Susanne Kersig
Mit Focusing und Achtsamkeit die Selbstheilungskräfte aktivieren
Arbor Verlag
Freiburg im Breisgau
Inhalt
Impressum
Vorwort zur Neuausgabe
Einführung
Das innere Wissen um Gesundheit aktivieren
Kapitel 1
Selbstverantwortung und Patientenkompetenz
Kapitel 2
Grundlage des Körperdialogs: Das Focusing
Unser Körper: Maschine oder wissender Organismus?
Kapitel 3
Placebo-Effekt, Selbstheilungskräfte und die Macht der inneren Bilder
Kapitel 4
Einstieg in die Körperdialoge
Wir beginnen mit dem Ziel
Kapitel 5
Die Grundhaltung der inneren Achtsamkeit
Absichtslos zum Ziel der Heilung
Dem Körper zuhören, statt ihn zu kontrollieren
Körper-Präsenz
Mit Nicht-Wissen zum Aha-Effekt
Heilende Freundlichkeit
Selbstmitgefühl kultivieren
Body Scan: Die Körper-Meditation
Kapitel 6
Den inneren Arzt oder die innere Heilerin aktivieren
Kapitel 7
Freiraum und Gesundheit
Freiraum schaffen: Der Gute Ort im Körper
Das Päckchen-Packen
Kapitel 8
Der Dialog mit einem Symptom
Mit Berührung arbeiten
Kapitel 9
Focusing mit verschiedenen Aspekten des Krankheitsgeschehens
Mit Gefühlen heilsam umgehen
Stimmige Therapieentscheidungen mit dem inneren Körperwissen treffen
Den Lebensstil verändern
Die Bedürfnisse hinter einer Erkrankung entdecken und ernst nehmen
Unterstützung erhalten
Übersicht über die Übungen
Gesundheitsplan
Und was sagt die Forschung?
Kapitel 10
Körperdialoge aus der Perspektive der Therapeutin / des Therapeuten
Ein achtsames Beziehungsmodell für die Mind-Body-Medizin
Freiraum, schöpferisches Zuhören und Intuition
Anhang
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Empfehlungen für die eigene Praxis
Über die Autorin
Literatur
Das Siegel der Wahrheit ist die Einfachheit.
Dieses Buch handelt davon, wie man zu stimmigen und kreativen Erkenntnissen über den ganz eigenen Weg zur Gesundheit findet. Einsichten, die nicht nur im Geist, sondern auch im Körper etwas verändern, die man nicht nur denkt, sondern auch spürt. Wir alle kennen solche Momente als »Aha-Erlebnisse«. Danach fühlen wir uns wohl, in Übereinstimmung mit uns selbst und haben Klarheit darüber, wie wir uns verhalten wollen. Ich möchte Ihnen im Folgenden einen systematischen Weg zu solchen Einsichten zeigen und dabei die Themen behandeln, die ich für die Aktivierung der Selbstheilungskräfte und einen ganzheitlichen Weg zur Genesung für wesentlich halte.
Seitdem dieses Buch zum ersten Mal erschienen ist, sind weitere spannende Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit unserer Gedanken, Gefühle und unseres Verhaltens auf unseren Körper und unsere Gesundheit erschienen. So hat Dr. Lissa Rankin in ihrem lesenswerten Buch Warum Gedanken stärker sind als Medizin (Rankin, 2014) hierzu viele wissenschaftliche Erkenntnisse zusammengetragen. Lange Zeit waren dies Aspekte, die ja eng mit unseren Selbstheilungskräften verbunden sind, durch die Erfolge der modernen Medizin in den Hintergrund der Aufmerksamkeit getreten. Nun führt uns aber die Wissenschaft immer mehr vor Augen, wie groß der Einfluss unserer Gedanken, Gefühle und Beziehungen auf unseren Körper ist, häufig sogar stärker als der von Medikamenten.
Auch die amerikanische Psycho-Onkologin Kelly Turner forscht zu diesen Fragestellungen. Sie hat 200 Personen interviewt, die entgegen aller Prognosen und oft ohne schulmedizinische Behandlung von ihrem Krebs nachhaltig geheilt wurden. In Ihrem Buch 9 Wege in ein krebsfreies Leben fasst sie die neun wichtigsten Faktoren, die nach Meinung der Betroffenen die unerwartete Krebsheilung unterstützt haben, zusammen. Interessant und für sie selbst auch überraschend war dabei, dass mit Ernährungsumstellung und Nahrungsergänzungs- bzw. Naturheilmitteln nur zwei der Faktoren physische Maßnahmen betrafen. Alle anderen waren psychologischer Natur: der eigenen Intuition folgen, Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen, unterdrückte Emotionen zulassen, positive Emotionen verstärken, soziale Unterstützung zulassen, die spirituelle Verbindung vertiefen und starke Gründe für das Leben haben.
