Die Gegenwart des Elenden ist dem Glücklichen zur

Last, und ach! der Glückliche dem Elenden noch mehr.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Printed by Books on Demand GmbH, Norderstedt

Lektorat: Matthias Ziebarth, Frankfurt a. Main und Phillo, Leipzig

Bild: Klára Sedlo, Prag, Große Schrift!

2020

© Autor: Claudia J. Schulze

ISBN: 9783744831864

INHALT

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GLÜCKSPILLEN

Auf Bäumen und an kleinem Strauch,

Auch bei der Mutter, tief im Bauch,

Da wachsen sie zwischen den Rillen

Des Todes und des Glückes Pillen.

Das Meer spült mit der Flut sie her,

Im Sand ruh´n sie sich satt und leer,

Der Wind treibt sie uns manchmal aus,

Doch das Glück es kommt ins Haus.

Ebenso auch wie der Tod,

Blut und Saft und Abendrot.

Süße Milch und weißer Kuchen,

Geht nicht ohne zu versuchen!

Obendrauf noch die Glasur,

Kleine, bunte Freudenpillen.

Esst sie! Dafür sind sie nur.

Wachsen stets aus eig´nem Willen

Immerzu aus der Natur.

Tod und Glück sind flinke Reiter,

Sprossen auf der Lebensleiter.

Mitnichten jedoch Widerstreiter.

Wachsen, sterben- und nichts weiter.

DAS HÖRNCHEN IM REGEN

Von einem Eichhörnchen reden wir. Nicht, dass nicht auch diverse andere Hörnchen meinen persönlichen Serotonin-Spiegel auf ein einwandfreies und damit optimales Maß pushen könnten, aber diese zierliche Eichkatze, ach, gegen die kommt einfach niemand an. Mein Nachbar höchstens. Der hat noch im frühen April die Bäume im Hintergarten gefällt. Heute. Heute im April. Wie soll das Hörnchen jetzt hin? Und ich? Warum denkt denn da vorher nie jemand drüber nach! Im Regen stehn wir jetzt beide. Ich werfe Nüsse über den Balkon. Ob das was nützt? „Kannst selber essen für Dein Gehirn. Sehen ja sowieso aus wie kleine Gehirne!“

Mein schlauer Nachbar wieder. „Na toll!“, denke ich, und verziehe mich in die Wohnung.

Was soll ich tun? Ein Buch lesen? Mich für etwa eine Stunde in die Badewanne legen und dabei Nüsse essen die wie Gehirne aussehen? Oder Hörnchen?

Soll ich vielleicht Schnaps trinken? Eine Hand voll Glückspillen einwerfen? Mir die Haare eichkatzenrot färben und in der Wanne telefonieren?

Soll ich mir die Nägel schneiden und mich dabei so heftig verletzen, dass ich einen Finger einbüße?

Irgendetwas muss doch jetzt geschehen. Es kann doch nicht einfach so weitergehen als sei nichts geschehen.

Mein Eichkätzchen wird nicht mehr kommen. Hat sich mein Nachbar auch nur einen Augenblick darum gesorgt? Weiß er nicht, dass gerade einsame und traurige Frauen ihre kleinen Eichkätzchen brauchen, weil sie sich dann einbilden können nicht gänzlich allein zu sein? Oder weil all die vielen Nachrichten auf der Welt an Bedeutung verlieren, wenn man damit befasst ist sich auf diese winzigen Händchen zu konzentrieren, die da so niedlich aneinander reiben?

Weiß er nicht, dass einsame und traurige Frauen sich gelegentlich wünschen so schnell durch die Bäume huschen zu können oder von Ast zu Ast zu fliegen?

Versteht er denn nicht, dass es ihre ganz eigene Farbe ist, die sich tröstend auf die Wunde des Größeren legt? Rostrot. Nur diese Farbe vermag das. Wer sie einmal in der Sonne erlebt hat, wird das begreifen. Fast jeder, wie ich vermute. Doch er? Nein. Er wird es wohl nicht verstanden haben. Und wenn, dann wäre es ihm egal. Wahrscheinlich werde ich nun in der kommenden Nacht von ausgestopften Eichhörnchen träumen. Ich kann machen was ich will. Es hilft ja alles nichts.

