinder mit so intensiver Freude arbeiteten und Fortschritte machten, die dermaßen erstaunlich waren, dass er es nicht für möglich gehalten hätte. Als bescheidener Mensch, der erkannte, dass er mit diesen wunderbaren Ergebnissen nichts zu tun hatte, schrieb er, dass er, Pestalozzi, nichts dazu beigetragen hätte, sie hervorzurufen. Er wünschte, dass andere Menschen verstünden, dass es eine unbekannte Natur im Kind gibt.

Tatsächlich sah Pestalozzi diese Phänomene nur einmal. Sie waren eine vorübergehende Phase in seiner Schule, und er sah sie nie wieder. Aber sie blieben in seiner Seele eingeprägt. Er schrieb über sie in dem Bemühen, den neu gewonnenen Glauben zu teilen, wusste aber nicht, wie er sie wiederholen sollte. Wir haben also die Phänomene und den Entdecker, doch der Entdecker war nicht in der Lage, die Phänomene erneut hervorzurufen, wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass ihm die notwendige wissenschaftliche Vorbereitung fehlte.

Dasselbe könnte auch für Tolstoi, den anderen berühmten Erzieher, gelten. In seiner Schule in Russland beobachtete er, wie Kinder von analphabetischen und mittellosen Bauern, die aufgrund ihrer Anlagen für das schulische Lernen unzugänglich schienen, plötzlich vor Begeisterung für das Lernen entflammten. Die Kinder vergaßen, dass sie hungrig waren, und dachten nur noch ans Lernen. Dann verschwand dieses Phänomen wieder, und Tolstoi gelang es nicht, es noch einmal hervorzurufen, obwohl dies bis zu seinem Tod sein Hauptanliegen blieb.

Solche Ereignisse, die historisch weit auseinander liegen, liefern uns den Beweis, dass diese Offenbarungen von Kindern natürliche Phänomene sind, die häufig ungesehen und unbekannt bleiben. Dies beweist uns auch, dass, wenn sie verborgen und ungesehen bleiben, es bestimmte Bedingungen geben muss, die ihrem Auftreten entgegenstehen. Kinder befinden sich also im Allgemeinen unter Bedingungen, die nur flüchtige Blicke auf das Erscheinen der Phänomene einer tieferen Natur erlauben. Außerdem sind die Bedingungen, unter denen solche Phänomene hervortreten können, nicht bekannt.

Es war zum Teil dem Zufall zu verdanken, zum Teil meiner wissenschaftlichen Vorbereitung und meiner früheren Arbeit, die mich für die Wahrnehmung spontaner psychologischer Ausprägungen sensibel gemacht hatten, dass ich die Bedingungen, die diese Erscheinungen ermöglichten, erkannt und wiederhergestellt habe. Seitdem bin ich bestrebt, das Wissen über diese tiefere Natur in den Bereich der Erziehung einzubeziehen.

Ich möchte Ihnen die Bedingungen nennen, unter denen sich diese Ausprägungen zuerst zeigten. Unsere erste Einrichtung beherbergte etwa 40 Kinder armer, ungebildeter Eltern: zum Beispiel waren sie Blumenverkäufer, Gepäckträger usw. Diese Eltern waren auf der Suche nach Arbeit und deshalb fast nie zu Hause, so dass die Kinder tagsüber sich selbst überlassen waren. Als wir sie zum ersten Mal zusammenbrachten, hatten sie alle Merkmale von Kindern in ähnlichen Verhältnissen: Sie waren schüchtern, verängstigt und dazu angehalten, sich zu verstecken, sobald sie einen Fremden sahen.

Ihr Alter lag zwischen drei und sechs Jahren. Das Ziel, sie zusammen zu holen, war nicht, sie zu unterrichten, sondern zu verhindern, dass sie Hauswände verschmutzten und verunstalteten. Sie wurden mir nicht als Lehrerin, sondern als Ärztin anvertraut, denn die Kinder schienen wegen Unterernährung und ähnlicher Beschwerden medizinische Hilfe zu benötigen. Es stand mir jedoch frei, sie auch zu unterrichten, wenn ich dazu geneigt war. Außerdem hatte man mir dazu entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt.