Was Lissa Rankin und Kelly Turner herausgefunden haben, können Sie anhand dieses Buches in die Praxis umsetzen. Ich habe diese Neuausgabe um die entsprechenden neueren wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzt.
Seit dem ersten Erscheinen des Buches haben zahlreiche SeminarteilnehmerInnen, PsychotherapeutInnen, KörpertherapeutInnen, ÄrztInnen und PatientInnen das Buch gelesen, die Methoden angewendet und mir dazu Rückmeldungen gegeben. Das äußerst positive Echo hat mich sehr berührt.
In Vorträgen, die ich in Kliniken dazu gehalten habe, kam mir besonders von Seiten des therapeutischen Teams aber auch immer wieder eine Kritik oder Frage entgegen: »Verstärken Sie mit Ihrem Ansatz nicht auch die Schuldgefühle von Betroffenen?« Die Kehrseite davon, dass der Einfluss der Psyche auf unsere Gesundheit immer bekannter wird und wir zunehmend zur Selbstverantwortung aufgerufen werden, sind nämlich Schuld- und Versagensgefühle, besonders im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen. Nicht selten müssen sich Betroffene von ihrer Umgebung anhören, ihre Erkrankung sei wohl »psychisch« bedingt. Häufig ist eine solche Stigmatisierung durch das Umfeld belastender als die Symptomatik selbst. Kaum jemand wird aber freiwillig krank. Und nur weil Psyche und Lebensstil einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit haben, sind nicht alle Symptomatiken auch psychisch bedingt. Es spielen fast immer mehrere Faktoren bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle, wie zum Beispiel Umwelteinflüsse, Viren, Bakterien, genetische und soziale Faktoren, die allesamt nur bedingt unter unserer Kontrolle stehen. Dieses Buch möchte, auch wenn es Mut macht, Verantwortung zu übernehmen und eigene Wege zu gehen, nicht zu einer omnipotenten Kontrollvorstellung von Gesundheit beitragen. Wir können viel für dafür tun, haben aber letzten Endes nicht alles im Griff. Die Corona-Pandemie ist dafür ein anschauliches Beispiel.
Wenn wir das implizite Körperwissen für unsere Genesung mit ins Boot holen, werden wir zurückhaltender darin, die Symptome anderer zu interpretieren. Die Beispiele in diesem Buch demonstrieren immer wieder, wie überraschend die tiefere Bedeutung ist, die ein Symptom für die betreffende Person hat. Von außen können wir dies fast nie nachvollziehen. Wir sollten uns daher lieber auf das Zuhören konzentrieren, statt andere zu interpretieren oder gar zu stigmatisieren.
Neben den bereits erwähnten neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Mind-Body-Medizin habe ich diese Neuausgabe meines Buches von 2014 ergänzt um:
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und Ausprobieren!
Jeder von uns hat einen inneren Arzt,der den Weg zur Heilung weiß.
Wenn wir uns in den Finger schneiden, können wir die Wunde desinfizieren und ein Pflaster darauf kleben. Die eigentliche Heilung geschieht aber im Körper selbst, durch dessen Fähigkeit zur Selbstheilung.
Wie können wir dieses durch die Placebo-Forschung wieder entdeckte Potenzial zur Selbstheilung nun ganz systematisch fördern und nutzen? Wie entschlüsseln wir die Sprache unserer Symptome? Wie aktivieren wir die Innere Ärztin oder den Inneren Arzt und wie verstehen wir, was sie oder er uns sagen möchte?
Jeder Mensch, jede Erkrankung und jede Situation ist einzigartig. So ist auch jeder Weg zur Gesundung, wenn man die inneren Ressourcen einbezieht, höchst individuell. Wie findet man aber seinen ganz eigenen Weg zur Genesung? Oder, wenn Genesung nicht möglich ist, wie findet man den für sich richtigen heilsamen Umgang mit einer chronischen Erkrankung? Wie trifft man im Dschungel medizinischer Angebote stimmige Therapieentscheidungen? Wie stärkt man die Lebensfreude, so dass dies die Genesung fördert? Wie geht man mit schwierigen Gefühlen wie Angst oder Wut, die eine Erkrankung häufig auslöst, auf eine Art um, dass sie nicht der Gesundheit zusätzlich schaden?