DIE PRAXIS

Die Praxis, in welche ich mich am vergangenen Freitag in meiner Verzweiflung geflüchtet hatte, empfing mich wie es wohl nur ein wahrhaft freundlicher, gütiger Mensch vermocht hätte. Hell durchflutet, in einem liebevoll restaurierten Altbau gelegen fiel mir als erstes ein antiker, weit geöffneter Schrank mit Glastüren in feiner Holzfassung auf, der den unterschiedlichsten Lesestoff in sich barg.

Ratgeber für Trauernde, Bücher von Erich Fromm oder Hermann Hesse, kleine Zitate mit weisen und aufmunternden Worten und drum herum alles in warmen, behaglichen Farben gehalten.

Dies war eindeutig kein Ort, an dem man diskriminiert werden würde, nur, weil man gerade am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Erleichtert ließ ich mich in einem der Sessel nieder, die sich in einem herrlichen kleinen Wartezimmer befanden.

Der Ärztin selbst war ich noch nicht begegnet. Sie hatte auf mein Läuten den automatischen Türöffner betätigt. Ganz selbstverständlich, ohne auch nur zu fragen wer ich sei und was ich wolle.

Ich fühlte mich geradezu bedingungslos angenommen und willkommen geheißen. Pathetik stieg in mir hoch, doch diese war, davon war ich zumindest überzeugt, einfach nur der Tatsache geschuldet, dass es derlei Orte heutzutage nur noch selten gibt.

Keine aufdringlichen Arzthelferinnen, die von einem wissen wollen worum es denn gehe, bevor man es überhaupt nur selbst weiß.

Dennoch soll hier keinesfalls der Eindruck entstehen, ich hätte gegen Arzthelferinnen etwas auszusetzen. Das Gegenteil ist der Fall, doch dennoch, es sei mir verziehen, empfand ich es als eine ungemeine Erleichterung ganz ohne vorgeschaltete Person, ganz alleine und in Ruhe in dem Sessel zu warten und mich dabei ruhiger und entspannt zu fühlen als in all den Wochen davor. Etwas Heilendes, fand ich, ging von den Räumlichkeiten aus. Es war durch jedes dieser liebevollen und aufmerksamen Details offenbar, dass diese Ärztin ihre Patienten respektierte, dass sie ihr wichtig waren.

Entgegen meiner sonstigen nervösen Verfassung, die mindestens so lange anhielt bis ich den jeweiligen Arzt oder die jeweilige Ärztin persönlich getroffen hatte, war es mir diesmal nicht eilig damit.

Es gab keinen Grund zur Nervosität. Ruhig und gefasst las ich in einer der Informationszeitschriften über Trauer, welche bei ihr in dem Holz-Schrank mit den geöffneten Türen die geöffneten Armen glichen, auslagen.

Ja, Trauer war es auch gewesen, die mich letztlich zu ihr geführt hatte. Trauer um meinen verstorbenen Neffen, verbunden mit dem Gefühl dadurch so tief verwundet worden zu sein, dass ich wohl ohne ärztliche Hilfe vergebens an dem klaffenden Etwas herumlaborieren würde, das mir meinen Schlaf, mein Lachen und meinen Appetit geraubt hatte.

Mittlerweile war es kurz vor 12. In der Kantine, nur zwei Häuser weiter, hatte sich bereits eine Schlange von Menschen gebildet die auf ein Mittagessen warteten. Normalerweise wäre ich jetzt eine von ihnen, hätte eher lustlos in dem Essen gestochert, um es dann – überwiegend unberührt – wieder zurückzugeben. Doch heute war ich nur zwei Häuser weiter zum Stehen gekommen, hatte das Praxisschild gesehen und, ohne auch nur darüber nachzudenken, den Klingelknopf betätigt. Während mir eben dies nochmals innerlich gewahr wurde, klingelte es.