Ich werde Ihnen nun sagen, welche Mitarbeiter ich ausgewählt habe. Keine Lehrerin, die etwas auf sich hielt, hätte diese Aufgabe angenommen. Deshalb wählte ich eine Frau, die einst ein Lehrerdiplom erworben hatte, jetzt aber als Näherin arbeitete, und später eine andere, die ein Grundstudium hinter sich hatte und jetzt Pelze ausbesserte. Das waren also die Umgebung und die pädagogischen Mitarbeiterinnen. Von diesen außergewöhnlichen Lehrerinnen verlangte ich nur eine Sache, und zwar, dass sie genau das tun sollten, was ich ihnen sagte. Da sie keine Verantwortung für formalen Unterricht hatten, drängten sie den Kindern ihre eigene Persönlichkeit keineswegs auf. In diese Umgebung führte ich bestimmte Kriterien ein. Zum Beispiel die Idee, die Kinder glücklich zu machen, ohne eine ihrer Äußerungen zu verhindern oder zu behindern. Im Gegenteil, ich bat diese Mitarbeiterinnen, den Kindern die Möglichkeit zu geben, frei zu handeln. In die Umgebung brachte ich einige Möbel, die auf die Größe der Kinder abgestimmt waren, sowie verschiedene Gegenstände, die ich bereits in früheren psychologischen Arbeiten verwendet hatte, wie etwa das Material zur Ausbildung der Sinne.

Lassen Sie uns beispielhaft ansehen, welches die Bedingungen waren, die sich günstig auf die spontanen Äußerungen auswirkten. Diese Kinder wurden in keiner Weise von ihren Eltern beeinflusst, die immer unterwegs waren, um ein paar Cent zu verdienen, und auch von keinem Lehrer, der sie unterrichten wollte. Das heißt, sie waren weit entfernt von jedem Erwachsenen, der sie mit irgendeiner Anweisung hätte beeinflussen können.

Auf diese Weise wurden günstige Bedingungen geschaffen. Eine sehr seltene Situation. In der Tat, denn obwohl oft gesagt wird, dass Eltern oder Lehrer den Kindern Freiheit lassen sollten, ist es wirklich eine andere Sache, dies auch zu tun.

Dann geschahen gewisse kleine Dinge, die mich beeindruckten. Zum Beispiel zeigten die Kinder eine sehr große Liebe für Sauberkeit. Wir hatten ihnen beigebracht, sich die Hände zu waschen, und nun gingen sie überall umher und suchten nach Möglichkeiten, dies zu tun.

Diese Begeisterung für das Händewaschen war etwas Außergewöhnliches. Die Mütter kamen, um uns zu erzählen, dass die Kinder, wenn sie nicht in der Schule waren, aus dem Haus stürmten und für längere Zeit weg waren. Als sie nach ihnen suchten, fanden sie sie an den Brunnen, wo die Frauen ihre Wäsche wuschen. Diese beschwerten sich, dass die Kinder die gesamte Seife, die sie in die Hände bekamen, zum Händewaschen verschwendet hätten und dann dastanden und sie betrachteten. Das Merkwürdigste war, dass dies den Kindern nicht nur große Freude zu bereiten schien, sondern dass sie sich auch umblickten und intelligente Bemerkungen machten, als ob sie innerlich erwacht wären.