Meine Antwort auf diese Fragen lautet: Indem man lernt, auf achtsame Weise dem Körper zuzuhören und mit ihm in einen Dialog zu treten. In jedem von uns gibt es ein körperlich wahrnehmbares, intuitives Wissen um den nächsten Schritt in Richtung Gesundheit. Dieses Wissen ist kreativ, überraschend und kann weder von außen kommen noch von unserem Verstand gewusst werden. Die Antworten des Inneren Arztes, wie Albert Schweitzer dieses Wissen genannt hat, befinden sich in unserem Körper, manchmal sogar mitten in der Körper-Symptomatik selbst. Wir können lernen, darauf zu hören und seine Sprache zu verstehen.
Lassen Sie mich dies an einem Beispiel einer Klientin illustrieren:
Regina ist Software-Entwicklerin. Sie leidet seit einigen Wochen unter akuten Schmerzen im unteren Rücken. Es gibt bislang von ärztlicher Seite keine eindeutige Diagnose. Eine osteopathische Behandlung führte zwar zu einer Linderung der Symptomatik, aber nicht zu deren Verschwinden. Für den achtsamen Körperdialog schließt sie die Augen und beschreibt die Empfindungen an der schmerzhaften Stelle: »Es fühlt sich an wie ein größerer Pfeil im Inneren der unteren Wirbelsäule, der sticht und ist festgehakt. Ich fühle mich wie angeschossen … irgendwie verletzt«. Sie weint. »Es fühlt sich an, als wäre mir jemand in den Rücken gefallen.« Sie atmet auf. »Das passt ja haargenau auf meine Situation mit meinen Eltern! Die haben mich beim 70. Geburtstag meines Onkels kaum begrüßt und sind seitdem sehr abweisend. Im Rücken fühlt es sich an wie verletzt und verraten. Ich bin fassungslos darüber, wie sehr mich meine Eltern im Stich gelassen haben. Der Rücken wird warm und heiß, während ich jetzt spreche, wie ein innerer Aufruhr.« Nachdem sie der Verletzung und dem Ärger, der mit diesem Aufruhr verbunden ist, Raum gegeben hat, frage ich Regina, was dem Rücken guttun würde. »Ganz viel freundliche und mitfühlende Aufmerksamkeit. Vor meinem inneren Auge erscheint die Hand einer liebevollen Heilerin. Diese Vorstellung ist sehr entspannend und wohltuend. Der Rücken lässt sich jetzt in die Hand hinein sinken. Die Hand schließt die Wunde und schützt mich vor weiteren Angriffen. Die verletzte Stelle im Rücken möchte sich verletzt fühlen dürfen. Jetzt kann ich das mithilfe der Vorstellung der schützenden Hand im Rücken auch zulassen.« In der darauffolgenden Sitzung berichtet Regina, dass die Symptomatik nach dem Körperdialog deutlich gelindert ist. »Ich bin nicht mehr so verkrampft an der Stelle. Ich habe den Eindruck, da sitzt noch so einiges an Gefühlen und Themen, denen ich mich später noch einmal widmen möchte.«
Durch das achtsame Lauschen auf ihre Rückenschmerzen erkennt Regina, in welchem Lebenszusammenhang sie stehen (dem Gefühl von Verrat durch die eigenen Eltern) und sie weiß jetzt auch, was der nächste stimmige Schritt ist: mithilfe der vorgestellten schützenden Hand ihre Gefühle von Wut und Verletzung darüber zuzulassen.
Hätte Regina ihr inneres Wissen nicht entschlüsselt, wären ihr wichtige Informationen über den Weg zur Genesung entgangen. Der Heilungsprozess wäre unvollständig geblieben oder sogar ganz ausgeblieben.
Eigentlich geht es bei den achtsamen Körperdialogen um nichts Besonderes oder Spektakuläres. Es handelt sich nicht um eine neue oder esoterische Methode auf dem Markt der Heilungsangebote. Es geht um das Einfachste, Offensichtlichste und Kostengünstigste, das wir tun können, wenn wir erkranken: Unsere freundliche Aufmerksamkeit nach innen zu richten und den Körper sanft zu erforschen. Eigentlich ist es erstaunlich, wie selten dieses innere Zuhören auf den Körper geschieht!
Die Innenperspektive auf eine Erkrankung eröffnet uns unsere subjektive Sicht. Das innere Körperwissen stellt den Bezug einer Symptomatik zu unserer Lebenssituation her. Von innen her spüren wir unsere Lebendigkeit und unsere Fähigkeit zur Selbstheilung. Der äußere Arzt kann eine Diagnose stellen und uns Informationen über unseren Körper geben, die messbar sind, zum Beispiel Laborwerte, Röntgenaufnahmen oder ein EKG. Diese Informationen sind wichtig und wir sollten keinesfalls auf sie verzichten. Richten wir unsere Aufmerksamkeit dann nach innen, auf den von innen gefühlten Körper, kann aus den vielen medizinischen Details wieder ein zusammenhängendes Ganzes werden.