Diesmal öffnete sich daraufhin die Tür des Ärztezimmers, eine dunkelhaarige, schlanke Frau in hellem Baumwollgewand, offenbar selbst genäht, trat heraus und bewegte sich auf die Eingangstür zu, um sie zu öffnen. Erst jetzt begriff ich, dass sie vorhin nicht mir, sondern der Person, die soeben geläutet hatte, die Tür öffnete. Dieses zweite Läuten nämlich hielt sie nun offenbar für das Läuten eines oder einer Fremden, für die man genötigt sein würde selbst an die Tür zu treten. In diesem Moment sah sie mich, und ihr Blick verriet mir, dass sie sich ihres Fehlers jäh bewusst wurde. Ein kapitaler Fehler. Sie hatte einer vollkommen Fremden, einer möglicherweise gemeingefährlichen Irren die Tür geöffnet. Ein Fehler.

Mit einem Blick, der von Angst, Abscheu und Widerwillen geprägt war, näherte sie sich mir und stellte mir nun wiederum jene Frage, um die ich herumgekommen zu sein glaubte.

Worum es denn ginge…. Ihr Tonfall erinnerte fatal an jenen der wichtigen Menschen oft vorgeschalteten Personen. Er diente, jedenfalls hatte ich das fast immer so empfunden, vor allem der Abschreckung, verbunden mit der Drohung der wichtigen Person bloß nicht übermäßig viel Zeit zu rauben.

Die wichtige Person, hier also die Ärztin selbst, schaltete sich gewissermaßen in personam vor.

Anstelle einer Arzthelferin kam ihr die geballte und kühle Professionalität zu Hilfe, welche bekanntlich der Distanzgewinnung diente. Missmutig ruhte ihr Blick auf mir, und ich sah es geradezu in ihr arbeiten, spürte wie sie sich Mühe gab, um sich etwas einfallen zu lassen, das es ihr ermöglichen würde mich nicht nur umgehend, sondern auch nachhaltig von diesem Ort entfernt zu sehen.

Mittlerweile war die vertraute, akzeptierte Patientin die Stiegen heraufgekommen, öffnete lächelnd die Tür voll der freudigen Erwartung, um sich von Ärztin und Praxis empfangen zu lassen wie man eine liebe Bekannte eben empfängt, während man ihr gerne Tür und Tor öffnet. Auch mich lächelte diese Patientin an. Wusste sie doch nicht, dass ich ein Eindringling war, ein Fehler, etwas Unerwünschtes. Die Ärztin bat sie mit einer freundlichen Geste darum schon einmal in das Behandlungszimmer vorzutreten, ich stand noch immer im Gang, wohl allzu genau wissend, dass ich auf verlorenem Posten war, eindeutig unerwünscht und lästig. Hastig, noch im Stehen, schrieb sie die Adresse einer Ambulanz auf einen kleinen, gelblichen Zettel und verkniff es sich wohl mit letzter Selbstdisziplin nicht auch noch ihre Arme zu nutzen, um mich gleich ganz und gar loszuwerden, aus ihrer Praxis hinauszuschieben.

Doch war das nicht nötig. Ich hatte es auch so begriffen. So steckte ich die Karte ein, nahm mir vor noch etwas Freundliches und Verbindliches über den Charme ihrer Praxisräume zu sagen, ließ es dann aber lieber bleiben.

Ihr Blick, in dem eine unerklärliche Verachtung lag, so als wäre sie mit etwas durch und durch Ekelhaftem konfrontiert, bewog mich sehr schnell das Weite zu suchen. In der Kantine nebenan ließ ich mir einen Fisch mit kleinen Kartoffeln geben. Das freundliche Zwinkern des Koches, der mich schon seit längerem mochte, half mir ein wenig über das soeben Erlebte hinweg. Und es hielt an.

Die Räume, der Schrank mit den offenen Türen, der so viel Weisheit in sich barg, die warmen Farben und all das Liebevolle in ihnen blieb mir seither vor Augen. Trotz des also eher unerfreulichen Ausgangs sind sie es, die Räume, an die ich jedes Mal denke, wenn ich nun an ihrem Haus vorbeikomme. Es mag merkwürdig klingen, doch vermochten sie mich mehr zu trösten als jeder Mensch in ihnen das wohl jemals gekonnt hätte.