In der Schule erlaubten wir ihnen, sich weiter zu waschen, und außerdem gaben wir ihnen noch etwas anderes zu tun. Wir erlaubten ihnen, in der Umgebung aufzuräumen. Ein ähnlicher Erfolg wurde erreicht. Die Kinder säuberten mit großer Begeisterung nicht nur die Dinge um sie herum, sondern es geschah auch etwas Eigenartiges: Nachdem sie die Gegenstände gereinigt hatten, machten sie unaufhörlich damit weiter, so dass der Lack der Möbel darunter litt! Und diese Tätigkeit war von Freude und weiterem Erwachen der Intelligenz begleitet. Ermutigt durch diese Tatsache beschäftigten wir uns mit Möglichkeiten, ihnen beizubringen, sich zu kämmen und sich selbst anzuziehen. Dies war in der Tat ein enormer Erfolg. Nachdem sie gelernt hatten, ihre Kleider zu knöpfen, knöpften sie sie auf und zu und wiederholten den Vorgang immer wieder. Das Gleiche gilt für die Haare: Sie kämmten ihre Haare, und immer wieder kämmten sie sie.

Diese Aktivitäten sind für ein Kind unter normalen Bedingungen schwierig, denn wir Erwachsene neigen dazu, nutzlosen Tätigkeiten ein Ende zu setzen. Besonders dann, wenn das Bedürfnis des Kindes nach Aktivität nicht verstanden wurde, hätte jede Mutter gesagt: „Jetzt bist du sauber. Das reicht. Hör auf!“ Aber hier in der Schule konnten die Kinder diese Aktivitäten zu ihrer vollen Befriedigung ausführen. Durch ihr Verhalten wurde uns eine grundlegende Wahrheit bewusst, nämlich dass das Kind für seine eigene innere Entwicklung arbeitet und nicht, um ein äußeres Ziel zu erreichen, und dass es, nach getaner Arbeit, nicht wirklich eine besondere Fähigkeit, sondern etwas in sich selbst entwickelt hatte. Freude, das Fehlen von Schüchternheit, wachsende Intelligenz, das waren die Phänomene, die sich im Laufe der Zeit noch deutlicher zeigten. Eine andere Sache, die damals seltsam erschien, war das Bedürfnis nach Ordnung, das sich bei den Kindern entwickelte. Sie brachten alles wieder an seinen Platz zurück. Es gab bestimmte wissenschaftliche Instrumente, die für die Kinder schwierig zu handhaben waren, aber wenn die Zeit kam, in der die Mitarbeiterin sie wegräumen wollte, versuchten die Kinder, es vor ihr zu tun. Der Grund dafür war ihr offensichtlich nicht klar, wie ich bei einer Gelegenheit herausfand, als ich anwesend war. Sie sagte den Kindern, sie sollten Gegenstände, die sie nichts angingen, nicht anfassen. Ich bat sie, die Kinder tun zu lassen, was sie wollten, und ich sah, dass die Gegenstände selbst sie nicht interessierten. Es war die Ordnung, in der sie platziert wurden, die sie interessierte. Nach und nach erkannten wir die Liebe des Kindes für Ordnung und erlebten seine überraschende Fähigkeit, sich an die genaue Position eines jeden Gegenstandes zu erinnern.

Nach einiger Zeit wurden wir Zeugen dessen, was ich eingangs erwähnte: der „Verwandlung des Kindes“. Kinder, die zu Beginn des Experiments ständig geweint hatten, weinten nicht mehr, und sie hatten eine gewisse Leichtigkeit erlangt. Sie waren nicht mehr schüchtern, sie handelten offen und ehrlich. Die Menschen staunten darüber, dass sich Kinder armer Arbeitereltern ohne Kultur so verhielten. Die Eltern selbst bemerkten nicht nur, dass sich die Eigenschaften ihrer Kinder verändert hatten, sondern dass sie intelligenter geworden waren. So viel intelligenter als zuvor, dass sie mich fragten, ob ich ihnen auch Lesen und Schreiben beibringen würde. Sie waren so hartnäckig, dass ich es schließlich versuchte. Auch dies war erfolgreich. Die Kinder waren so wissbegierig, dass beispielsweise nach sechs Monaten auch die Viereinhalbjährigen lesen und schreiben gelernt hatten. Und die Sechsjährigen hatten ein Niveau erreicht, das dem der Kinder in der zweiten Klasse der damaligen Grundschulen entsprach.