Das hier vorgestellte Vorgehen, wie Sie das innere Körperwissen um Heilung entschlüsseln und nutzen können, nenne ich Achtsame Körperdialoge. Diese Körperdialoge sind nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu einer fachlich-medizinischen Behandlung gedacht. Es geht darum, die Außenperspektive über eine Erkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten um die Innenperspektive- das subjektive innere Körperwissen- zu ergänzen. Erst wenn äußeres, medizinisches Faktenwissen und inneres, subjektives Wissen zusammenkommen, ergibt sich ein vollständiges Bild.
Die in amerikanischen Wissenschaftszentren entwickelte Mind-Body-Medizin hat zum Ziel, die Wechselwirkung zwischen Bewusstsein, Gehirn, Körper und Verhalten positiv zu beeinflussen. Sie ist in den USA bereits weit verbreitet, während sie bei uns immer noch in den Kinderschuhen steckt. Die Grundlage der Mind-Body-Medizin ist die achtsame Wahrnehmung des eigenen Körpers. Darauf basierend lernen PatientInnen, wie sie ergänzend zu medizinischen Maßnahmen eigene Gesundheitsressourcen positiv nutzen und die eigenen Selbst-Heilungskräfte gezielt anregen können.
Im Dialog mit dem Körper versteht sich als ein Praxisbuch in Mind-Body-Medizin und richtet sich sowohl an jede und jeden, die oder der an körperlichen Beschwerden leidet, als auch an TherapeutInnen. Geschieht dieses achtsame Wahrnehmen des Körpers auf eine bestimmte Weise, die ich in diesem Buch darstellen möchte, dann entspringen dem Körperempfinden Antworten, die uns in der Regel verblüffen und zutiefst Sinn ergeben. Wir haben dann ein wirkliches Aha-Erlebnis. Die überraschende Bedeutung unserer Symptome erweitert unser Lebensgefühl und wir erfahren körperlich spürbar, was der nächste stimmige Schritt zur Heilung oder Krankheitsbewältigung sein kann. Am Ende eines Körperdialoges fühlen wir uns in der Regel mehr mit uns selbst und unserer Umgebung im Einklang und schauen entspannter und akzeptierender auf unsere Beschwerden. Das Frappierende: Die Symptome haben in aller Regel auch eine Linderung erfahren, wenn sie nicht sogar ganz verschwunden sind.
Voraussetzung dafür, dass dieses innere Heilungswissen sich entfalten kann, ist eine freundliche, vorurteilsfreie und vollkommen offene Aufmerksamkeit für unsere Empfindungen im Körper.
Einen achtsamen Körperdialog können wir mit kleineren Symptomen wie zum Beispiel einem Schnupfen oder eine Sehnenscheidenentzündung durchführen, aber auch bei schwereren Erkrankungen wie Krebs oder Rheuma.
Hier zwei weitere Beispiele aus meiner Praxis:
Die Arzthelferin Marianne leidet seit vielen Jahren unter chronischer Müdigkeit. Die Schulmedizin konnte ihr nicht weiterhelfen. Im Rahmen eines achtsamen Körperdialoges tauchen relativ rasch Bilder aus ihrer Kindheit auf, die ihr unangenehm sind und die sie zunächst wegschieben möchte, da sie für ihren Verstand nichts mit der Symptomatik zu tun haben. Nachdem sich die Bilder aber immer wieder vor ihr inneres Auge drängen, gibt sie ihnen wohl oder übel Raum. »Es sind Erinnerungen aus meiner Kindheit. Für meine Mutter war ich eine Last. Sie wollte immer ihre Ruhe haben. Für sie war es am angenehmsten, wenn ich mich nicht bewegte, schön still war oder besser noch schlief. Wenn ich das noch einmal auf mich wirken lasse, spürte ich eine enorme, mich erschütternde, bis jetzt unterdrückte Wut. Jetzt wird mir ganz klar: Wenn ich nicht bereit bin, diese Aggressionen zu fühlen, sacke ich in mich zusammen und werde schläfrig. Jetzt, wo ich mir erlaube, dorthin zu spüren, setzt das ungeahnte Energien in mir frei, die mich aber auch noch ein wenig beängstigen. Neben dieser Angst empfinde ich jetzt aber auch eine große Lust, weiter zu forschen und diese Energien ins Leben zu bringen!«