DIE ÄRZTIN

Da die Stadt, in der ich wohnte, bei weitem nicht über die anständige Größe einer Stadt wie Hamburg oder Berlin verfügte, blieb es nicht aus, dass mir eben diese Ärztin, nur wenige Wochen später, nochmals begegnete. An ihrem langen, selbstgenähten Gewand, es sollte wohl eine Art badischer Tracht nachstellen und dem arroganten Gesichtsausdruck hinter streng zurückgesteckten Haar, hätte ich sie unter Hunderten erkennen können. Merkwürdigerweise schien sie hier, so ganz ohne ihre schützende Praxis und mitten im Menschengewimmel, seltsam verloren. Mindestens so verloren wie ich selbst, wobei ihr weder Gewand noch aufgesetzter Gleichmut etwas zu nützen schienen. Ich folgte ihr geschickt, einer inneren Stimme folgend, im schier unüberschaubaren Menschengewirr, um sie zu beobachten. Sie tastete sich an den Wänden entlang, als bedürfe sie des Schutzes der Mauern, des Halts der Häuser. Ich blieb immer nur wenige Meter hinter ihr. Selbstverständlich fühlte sie sich nicht verfolgt; das konnte nicht sein. Immerhin war sie Therapeutin, und als solche tat sie die Geschichten derer, die sich verfolgt fühlten, vermutlich leichthin mit all ihren erlernten psychologischen Theorien ab. Als könnte ein Hypochonder nicht wirklich krank, ein Paranoider nicht wirklich verfolgt werden. Arroganz war das, wie ich fand. Arroganz und nichts weiter. Ich hatte sie nun bereits heimlich etwa 150 Meter lang verfolgt und beobachtete wie sie nun in ein kleines Ladengeschäft trat. In, meiner Ansicht nach, angemessener Entfernung, etwa mit fünf Metern Abstand, wartete ich und observierte sie weiter. Goldankauf. Versetzte die Frau Doktor nun den Familienschmuck? Ich verstand das nicht.

Sie hatte doch eine gutbesuchte Praxis.

So gut besucht, dass sie es sich sogar leisten konnte Patienten wie mich abzuweisen und von oben herab zu behandeln.

Nach genau acht Minuten und wenigen Sekunden verließ sie den Laden wieder und ging, ohne sich umzusehen, weiter an den grauen Hauswänden entlang. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass mein Herz klopfte. Es würde spannend werden herauszufinden, was sie mit dem Geld, welches sie nun anstatt dreier Ringe und einer Halskette in ihrer Tasche trug, anstellen würde. Wilde Phantasien bemächtigten sich meiner, so dass ich mich konzentrieren musste um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Allerdings führte sie mich in keinen weiteren Laden, in keine Spirituosenhandlung, keinen Drogen-Umschlagplatz, zu keinem jungen Geliebten, in kein halbseidenes Wettbüro.

Ganz unspektakulär folgte ich ihr wieder zurück zu dem Haus, in dem ihre Praxis lag. Ich wartete draußen und erkannte in der Frau, welche kurz nach der Ärztin die Praxis betrat, die gleiche Patientin von damals.

Sie trug eine Mappe unter dem Arm, vergleichbar mit Musterbüchern in Einrichtungsgeschäften.

Den Rest des Tages kamen keine weitere Patientin und kein weiterer Patient hinzu. Lange überlegte ich, woran das liegen könnte Um ehrlich zu sein lag ich viele Nächte wach.

Während der folgenden Tage beobachtete ich sie erneut. Ich beobachtete das Haus und die Tür, durch die nur sie des Morgens schritt. Niemand sonst. Und da mit einem Mal verstand ich, was es war. Sie war allein in dieser Praxis. Den ganzen, lieben Tag. Die Praxis tröstete sie über all das hinweg, was sie sich selbst und den Menschen nicht mehr geben konnte.

BILDUNGSLÜCKE