Für mich und tatsächlich für die ganze Welt (denn die Presse hatte die Nachricht verbreitet) schien dies ein Wunder zu sein. Doch es gab ein anderes Ereignis, das mich noch mehr überraschte. Der Gedanke daran, dass Kinder nach und nach ihre Kultur absorbieren könnten, war überraschend, aber denkbar. Unfassbar war, dass sich auch der Gesundheitszustand der Kinder verbesserte, als ob sie sich einer körperlichen Heilung unterzogen hätten. Sie waren anämisch gewesen, sie waren weiterhin schlecht ernährt und trotzdem verbesserte sich ihr Kreislauf, und sie wurden gesünder. Obwohl mir damals als Ärztin die Tatsache unglaublich erschien, wurde mir klar, dass gewisse Bedingungen, die psychische Bedürfnisse erfüllten, offensichtlich auch Einfluss auf den physischen Körper hatten.

Diese erste Einrichtung, dieser winzige Embryo, von dem ich spreche, entwickelte sich. Andere Schulen wurden in Italien und im Ausland gegründet, und es wurde deutlich, dass das Kind, das unter günstigen Bedingungen aufwuchs, nicht nur viel gründlicher und schneller lernen konnte, nicht nur selbstständig und geistig gesund wurde, sondern dass sich ohne jede andere besondere Betreuung auch sein physischer Zustand normalisierte. So kam die Zeit, da Ärzte unser Case dei Bambini als eine Art Kurort empfahlen.

Es war, als seien Gesundheit und Glück der Kinder eng mit den Umständen verbunden, unter denen sich ihre Persönlichkeit und ihre Intelligenz entfalteten. Die Begeisterung der Kinder für Aktivität und zum Lernen, wenn sie sich voll entfaltet hatten, bereitete ihnen nicht nur Freude, sondern verbesserte auch ihre körperliche Verfassung. So wurde klar, dass es nicht das Spiel war, sondern die mit der Entwicklung seiner inneren Bedürfnisse verbundene Arbeit, die das Kind sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht auf höhere Ebenen führte.

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Die Freude, sich gegenseitig zu helfen.

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Diese Vorlesung hielt Maria Montessori
bei einem ihrer Ausbildungskurse

Die Bedeutung
der Anpassung

Der Text wurde von Mario M. Montessori bearbeitet.

Eine der Aufgaben des Kindes ist es, sich an die Umwelt angepasst selbst aufzubauen. Die Anpassung an die Umwelt ist etwas Positives, eine der ersten Notwendigkeiten, denn ohne Anpassung befindet sich ein Mensch außerhalb der Gemeinschaft – wie es beispielsweise bei Straftätern der Fall ist. Nur diejenigen, die an ihre Umwelt angepasst sind, können als wirklich normalisiert bezeichnet werden. Die Anpassung ist der Ausgangspunkt, der Boden, auf dem wir stehen.

Wenn wir gehen wollen, müssen wir zuerst einen Boden haben, auf dem wir gehen können. Nachdem wir das Gehen gelernt haben, können wir springen, tanzen usw., aber dazu brauchen wir immer noch den Boden. Die Anpassung muss zuerst kommen, danach ergibt sich die Möglichkeit einer größeren Vielfalt.

Wie ich bereits sagte, sind unangepasste Menschen nicht gemeinschaftsfähig. Wir müssen dies als Grundlage unseres Erziehungsbegriffs akzeptieren, denn er ermöglicht es uns, ihn auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen: Wenn wir bei der Anpassung an die Umwelt helfen wollen, ist es notwendig, zuerst die Umwelt zu studieren. Normalerweise wird dies nicht getan, und deshalb gibt es weder eine genaue Vorstellung noch eine wissenschaftliche Grundlage für einen Erziehungsplan. Um bei der Selbsterziehung zu helfen, müssen wir von etwas Genauem ausgehen, von etwas, das man beobachten kann.