Konstanze pflegt seit Jahren ihren Mann, der nach einem Schlaganfall viel Zuwendung von ihr verlangt. Sie ist 63 Jahre alt und leidet seit ein paar Wochen unter Schmerzen im rechten Schultergelenk. Diese ziehen sich über den Oberarm bis in den Unterarm hinein. Krankengymnastische Behandlungen blieben bisher ohne Erfolg. Ich lade sie ein, ihre Augen zu schließen und bei der schmerzenden Symptomatik in ihrem Schultergelenk zu verweilen, ohne etwas zu tun. »Es fühlt sich an, als würde ich einen viel zu schweren Rucksack tragen.« Sie seufzt. »Das passt sehr genau zu meiner Situation mit meinem kranken Mann. Ich will sie tragen und ertragen, aber sie ist zu schwer.« Auf meine Frage hin, ob die Schulter etwas dazu sagen möchte, spürt sie in sich hinein. »Die sagt: schultere dir nicht mehr so viel auf, gönn’ dir mehr Freizeit. Fang an, Nein zu sagen. Denk erst mal an dich.« Sie schweigt. Dann äußert sie: »Wenn ich jetzt in die Schulter fühle, merke ich, dass das Ziehen fast verschwunden ist.«
Unsere Symptome enthalten meistens, wenn wir ihnen zuhören, einen Bezug zu unserem Leben. Sie sind häufig so etwas wie verschlossene Briefe, die eine wichtige, lebensförderliche Botschaft für uns haben. Nur wir selbst können ihre Botschaft empfangen. Das Problem ist, dass wir die Sprache dieser »Briefe« nicht unmittelbar verstehen. Die Symptome teilen sich uns nicht in Worten mit, sondern in Empfindungen. Der Druck im Bauch, die Schmerzen im Rücken, die Entzündung im Schultergelenk, das Brennen, Ziehen oder Stechen – wir haben erstmal keine Ahnung von deren Bedeutung. Wir brauchen etwas, um diese Empfindungen in Worte oder Bilder zu übersetzen, die wir verstehen und die für uns Sinn ergeben.
Für mich hat sich das Focusing dabei als besonders hilfreich erwiesen.
Die von dem Philosophen und Psychotherapeuten Eugene Gendlin entwickelte Selbsthilfe- und Therapiemethode Focusing bietet uns einen systematischen und pragmatischen Weg, um körperliche Empfindungen in Sprache zu übersetzen und damit unser inneres Heilungswissen zu entschlüsseln. Dabei ist es einfacher als man denkt, die Sprache der Symptome zu verstehen. Das Focusing entspricht in vielerlei Hinsicht dem natürlichen Prozess von Selbstheilung. Es sagt uns aber nicht wie ein psychologischer Ratgeber, dass zum Beispiel unser niedriger Blutdruck dafür spricht, dass wir Konflikte vermeiden, sondern es bringt uns Zuhören bei, das achtsame Lauschen, bei dem wir über den Körper den nächsten Schritt in Richtung Gesundheit finden.
Benutzen wir Focusing auf dem Weg zur Genesung, so wird uns kein vorgefertigter Plan für unseren Weg mitgegeben. Es sagt uns keiner »Tu dies oder lass jenes, und du wirst gesund.« Stattdessen zeigt uns unser Körperwissen wie ein Kompass den nächsten Schritt.
Das Focusing stellt uns die Haltungen und Methoden zur Verfügung, die wir brauchen, um unser inneres Wissen um Heilung und Gesundheit in Sprache oder Bilder zu übersetzen und damit zu aktivieren.
Bevor ich darstelle, wie Sie mithilfe von Focusing achtsame Körperdialoge durchführen können, möchte ich zunächst darauf eingehen, wie wichtig es ist, dass wir selbst die Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen (Kapitel 2). Nach einer kurzen Erläuterung, was Focusing ist, gehe ich auf die Macht des Geistes und der inneren Bilder, auch anhand des Placebo-Effekts ein (Kapitel 3). Sie können daraus ersehen, wie wichtig die Körperdialoge für die Aktivierung der Selbstheilungskräfte sind. Die konkreten Körperdialoge beginnen wir damit, ein Ziel zu formulieren (Kapitel 4). Danach beschreibe ich in Kapitel 5 die Grundhaltung der inneren Achtsamkeit mit ihren heilenden Qualitäten vor. In der Praxis hat es sich bewährt, vor der konkreten Symptomerforschung ein Symbol für den Inneren Arzt oder die Innere Ärztin zu finden (Kapitel 6). Anschließend wird in Kapitel 7 das Prinzip Freiraum, das die Voraussetzung für einen Körperdialog ist, mit Übungen dargestellt. Lesen Sie in Kapitel 8, wie die eigentliche Auseinandersetzung mit Symptomen und deren Entschlüsselung verlaufen kann, auch mithilfe der Kunst der achtsamen Berührung. Im Kapitel 9 stelle ich dar, wie Sie mithilfe von achtsamen Körperdialogen alle Aspekte einer Erkrankung beleuchten und Antworten nachstehende Fragen erhalten:
Kapitel 10 richtet sich in erster Linie an TherapeutInnen und ÄrztInnen. Dort stelle ich zunächst ein achtsames Beziehungsmodell vor und ergänze einige Aspekte der achtsamen Grundhaltung für TherapeutInnen. Focusing und Achtsamkeit in die eigene Arbeit zu integrieren bedeutet nicht zwangsläufig, andere in Körperdialogen anzuleiten. Wesentlicher ist das Handeln aus dem eigenen Felt Sense, aus der eigenen Mitte. Das Buch schließt mit Aussagen von MedizinerInnen über die Erfahrungen mit Focusing in ihrer Praxis und mit weiteren Informationen.
Ich habe zur Anschaulichkeit die meisten Übungen durch Fall-Beispiele illustriert. Diese Beispiele stammen entweder von KlientInnen aus meiner psychotherapeutischen Praxis – die Prozesse habe ich mitstenografiert – oder von meinen SeminarteilnehmerInnen, die sie im Nachhinein selbst protokollierten. Die Namen wurden zum Zwecke der Anonymisierung geändert, teilweise auch die biographischen Daten. Für die bessere Lesbarkeit habe ich mir erlaubt, die Dialoge zu kürzen und zusammenzufassen.
Ein Gramm Praxis wiegt mehr als tausend Tonnen Theorie auf.
Wenn wir wissen wollen, wie eine Mango schmeckt, müssen wir sie essen, sagt ein Sprichwort. Sie halten momentan nur eine Landkarte für einen Prozess in Ihren Händen. Wollen Sie wirklich wissen, wie sich ein achtsamer Körperdialog anfühlt, dann reicht es nicht aus, ein Buch zu lesen, denn damit allein können Sie es nicht lernen. Focusing muss persönlich erfahren werden. Im Dialog mit dem Körper möchte aber ein Anstoß dazu sein, sich selbst auf den Weg des inneren Zuhörens zu begeben. Viele der vorgeschlagenen Übungen können Sie entweder selbstständig mithilfe der gesprochenen Meditationsanleitungen oder mithilfe einer achtsamen Zuhörerin oder einer Begleiterin durchführen wie zum Beispiel zum Beispiel einem guten Freund oder einer Freundin. Sobald jemand Sie mitfühlend begleitet, ohne sich inhaltlich einzumischen, werden Ihre Körperdialoge sehr an Tiefe gewinnen. Gleichzeitig wird es Ihnen leichter fallen, beim Strom Ihres inneren Erlebens zu bleiben und nicht gedanklich abzuschweifen. Manche Übungen können tiefer gehen, wenn Sie die Selbsthilfemethode des Focusings in einem Seminar oder besser noch in einer Weiterbildung systematisch erlernen oder wenn Sie eine geschulte Focusing-Therapeutin oder -Therapeuten aufsuchen, um sich von dieser bzw. diesem begleiten zu lassen. Adressen finden Sie im Anhang dieses Buches.
Mit der Einladung zur Selbsterfahrung möchte ich auch die Ermutigung verbinden, dem, was ich schreibe, nicht einfach blind Glauben zu schenken. Prüfen Sie bitte alles anhand Ihrer eigenen Erfahrungen und machen Sie diese zu Ihrem Maßstab. Mein Anliegen ist, dass Sie selbst zu Ihrer eigenen inneren Wahrheit finden und dieser dann treu bleiben. Dazu gehört auch, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen.
»You can go your own way!« sang die Band Fleetwood Mac in den 70er Jahren. Den eigenen Weg gehen – gilt das auch für unsere Rolle als Patientinnen und Patienten? Sollten wir uns bei medizinischen Entscheidungen nicht einfach denjenigen anvertrauen, die ein langes Studium absolviert haben und schließlich ExpertInnen auf diesem Gebiet sind? Oder sollten wir uns vielleicht auch einmal fragen, wer letztendlich die Verantwortung für unsere Gesundheit trägt? Im ÄrztIn-PatientIn-Verhältnis hat sich in Hinblick auf diese Fragen in den letzten Jahrzehnten einiges verändert.
Als junge Psychologin arbeitete ich Mitte der 80er Jahre in einer Rehabilitationsklinik in einem winzigen Dorf im Schwarzwald. Zu uns kamen PatientInnen mit orthopädischen und internistischen Problemen sowie mit Augenerkrankungen. Ich war offen gestanden zunächst schockiert darüber, wie sich viele PatientInnen in der Sprechstunde darstellten: Sie erwarteten, von unserem Team behandelt, therapiert und am besten täglich massiert zu werden, ohne etwas an ihrem – aus meiner Sicht häufig krankmachenden – Lebensstil verändern zu wollen. Eines Tages hielt ich in Anwesenheit meines Chefs, eines freundlichen, aber etwas ängstlichen Internisten, eine flammende Rede und bat die PatientInnen darum, die Klinik nicht wie eine Kfz-Werkstatt zu betrachten, nicht wie einen Ort, an dem man herumliegen kann, um sich Medikamente einträufeln und passiv therapieren zu lassen. Mein Chef kräuselte während meiner Ansprache zunächst die Stirn und warf mir zunehmend böse Blicke zu, die mir zu verstehen gaben, ich möge mit diesem Unsinn bitte umgehend aufhören. Im anschließenden Gespräch mit ihm begriff ich, dass er nicht nur Angst davor hatte, ich könnte unsere Patienten mit meiner norddeutschen Direktheit vor den Kopf stoßen, sondern dass er sich mündige Patienten gar nicht unbedingt wünschte!
Mittlerweile befinden wir uns in der Gestaltung der ÄrztIn-PatientIn-Beziehung an einem Wendepunkt. Über Jahrhunderte hinweg sollten PatientInnen nur passiv sein und den Anweisungen ihres – meist männlichen–Arztes möglichst Folge leisten, ohne viel nachzufragen. Noch in den 60er Jahren wurden den PatientInnen Diagnosen zum Teil nicht mitgeteilt, oder sie wurden nur unzureichend über ihre Erkrankung informiert. Diese Haltung prägt unsere Gesellschaft immer noch tief. Nicht selten geben wir auch heute noch die Verantwortung für unsere Genesung blind an die behandelnden ÄrztInnen ab.
Warum aber ist es so entscheidend, dass wir sie selbst übernehmen?
Eine ÄrztIn kann uns mit medizinischen Informationen und messbaren Parametern versorgen, sie kann aber unseren Körper nicht von innen fühlen. Sie kennt weder unsere Lebenssituation noch unsere inneren Konflikte. Letztendlich können nur wir die Bedeutung unserer Symptomatik finden, nur wir können unseren Lebensstil in Richtung Gesundheit verändern. Die Ärztin oder der Arzt kann uns darin begleiten und unterstützen.
Des Weiteren ist die Datenlage in der Medizin ist nicht so gesichert, wie es von außen erscheinen mag. Aus verschiedenen Gründen musste ich selbst wegen der Behandlung meiner Schilddrüsen-Unterfunktion mehrmals die ÄrztIn wechseln. Die erste Ärztin diagnostizierte vor ca. 22 Jahren bei mir Hashimoto-Thyreoiditis, eine Autoimmun-Erkrankung, bei der sich die Schilddrüse selbst zerstört. Diese Erkrankung sei chronisch, ich müsse damit leben, bräuchte mir aber keine Gedanken darüber zu machen, da man sie mithilfe von Schilddrüsen-Hormonen gut in den Griff bekäme. Ich nahm und nehme die empfohlenen Hormone bis heute ein. Zehn Jahre später zog ich aus Süddeutschland nach Hamburg. Dort suchte ich erneut einen Spezialisten auf, um meine Schilddrüse kontrollieren zu lassen. Dieser Professor erläuterte mir, dass ich nie eine Hashimoto-Thyreoiditis gehabt hätte, die Datenlage sei eindeutig. Ich fühlte mich erleichtert. Als ich auf Anraten einer Heilpraktikerin Jahre später doch noch einmal abklären wollte, ob ich denn nun eine Hashimoto-Thyreoiditis habe oder nicht, konsultierte ich einen weiteren, sehr erfahrenen Endokrinologen. Dieser Facharzt sagte nach Auswertung aller Ergebnisse, er könne mir nicht sagen, ob ich diese Erkrankung hätte, vielleicht sei sie auch ausgeheilt, es sei aber auch egal, denn es würde an der Therapie nichts ändern. Nachdem dieser Spezialist eine astronomisch hohe Rechnung ausgestellt hatte, ging ich bei der nächsten fälligen Kontrolle der Schilddrüse zu einer mir von verschiedenen Seiten empfohlenen Endokrinologin. Diese kam zu dem Schluss: »Sie haben eindeutig eine Hashimoto-Thyreoiditis. Diese Erkrankung kann nicht ausheilen, sie ist chronisch.« Sie verordnete zusätzlich zu den Schilddrüsen-Hormonen die Einnahme von Selen und empfahl mir ein Buch über Leben mit Hashimoto-Thyreoiditis.
Vier ÄrztInnen, drei Meinungen. Diese verwirrenden Ergebnisse liegen meiner Ansicht nach nicht an der Inkompetenz der von mir aufgesuchten Fachleute – es waren alles erfahrene und angesehene VertreterInnen ihres Faches –, sondern daran, dass die Fakten in der Medizin eben häufig nicht so eindeutig sind, wie wir sie gerne hätten. Dies betrifft nicht nur die Diagnosen, sondern auch die Therapien. »Man glaubt es kaum, aber die meisten medizinischen Behandlungsmethoden können sich nicht auf wirklich gutes quantitatives Belegmaterial berufen,« so der angesehene Medizinprofessor und Direktor des Stanford Prevention Research Centers, John Ioannidis (Freedman 2010). Viele Studien, die in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, werden zum Beispiel kurze Zeit später von anderen, weiteren Studien zur gleichen Frage widerlegt.
Hinzu kommt, dass nicht alle medizinischen Empfehlungen ausschließlich zum Wohle der PatientInnen getroffen werden. Kliniken und Praxisbetreiber stehen mittlerweile unter einem großen Druck, hohe Renditen zu erzielen. So wird in Deutschland wesentlich häufiger operiert als in anderen Ländern. Einer Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zufolge gibt es bei uns zum Beispiel jährlich 70 000 Schilddrüsenoperationen, wobei bei 90 Prozent der Eingriffe keine bösartigen Veränderungen vorliegen. Auch seien 70 Prozent der Verordnungen für Magensäureblocker, die zu den am häufigsten verordneten Medikamenten zählen, medizinisch nicht notwendig (IGES 2019).
Darüber hinaus sind ÄrztInnen immer wieder gezwungen, Interventionen anzuordnen, die ihnen selbst nicht sinnvoll erscheinen, um sich gegen Schadensersatz-Prozesse abzusichern. Obwohl zum Beispiel mehr als 20.000 AmerikanerInnen im Jahr an krankenhausbedingten Infektionen sterben und Intensivstationen in dieser Hinsicht am gefährlichsten sind, kann es sein, dass ein behandelnder Arzt die Verlegung dorthin anordnen muss, auch wenn sie ihm im Einzelfall nicht richtig erscheint. Nur so kann er sich vor möglichen Rechtsansprüchen klagender Angehöriger absichern. Prof. Gerd Gigerenzer spricht von einer tickenden Zeitbombe im Gesundheitssystem und meint damit den drohenden Vertrauensverlust von Patienten angesichts ärztlicher Entscheidungen, die nur dem Selbstschutz vor Klagen oder dem eigenen Profit dienen und nicht das Patientenwohl als oberste Prämisse haben (Gigerenzer 2013).
Diagnose Krebs, Wendepunkt und Neubeginn
PatientInnen sind heute wesentlich aufgeklärter und selbstverantwortlicher, und möchten, dass ihnen MedizinerInnen partnerschaftlicher begegnen als noch vor einigen Jahrzehnten. Vielleicht wird ja der Begriff »Patient«, lateinisch »geduldig, aushaltend, ertragend«, eines Tages durch das passendere Wort »Agent«, also jemand, der handelt, ersetzt – das wünscht sich Harald Walach, der ehemalige Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina. (Walach 2011)
»Die Kraft des Arztes liegt im Patienten«, erkannte Paracelsus bereits im 16. Jahrhundert. Medikamente und Operationen können den Heilungsprozess unterstützen und anregen. Letztendlich findet er aber im Körper und Geist der Betroffenen statt, mithilfe ihrer Fähigkeit zur Selbstheilung. Um als PatientInnen die eigene Kompetenz und Verantwortung voll ausschöpfen und wirklich das Steuer in die Hand nehmen zu können, brauchen wir neben einer guten fachlich-medizinischen Begleitung auch Wissen und Methoden, um die Sprache unseres Inneren Arztes / unserer Inneren Heilerin zu verstehen und zu nutzen. Dieses Wissen möchte ich Ihnen in dem vorliegenden Buch an die Hand geben.